Mittwoch, 23. Januar 2019

Würger, Takis: Stella

Wie liest man ein Buch, wenn man durch andere Buchbesprechungen verschiedenster Art inzwischen voreingenommen ist? Wie schreibt man eine Rezension, wenn diese Voreingenommenheit während der Lektüre nicht verschwindet?

Es geht um den Roman STELLA von Takis Würger. Die BILD titelt: RIESEN STREIT UM EIN NAZI-BUCH. Allein schon der Umstand, dass ich ausgerechnet diese Schlagzeile zu Beginn meiner eigenen Buchbesprechung verwende, zeigt eine gewisse Verzweiflung, denn BILD bildet nicht gerade die Grundlage für meine Bildung und Meinungsbildung. Eigentlich bildet BILD überhaupt keine Grundlage für irgendwas, aber bei der Eingabe von STELLA erschien diese Schlagzeile halt zuerst. [1]


* * *



Worum geht es? 
Friedrich, ein junger Schweizer aus reichem Elternhaus, beschließt, sich mal in Berlin im Jahre 1942 umzusehen. Wir lesen, wie er aufwächst und als er erwachsen ist, beschließt der sehr naiv erscheinender Eidgenosse diesen Deutschen, die da seit drei Jahren Krieg führen, mal aufs Maul schauen. Vielleicht will er auch nur mal von seiner alkoholkranken Mutter weg, der Vater ist ständig auf Reisen. Jedenfalls steht man in Friedrichs Familie diesen Nationalsozialisten nicht unbedingt ablehnend gegenüber, die Mutter ist Deutsche und antisemitisch eingestellt ist sie auch. 

In Berlin lernt er zwei Menschen kennen. Zum einen ist da das Aktmodell Kristin. Friedrich hatte zu Hause vorgegeben, Malstudien betreiben zu wollen. Beide kommen sich näher. Dann ist da noch dieser Tristan von Appen. SS-Angehöriger mit gewissem Einfluss, privat weniger „völkisch oder patriotisch“ eingestellt. Mit diesen beiden ist Friedrich gelegentlich unterwegs, irgendwann zeigt ihm dieser Tristan auf, welche Frau der da liebt.

Diese blonde, blauäugige Schönheit würde äußerlich nie auffallen, aber wenn sie sich ausweisen müsste, dann käme als Identität Stella „Sara“ Goldschlag heraus, sie ist Jüdin. Mit ihr besucht er Jazzclubs („Negermusik“ 1942 in Berlin?) , auch bekommt er von ihr seinen wohl ersten Kuss. 

Eines Tages starten die Nationalsozialisten in Berlin die sogenannte Fabrikation und die Familie Goldschlag kommt in ein Sammellager zur Vorbereitung der Deportation. Stella versucht zu flüchten, wird gefangen, gefoltert und erklärt sich bereit, untergetauchte Juden in Berlin zu suchen und auszuliefern. So will sie als „Greiferin“ ihre Eltern vor der Deportation bewahren. 

Im Roman erklärt an dieser Stelle Kristin-Stella ihrem jungen Liebhaber, dass es um das Leben ihrer Eltern geht. Die Deportation kann sie nicht verhindern. Friedrich aber wird das von häufigeren Bombenangriffen heimgesuchte Berlin und seine unheimliche Frau verlassen...

* * *

Dies geschieht im Jahr 1942 – in der Realität wurde die Familie Goldschlag im Jahr 1943 interniert. Letztlich dürfte das keine Rolle spielen und doch fängt hier ein Problem an. Diese Kristin wird zu STELLA und damit zu einer realen Person in der falschen Zeit, inmitten fiktiver Personen. 

Mit dem Namen und der richtigen Beschreibung der Stella Goldberg wird eine Liebesgeschichte erzählt. Keine Rolle spielt, dass diese Frau bereits verheiratet war und auch die Deportation ihres Ehemannes nicht verhindern kann.

Die Liebesgeschichte dümpelt so dahin zwischen Jazzclub, Tanzlokalen, zwischen Oper und Bombenangriffen und dann natürlich etwas schwieriger, nachdem Friedrich die Herkunft seiner „Frau“ kennt. Abgesehen davon macht das Wissen um diese Stella das Lesen und das Einlassen auf die Akteure und deren Geschichte auch nicht einfacher. Vielleicht liegt hier ein Grund für die vielen negativen Kritiken. Von Kitsch ist da die Rede, von Beleidigung, einem Vergehen, von Ärgernis und sogar davon, dass Stella Goldschlag von diesem Roman, von schriftstellerischer Unfähigkeit, verraten wird. 

Aber soll hier „jeder ethische oder Ästhetischer Maßstab verlorengegangen sein“ angesichts des Gedankens, dass Auschwitz etwas ist, mit dem man nicht spielt? [6]  Wäre dies der Fall, dann hätte DER JUNGE IM PYJAMA nie geschrieben oder verfilmt werden dürfen, mindestens aber nicht die Szene, in der sich die Tür zur Gaskammer schließt...


Quelle: Süddeutsche Zeitung

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Auf die Kritiken komme ich zurück. Doch kritisieren muss auch ich.

Wann fängt ein historischer Roman an? Vermutlich dann, wenn der Autor die Epoche, von der er berichtet, nicht aus eigenem Erleben kennt, besser noch, wenn dies ebenso für seine Eltern und Großeltern zutrifft. Außerdem sollten keine unmittelbaren Nachkommen handelnder Personen mehr leben. Eine ganze Reihe von historischen Romanen lebt von Liebesbeziehungen historischer Personen auch mit fiktiven Romanfiguren. Tritt dieser Umstand ein, dann ist dies keinesfalls mehr reale Geschichte, gleichwohl aber erfährt die Leserin, der Leser eine Menge aus der beschriebenen Zeit. Es wird auch nicht darüber diskutiert, ob die Gespräche zwischen den Figuren exakt wiedergegeben wurden. Dies wird aber sofort anders, wenn man noch Leute interviewn kann, die zum Beispiel bei dem Gerichtsverfahren 1957 gegen Goldschlag anwesend waren. Es reicht auch, im Zeitungsarchiv zu kramen. 
Wenn Takis Würger einen historischen Roman hätte schreiben wollen, wäre das nicht von großem Erfolg gekrönt gewesen. Doch wollte er das?

Auf dem Blog novellieren / urban literature fand ich ein Interview mit dem Autor. Darin beschreibt er seine Vorgehensweise so:

„Ich habe den Stoff zwar fiktionalisiert und Stella ist eine historische Figur, aber auch nicht so historisch, dass es keine Angehörigen der Opfer mehr gäbe. Es wäre geschmacklos gewesen, aus Stellas Sicht zu schreiben. Durch Friedrichs Perspektive gibt es außerdem eine weitere Facette: Nicht nur die moralische Frage um Stellas Taten, die ihre Eltern retten möchte, wird ins Zentrum gerückt, auch Friedrichs Handeln spielt eine Rolle – wie weit ist man bereit, für die Liebe zu gehen?“ [2]

Damit ist klar, das Problem hat ihn schon bewegt, es ging ihm aber nicht um die exakte Wiedergabe der Ereignisse um Stella Goldberg in Berlin 1943, es ging ihm um die moralischen Aspekte, den Verrat, die Kollaboration, die Verzweiflung. Es ging auch darum, dass Menschen, die den größten Verrat, ein Verbrechen begehen, auch inmitten anderer Menschen leben, lieben und leben. Muss hier erst noch erwähnt werden, dass die Männer der Wannsee-Konferenz Familien und Freunde hatten? 

Um den Leser aber in die Realität zurück zu stoßen, nutzt Würger die Möglichkeit, aus den Gerichtsakten des Prozesses von 1957 zu zitieren. Das gelingt und ist beabsichtigt. [3] Kaum war man mit Kristin / Stella und Friedrich allein, erscheinen neue Zeugen für Taten der Greiferin. Das er auch Daten nannte, die in die Zeit gehörten, wie die Geburt von Paul McCartney oder Alice Schwarzer, war, empfinde ich aber überflüssig, es lenkt vom Inhalt ab. 

Würger wollte eine Geschichte erzählen, keine Dokumentation, kein Sachbuch, keine Biografie schreiben. Drehbuchautoren verändern zum Beispiel Romane für ihre Filme. Kann sich jemand an die Szene erinnern, in der sich der KZ-Häftling Rose an die Beine des aufgehängten Mithäftlings Kropinski hängt und diesen dadurch unter ständiger Entschuldigung mit tötet? Die Szene aus dem Film Nackt unter Wölfen (2015) ist im Roman von Bruno Apitz gar nicht enthalten.

Dafür hat Takis Würger einen Weg gefunden. Einen ungünstigen Weg, wie ich meine, denn eine fiktive Stella wäre die bessere Idee gewesen. Interessierte Leser hätten Stella Goldschlag gefunden. Oder Würger hätte dies in einem Nachwort, im Epilog geht er ja auf das weitere Leben seiner Hauptperson ein, erzählen können. 

Die bösen, harten und vernichtenden Kritiken wären dann so nicht geschrieben wurden. Den Vorwurf, dass der Hanser Verlag dadurch die Werbung und Verkauf ankurbeln konnte, finde ich hierbei besonders gehässig. 





Das ändert aber nichts daran, das mir der Roman nicht besonders gefallen hat. Die Figur des Friedrich mag ja ein passendes Gegenstück zum Jazz singenden Aktmodell sein, aber überzeugt hat mich der Typ gar nicht, ein verweichlichter Knabe aus reichem Elternhaus mit leicht verkorkster Kindheit, Sympathie kam da nicht auf. Wenn Würger diesen Tristan von Appen, an Reinhard Heydrich anlehnt, dann müsste man schon dessen Biografie lesen um dies nachzuvollziehen. Auch nur ein wenig Empathie für die Roman-Stella kam schon nicht auf wegen der Kenntnis der realen Person. Vielleicht Verständnis dafür, oder eine vage Ahnung davon, dass eine Entscheidung für Eltern oder die eigenen Kinder von solcher Tragweite sein konnte. Es ist ja unstrittig, was eine gegenteilige Entscheidung bedeutet hätte.

Interessant hierbei ist allerdings auch, was der Verleger zur Wirkung von Literatur hiebei in einem Interview darstellte: "Im Roman können wir auch Nebenfiguren einführen, die es historisch nicht gegeben hat, um Dinge klarer zu machen. Takis Würger hat aus gutem Grunde nicht die Innenperspektive von Stella Goldschlag gewählt - damit würde er nämlich behaupten: Ich verstehe sie moralisch; ich verstehe ihre Entscheidung, andere Juden auszuliefern und zu verraten. Diese Perspektive kann man nicht einnehmen. Deswegen hat er eine fiktive Figur eingeführt, die ihr nahekommt und sich ihre Fragen stellt. Das ist die Form der Literatur, und das darf und muss Literatur." [7]

Tobis: Filmpräsentation


Im Jahr 2017 kam der halbdokumetarische Film DIE UNSICHTBAREN – Wir wollen leben heraus. Der Film handelt von den untergetauchten Juden und deren Geschichte. Stella Goldschlag hat ihren Platz in diesem Film, in einer Szene allerdings lässt sie einen ihr bekannten Jungen gehen und verrät ihn nicht an die Gestapo. Die „blonde Gefahr“ hat man sie genannt. Der Kollaborateurin, die bis zum Ende des Krieges weiter für die Gestapo nach den UNSICHTBAREN sucht, stehen diese Leute unterschiedlichster Herkunft gegenüber, die sich auf die erfinderischste Arbeit bemühen, die von der Deportation bedrohten Menschen zu verstecken. [4]

Die Person Stella Goldschlags hat in der grausamen Konsequenz ihres Handelns schon einmal zu einer künstlerischen Umsetzung geführt, wie das Musical STELLA beweist. [5] Mir persönlich geht das zu weit. 




Die Umsetzung des Takis Würger ist mir da näher, was schwierig zu behaupten ist, da ich nicht in der Neuköllner Oper war.  Befremdlich erscheint mir dagegen der Trailer, mit dem der Autor selbst sein Buch darstellt, als wäre es für Stella Goldschlag geschrieben. Vielleicht würde der Autor diesen heute anders umsetzen.




„Je nach Antwort ist Würgers „Stella“ ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen - und das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint, wenn sie ein solches Buch auch noch als wertvollen Beitrag zur Erinnerung an die Schoah verkaufen will. Selbst Stella Goldschlag hat diesen Roman nicht verdient.“ [6]

Stella Goldschlag hat persönlich überhaupt nichts verdient. Kein Musical, keinen Roman, sei er gut oder schlecht gemacht. Stella Goldschlag konvertierte nach dem Krieg und stürzte sich mit über Siebzig aus dem Fenster. Es ist wohl nicht bekannt, ob sie dies aus Reue tat. Leicht dürfte auch ihr das Rückerinnern nicht gefallen sein.

Es gibt keinen Grund für das sogenannte Feuilleton, ein Urteil zu treffen, wie es dem Journalisten widerfahren ist. Eine solche Art von Angriff habe ich noch nicht gelesen. Würger hat aus meiner Sicht keinen Roman zur Verteidigung der Stellas in Deutschland geschrieben. Er hat auf eine eigene Art gezeigt, was Menschen sich in übergroßer Angst und Verzweiflung antun und auch, was sie verdrängen können, bis sie ihre Vergangenheit möglicherweise einholt. Er hat Recht, wenn er sich getroffen fühlt, weil man ihm Leichtfertigkeit vorwirft. Er hat den Roman schließlich nicht einfach über Nacht geschrieben. Takis Würger ist jetzt ein gefragter Mann. Bestimmte Fragen lassen manchmal seine Antworten wie Verteidigung aussehen. [3]  Aber wenn das Buch vor 40 Jahren so nicht hätte erscheinen können, dann gilt heute, dass "ein jüngerer Autor auch ein Verhältnis finden muss, Geschichten zu erzählen, die Erinnerung wach halten, die Einblicke in diese Zeit geben." [7]  Dabei ist dem Verleger, Jo Lendle (Hanser), zuzustimmen, denke ich.

Es ist notwendig, die Erinnerung zu behalten und „gegen das Vergessen“ zu schreiben. Dies hat Takis Würger getan. 

* * *

© Sven Döring (Quelle)
Takis Würger wurde 1985 geboren, lernte an der Henri-Nannen-Journalistenschule, und wurde Reporter beim Spiegel. Für seine Reportagen zum Beispiel aus Afghanistan, Libyen, dem Irak und anderen Ländern erhielt er diverse Preise.

  • DNB / Hanser Verlag / München 2019 / ISBN: 978-3446259935 / 224 Seiten
  • Takis Würger bei Hansen Verlag



© Bücherjunge



Quellen:

[2] Blog novellieren - Interview mit Takis Würger http://novellieren.com/2019/01/11/interview-takis-wuerger-ueber-stella/; 22.01.19; 21:15 Uhr
[3] Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/kultur/takis-wuerger-und-stella-der-vorwurf-der-leichtfertigkeit-trifft-mich/23886660-all.html; 21.01.19; 23:00 Uhr
[4] TOBIS Filmpräsentation: https://tobis.de/film/die-unsichtbaren-wir-wollen-leben; 22.01.19; 22.00 Uhr


2 Kommentare:

  1. Eine überaus differenzierte Buchbesprechung, die Dein Unbehagen verdeutlicht und nachvollziehbar werden lässt. Sowohl was das Buch selbst als auch die Kritiken dazu anbelangt. Gefällt mir ausgesprochen gut!

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    1. Da bin ich etwas beruhigt. Leicht war es nicht. Hat auch etwas länger gedauert.

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