Donnerstag, 30. November 2017

Jamal, Salih: Briefe an die grüne Fee


Hoch über den Dächern der Stadt sitzt der Ich-Erzähler, bereit zum Sprung. In seiner Tasche: eine alte Pistole und Briefe an eine geheimnisvolle, devote Flamenco-Tänzerin, die er im Internet über ein Dating-Portal kennengelernt hat. In zwei zusammenlaufenden Handlungssträngen erzählt er von seiner Affäre und von den Menschen, die ihm begegneten. Er schildert seinen Blick auf die Welt, seinen Weg aus Leichtigkeit und Unbekümmertheit in die Fesseln der Verantwortung und den Versuch, dieser Gewissenhaftigkeit zu entfliehen. Dabei sucht er melancholisch, wütend und fragend das Wesen der Liebe, um an den Kern der menschlichen Seele vorzudringen. In seinen Gedanken dealt er deshalb mit dem Teufel. Eine Geschichte aus lustigen, tragischen und unverschämten Anekdoten, erzählt in einer flapsigen und teilweise vulgären Sprache, und tiefgründigen, poetischen Gedanken über die Welt, in der Männer wie vergessene Turnbeutel in der Tinnef-Abteilung bei IKEA darauf warten, abgeholt zu werden, oder in der versucht wird, die Zeugen Jehovas an der Haustüre zu einem Dreier zu überreden.

  • Taschenbuch: 260 Seiten
  • Verlag: Books on Demand; Auflage: 2 (12. Oktober 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3744832805
  • ISBN-13: 978-374483280










HUNGRIGE HERZEN BLUTEN SCHNELLER...



Ein Mann sitzt auf einem Dach, eine Pistole in der Tasche und bereit zum Sprung. Das Buch erzählt, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Mensch dort sitzt und auf den richtigen Moment wartet, seinem Leben ein Ende zu setzen. Einblicke in die Vergangenheit sowie in die aktuelle Gedankenwelt des Ich-Erzählers beleuchten den Hintergrund dieser Entscheidung. Und eines ist gewiss: dieses Leben war bunt.


"Alle anziehenden Leute sind immer im Kern verdorben, darin liegt das Geheimnis ihrer sympathischen Kraft. Wenn man sich auch wünscht, tugendhaft zu bleiben, stellt man eines Tages fest, dass die wirklich glücklichen Augenblicke jene gewesen sind, die man der Sünde gewidmet hat." (Oscar Wilde) - S. 238


Es gibt sie, die Menschen, die von klein auf die Zündschnur des Lebens gleich an beiden Enden abbrennen, immer auf der Suche nach dem besonderen Kick. Nichts wird dabei ausgelassen: Rauchen, Saufen, Drogen, Klauen, Spielen, Sex... Was der Ich-Erzähler hier so treibt oder getrieben hat, soll seine Sache sein und meine nicht, dies zu bewerten. Da ist doch jeder seines Glückes Schmied. Reichlich schräg und fast schon amüsant gerät dabei z.B. der Widerspruch zwischen der biederen Lehre des jungen Mannes im Kaufhaus für die gehobene Kundschaft an der Kö in Düsseldorf einerseits und der sonstigen Haltung des Lebenskünstlers andererseits, der wirklich nichts anbrennen lässt.


"Ich bin süchtig. Ich bin hochgradig süchtig! Verloren auf der verzweifelten Suche nach 'ganz und gar'." - S. 196



Im Zentrum der Erinnerungen steht jedoch der überdimensionierte Egoismus des Erzählers, den Blick nur auf sich und sein Vergnügen gerichtet - doch selbst hier gilt noch: so what. Muss nicht meines sein, aber zum Hauptcharakter passt es. Doch bei aller Hochachtung vor der Offenheit und schonungslosen Ehrlichkeit des Erzählers - das Buch hat lt. Autor auch viele autobiografische Anteile - gab es einen Punkt, der mich beim Lesen richtiggehend anwiderte, nämlich die zeitweise maßlose Arroganz und Überheblichkeit des Hauptcharakters.

Der Erzähler als Nabel der Welt stellt sich mit dem Nimbus der Unverletztlichkeit über alle Menschen, die er durch Charme und Menschenkenntnis allesamt in seinem Sinne zu manipulieren vermag. Und nur schlanke Menschen sind toll, und nur d a s Leben ist lebenswert, bei dem die Lunte an beiden Enden gleichzeitig angezündet wird, und alle, die nicht nach dieser Prämisse leben, sind Biedermänner (und -frauen), die Udo Jürgens lieben - der Abwertung anderer Menschen wird hier erschreckend viel Raum gegeben. Dass man für sich so ein 'normales' Leben nicht will, okay, kein Problem. Aber diese klar bewertende Einteilung von Menschen in schräge und interessante Außenseiter, die sich den gesellschaftlichen Zwängen möglichst entziehen (durch illegale Methoden aber gut für sich sorgen) und im Alltagstrott versumpfte Blödmänner kann ich einfach nicht leiden. Das wirkt einfach nur - ewigpubertär.


"Es ist ein Trugschluss, die Geschwindigkeit eines Menschen stünde im Einklang mit der eines anderen. Die Vorstellung dieses Gleichklangs ist die Illusion der Liebe." - S. 238


Doch immer nur Nehmen ohne Rücksicht auf Verluste, das kann selbst für ein Sonntagskind nicht lebenslang funktionieren. Und so trifft den Erzähler das Leid einer unglücklichen Liebe und führt ihn zu mancherlei Erkenntnis. Nein, keine Läuterung vom Saulus zum Paulus, doch durchaus selbstkritisch an der ein oder anderen Stelle. Verbunden auch mit ein wenig Erkenntnis über das Leben an sich.

Leider bekam ich nur an wenigen Stellen des Romans einen Zugang zum Hauptcharakter. Auch wenn die Verletztlichkeit und Melancholie des Erzählers immer wieder anklangen, domninierte hier das exzessive Verhalten um jeden Preis. 'Befremdlich' ist noch die netteste Bezeichnung, die mir hierzu einfällt. Ich hätte gerne Positiveres geschrieben, da dieses Debüt des begeisterungsfähigen Autors ihm ganz sicher eine Herzensangelgenheit ist. Aber mir erging es mit dem Buch nun einmal nicht besser, und der Hauptcharakter blieb mir fremd und oft gleichgültig.


"Nach meinem Diesseits kann mich der Teufel gerne haben und grillen. Wer das Hier und Jetzt wirklich empfangen kann, ist nah dran am Glück." - S. 258


Einige durchaus poetische Passagen versöhnten mich mit dem ansonsten oft rauen und auch vulgären Schreibstil, und auch auf einige detaillierte erotische Szenen muss man hier gefasst sein, die nur selten feinfühlig beschrieben sind. Mich beeindruckte der Stil deutlich weniger als andere Leser, aber Geschmäcker sind nun einmal bekanntlich verschieden...

Alles in allem ein ambitioniertes Debüt, das für mich jedoch klar über das Ziel hinausschießt. Den vom Autor selbst gezogenen Vergleich mit Goethes Werther kann ich jedoch in keiner Weise nachvollziehen - bestenfalls ist dies als Äußerung mit einem deutlichen Augenzwinkern zu verstehen. Von dem Roman jedenfalls hatte ich mir deutlich mehr erhofft...


© Parden








Der Autor Salih Jamal schreibt über sich selbst:

Ich wurde weit entfernt von dort geboren, wo ich hingehörte. So suchte ich zeitlebens meinen Weg nach Hause und gleichzeitig hinfort. Ein langer, ungewisser und wohl unmöglicher Weg, der mich zu Jobs im Fast-Food-Restaurant, in die Herrenabteilung eines Modehauses auf der piekfeinen Düsseldorfer Königsallee, als Rosenverkäufer in Bordellen oder als Kurierfahrer, der das Kanzleramt belieferte, geführt hat.

In einer staubigen Zeit erblickte ich das Licht der Welt. Um zwanzig nach sieben, an einem Sonntag genau in der Minute des Sonnenaufgangs, atmete ich den letzten Hauch der vergangenen Nacht in mein neues Leben ein. Alles stand im Sternzeichen des Skorpions und auch noch im Aszendent Skorpion. Koordinaten für die Weltherrschaft. 

Später erfuhr ich, dass mein Tierzeichen des chinesischen Horoskops das Feuerpferd ist. Feuerpferde sind sehr selten. In der fernöstlichen Astrologie wurden die Eigenschaften von Feuer und Pferd kombiniert: Pferde sind klug, selbstbewusst, egoistisch, unruhig und leidenschaftlich. Dabei sind sie so freiheitsliebend, dass sie die Welt vergessen können, so dass man durchaus niedergerannt werden kann, wenn man ihnen im Weg steht. Menschen, die im Feuer geboren werden sind dominant und brennen vor Hingabe an Dinge. Manchmal so lange, bis alles um sie herum zerstört ist. Der Akt meiner Geburt war als solcher gar nicht vorhanden. Ich flutschte einfach raus! So wie ich auch später durchs Leben flutschen sollte. Ich bin übrigens Frühaufsteher. Ob das etwas damit zu tun hat?


Sonntag, 26. November 2017

Engelmann, Gabriella: Zeit der Apfelrosen


Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – und das Chaos nicht weit … Olivia weiß genau, was sie im Leben erreichen möchte: Karriere machen, ihren Freund heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Das kann doch nicht so schwer sein, oder? Man muss sich einfach ein bisschen anstrengen, dann klappt’s schon mit dem großen Glück! So sieht das Olivia. Nur leider hat das Leben manchmal ganz andere Pläne…

(Klappentext dotbooks Verlag)


  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 1076.0 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 91 Seiten
  • Verlag: dotbooks Verlag; Auflage: 1 (9. Oktober 2017)
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B0769Q2W97









UND ERSTENS KOMMT ES ANDERS UND ZWEITENS ALS MAN DENKT...



Olivia hat die dreißig überschritten und eigentlich klare Vorstellungen von dem, was sie sich vom Leben erhofft. Der Beruf ist ihr sehr wichtig, und sie engagiert sich dort auch sehr. Privat dagegen läuft es irgendwie nicht so richtig rund. Ihr Freund lässt sie plötzlich sitzen, ihr Lebenscoach hilft ihr auch nicht so richtig weiter - nur gut, dass ihre beste Freundin Vera immer für sie da ist. Denn unversehens geht es für Olivia drunter und drüber, und es müssen einige wichtige Entscheidungen getroffen werden.

Zwischendruch lese ich immer wieder einmal gerne einen Roman von Gabriella Engelmann. Diesmal präsentiert sie allerdings mit gerade einmal 91 Seiten einen Kurzroman. Kann das funktionieren?

Es kann. Mit Olivia hat die Autorin einen sympathisch-chaotischen Charakter geschaffen, eine Person, die trotz aller Überraschungen, die das Leben für sie bereit hält, den Kopf nicht verliert. Gefühle gibt es die gesamte Klaviatur rauf und runter, aber meistens nicht zu kitschig, sondern stets verbunden mit humorvollen Szenen und einem Augenzwinkern. Lediglich den Epilog hätte es in der Form für mich nicht geben müssen - da hätte ich diesmal tatsächlich ein offenes Ende bevorzugt.

Insgesamt hat mir der Kurzroman die erhoffte unkomplizierte Entspannung geboten und ein paar kurzweilige Lesestunden beschert. Gerne mehr davon!


© Parden











Der dotbooks Verlag schreibt über die Autorin:

Gabriella Engelmann, geboren 1966 in München, lebt in Hamburg. Sie arbeitete als Buchhändlerin, Lektorin und Verlagsleiterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen, Kinder- und Jugendbüchern zu widmen begann.

Bei dotbooks veröffentlichte Gabriella Engelmanns bereits die Romane „Nur Liebe ist schöner“, „Schluss mit lustig“ und „Kuss au chocolat“ sowie die Erzählungen und Kurzromane „Eine Liebe für die Ewigkeit“, „Verträumt, verpeilt und voll verliebt“, „Dafür ist man nie zu alt“, „Te quiero heißt Ich liebe dich“, „Ein Kuss, der nach Lavendel schmeckt“ und „Zeit der Apfelrosen“; weitere eBooks sind in Vorbereitung.

übernommen vom dotbooks Verlag

Samstag, 25. November 2017

Franzobel: Das Floß der Medusa


Was bedeutet Moral, was Zivilisation, wenn es um nichts anderes geht als ums bloße Überleben? Ein epochaler Roman von Franzobel. 

18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, Haare, starr vor Salz, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten, nackten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Diese historisch belegte Geschichte bildet die Folie für Franzobels epochalen Roman, der in den Kern des Menschlichen zielt. Wie hoch ist der Preis des Überlebens?


(Klappentext Zsolnay/Deuticke Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 592 Seiten
  • Verlag: Paul Zsolnay Verlag; Auflage: 6 (30. Januar 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3552058168
  • ISBN-13: 978-3552058163











EINE MONSTRÖSE GESCHICHTE...



Im Juni 1816 lief die Medusa gemeinsam mit vier weiteren  Schiffen aus, um nach dem endgültigen Sturz Napoleons französische Soldaten, Verwaltungsbeamte und Siedler in die wiedergewonnene Kolonie Senegal zu bringen. Unzureichendes Kartenmaterial, Fehlentscheidungen und Navigationsfehler des unfähigen Kapitäns verursachten schließlich die Katastrophe: man verlor den Kontakt zu den anderen Schiffen und lief am 02. Juli auf der Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen Küste auf Grund. Es wurde zunächst erfolglos versucht, die Medusa mit Ankerwinden wieder flottzumachen. Als schließlich der Rumpf des Schiffes brach, wurde eine dilettantische Rettungsaktion initiiert. Sechs Beiboote reichten nicht aus, um die rund 400 Passagiere und Besatzungsmitglieder aufzunehmen, weshalb der Bau eines Floßes angeordnet wurde.

Auf das Floß stiegen dann 150 Menschen - darunter eine einzelne Frau - wodurch das Floß heillos überfüllt war und sofort tief unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Geplant war, dass die Beiboote das Floß an die Küste schleppen sollten, doch stattdessen wurde das Verbindungsseil von einem Offizier gekappt. 13 Tage trieben die Menschen daraufhin hilflos auf dem Meer - ohne Lebensmittel, ohne Wasser, nur mit einigen Fässern Wein. Von den 150 Schiffbrüchigen waren letztlich nur noch 15 am Leben, als ein Schiff das führungslose Floß schließlich entdeckte.


"Als man nahe genug war, sah man hohle Augen, das Gestrüpp stacheliger Bärte, ausgedörrte Lippen, trocken wie Pergamentpapier. Verbrannte Schultern, abgeschälte Haut, alles voller Wunden, Blasen (...) Skelette mit hervorstehenden Brustkörben, harfenförmigen Beckenknochen und fladenartigen, nur noch aus Hautlappen bestehenden Arschbacken. Ihr Haupthaar, starr vom Salz, glich alten Polstersesselfüllungen. Und die Augen? Düster verschleiert, wahnsinnig." (S. 9)


Wie der Schiffsarzt Jean-Baptiste Henri Savigny und der Geograph Alexandre Corréard in ihrem anschließenden Unglücksreport darlegten, konnte man auf der 13tägigen Fahrt durch grausam heiße Temperaturen nur überleben, weil man dazu übergegangen war, Menschenfleisch zu essen. Die Männer hatten sich in wütenden Kämpfen gegenseitig massakriert, viele waren ins Meer gerissen worden oder aus Verzweiflung hineingesprungen. Am Ende hatten die Stärksten die Sterbenden ins Wasser geworfen.

Die Nachrichten vom Untergang der Médusa und dem Horrorfloß entfachten in Frankreich einen Skandal, der das Land erschütterte. Der Unglücksreport der Überlebenden führte zur Verurteilung des Kapitäns und zu einer Welle öffentlicher Entrüstung, die ihren prägnantesten Ausdruck in Théodore Géricaults großformatigem Katastrophenbild fand, das heute zu den größten Schätzen des Louvre zählt:



Diese historisch verbriefte Geschichte von Verrat, Gewalt, Verzweiflung und Überlebenswillen hat der österreichische Schriftsteller Franzobel (Franz Stefan Griebl) in seinem neuen Roman (Shortlist Deutscher Buchpreis 2017) aufgegriffen und auf ganz eigene Weise interpretiert. Bis ins kleinste Detail hat er im Vorfeld recherchiert und die verfügbaren Quellen studiert, so dass er schon allein mit dem nautischen Vokabular eine überzeugende Vorstellung liefert. Doch dient das fast 600 Seiten währende Trommelfeuer grässlicher, schockierender und monströser Szenen nicht allein der Erzählung der historischen Begebenheiten - Franzobel hat hier unter gekonnter Vermischung von Fakten und Fiktion vielmehr eine verstörende Allegorie auf die Menschennatur verfasst.


"Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr. Jetzt ist es also so weit, der Mensch zeigt seinen Kern, das, was sich hinter der Schminke der Moral und unter der Haut der Kultur verbirgt, das wilde Tier." (S. 427)


150 Menschen in einer geschlossenen Gesellschaft - ohne eine Instanz von außen. Der Kampf ums Überleben - erst miteinander, dann gegeneinander. Binnen kürzester Zeit wurden hier alle Fesseln der Moral abgestreift - bis hin zum Kannibalismus. Vermutlich hatte Franzobel die Dramen im Kopf, die sich 200 Jahre später im Mittelmeer abspiel(t)en, als er diesen Roman schrieb. Auch dem Leser kommen die Parallelen unweigerlich in den Kopf. Doch im Roman selbst konzentriert sich der Autor ganz auf die historische Katastrophe. Er konfrontiert den Leser mit verstörenden Wahrheiten und zeigt, wie schnell der Mensch seinen moralischen Kompass verliert, wenn es darum geht, die eigene Haut zu retten...


"Wir müssen eine gewisse Form der Zivilisation wahren, rümpfte Savigny die Nase. Es geht um unsere Selbstachtung (...) - Und was soll das sein, diese gewisse Form der Zivilisation? Griffon sah ihn mit kalten Augen an. Weil wir Christen sind? In der Bibel steht nirgendwo, dass man seinen Nächsten nicht verspeisen darf. Im Gegenteil: Dies ist mein Fleisch. Nehmet und esset alle davon..." (S. 467)


In der Regel bewundere ich Autoren, die sich eines bildhaften Schreibstils bedienen. Hier jedoch erfuhr ich oft mehr als ich wollte. Franzobel verschont den Leser in keiner Hinsicht. Nicht bezüglich der monströsen Gewalttaten, die teilweise auch beim Lesen schier unerträglich sind, aber auch nicht hinsichtlich des gnadenlosen Spiegels, den er dem Menschen als solchem vorhält. Niemand wäre in solch einer Extremsituation vor ähnlichen Entscheidungen gefeit, wie sie die Menschen auf dem Floß getroffen haben: Mord, Selbstmord, Selbsterhaltungstrieb bis hin zum Kannibalismus. Hier gibt Franzobel eine harte Nuss zum Nachdenken mit auf den Weg...


"Wenn wir es tun, werden wir nicht mehr dieselben sein. Wir sind keine Wilden, wir haben die Vernunft, die Aufklärung, Rousseau, Voltaire, Holbach. Wir sind zivilisierte Wesen, wir... (...) - Aber eben weil wir die Vernunft haben, beharrte Griffon, wissen wir, dass wir keine Todsünde begehen, sondern nur aus Not handeln." (S. 468)


Kein bequemes Buch, sondern ein Roman, der seinem Leser viel abverlangt - auch wenn Franzobel zwischendurch die Zügel ein wenig lockerer lässt und den abgründigen Ernst mit tiefschwarzem Humor, Zynismus und wohlplatzierten Überschriften seiner Kapitel auflockert. Anstrengend, ja, aber lesenswert!


© Parden
















Die Hanser Literaturverlage schreiben über den Autor:

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck, ist einer der populärsten und polarisierendsten österreichischen Schriftsteller. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas Born-Preis (2017). Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Krimis " Wiener Wunder" (2014) und  " Groschens Grab" (2015) sowie 2017 sein Roman " Das Floß der Medusa", für den er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und den Bayerischen Buchpreis erhielt.

übernommen von den Hanser Literaturverlagen

Freitag, 24. November 2017

Prietzel, Katharina: Die unglaubliche Wahrheit über Pfützen


Ravenna zieht in eine unbekannte Stadt und begegnet Adrian, der ihr Aletheia zeigt. Keine andere Welt, sondern eine andere Sichtweise. Durch sie sieht man die Wahrheit von allem und jedem. Wie das geht? Man muss in eine Pfütze springen! Was werden die zwei mit der Wahrheit erleben und wer steckt hinter den tödlichen Angriffen, die bald die Stadt erschüttern? Angriffe, die die beiden auch bald persönlich treffen...


  • Format: Kindle Edition
  • Dateigröße: 1249 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 148 Seiten
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B0742PGD86












BEREIT FÜR DIE WAHRHEIT?



Ravenna ist ein junges Mädchen und neu in der Stadt. Missmutig stapft sie durch einen Park und begegnet dort einem Jungen in ihrem Alter, der sich ihr als Adrian vorstellt und sich nicht von ihrer abweisenden Art abschrecken lässt. Wider Willen wird Ravenna neugierig, als er sie zu einem kleinen Abenteuer einlädt. Doch als er sie in eine Pfütze springen lässt, hält sie Adrian doch für verrückt. Um so größer ist ihr Erstaunen, als sie erkennt, dass die Welt plötzlich ganz anders aussieht...

Kassandra ist eine Frau, die ein wenig anders tickt als die meisten anderen Menschen. Schräge Klamotten, einen Wetterfrosch als Haustier und einen Laden für Esoterik und Tarot, in den sich kaum einmal jemand verirrt, nennt Kassandra ihr Eigen. Und obwohl die junge Frau merkt, dass ihr oft Verwunderung und Ablehnung entgegen schlagen, bleibt sie sich selbst treu, auch wenn der Preis dafür Einsamkeit ist. Als Kassandra eines Tages stolpert und in eine Pfütze fällt, kann sie kaum glauben, wie anders die vertrauten Straßen plötzlich aussehen. Und die Menschen erst...

Conan Tillmann ist ein eiskalter Geschäftsmann, dessen erklärtes Lebensziel es ist, noch mehr Geld zu scheffeln und seine Konkurrenten auszuschalten. Seine Chefsekretärin ist wie für ihn gemacht, denn ohne zu murren erträgt sie ständige Überstunden und ist zudem ein Organisationstalent. Leise, unkompliziert und fähig ist sie Tillmanns rechte Hand, ohne große eigene Ansprüche zu stellen. Auch Conan Tillmann tritt versehentlich in eine Pfütze und registriert, wie verändert die Welt danach ausschaut.


„Vielleicht solltest du mal in eine Pfütze springen.“ Dabei zeigte er einladend mit seinem rechten Arm über den Boden, auf dem sich mittlerweile überall Pfützen gebildet hatten. --- „Du bist doch völlig verrückt!“ Sie wandte sich schon zum Gehen. --- „Wieso denn? Ich dachte vielleicht würde dir das guttun und deshalb weihe…“ --- „…Weihe ich dich in das große Geheimnis ein, wie man sich in Pfützen ertränkt?“, unterbrach sie ihn sarkastisch. --- Adrian lachte lauthals und schüttelte dabei nur den Kopf. „Ich bin nicht verrückt“, erklärte er ihr plötzlich sehr ernst. „Ich biete dir die unglaubliche Gelegenheit die Welt mit anderen Augen sehen zu können und du solltest sie auf keinen Fall einfach in den Wind schlagen.“


Ravenna und die andere erwähnten Personen sind durch den Sprung in die Pfütze in Aletheia gelandet - keiner anderen Welt, sonder nur in einer tieferen Ebene der Wirklichkeit. Alle Sinne arbeiten dort viel intensiver, und vor allem blickt man hinter die Rolle, die die meisten Menschen spielen, und erkennt, wie und wer das Gegenüber tatsächlich ist. Das ist spannend, aber oftmals auch einfach erschütternd. Auch die Erkenntnis, wer man selbst in dieser anderen Ebene (und damit in Wirklichkeit) ist, muss nicht in jedem Fall angenehm sein.

Ravenna genießt den Aufenthalt in Aletheia und versteht sich immer besser mit Adrian. Kassandra blickt hinter die Dinge und erkennt auch sich selbst immer mehr. Und Tillmann beschließt, das Eintauchen in diese andere Ebene dazu zu nutzen, Stärken und Schwächen seiner Konkurrenten auszuspionieren und diese Erkenntnisse gegen sie zu verwenden. Doch dann wird Aletheia von einer grausamen Mordserie heimgesucht. Und die Einschläge kommen näher. Plötzlich wird Ravenna und Adrian klar, dass sie handeln müssen...

Eine nette Geschichte hat sich Katharina Prietzel da ausgedacht. Einen Jugend-Fantasy-Kurz-Roman, der eine spannende Idee, einen recht flüssigen Schreibstil und interessante Figuren vereint und damit nett zu lesen ist. Ich hätte allerdings gerne mehr von den Charakteren erfahren - einige Seiten mehr hätten mir doch besser gefallen. So geht es - Aletheia hin oder her - nicht so richtig in die Tiefe. Die Geschichte lebt in erster Linie von den ungewohnten Entdeckungen und Überraschungen.

Das Ende ist dann konsequenterweise ebenfalls überraschend, allerdings bleiben am Schluss noch eininge Fragen offen. Trotz der kleinen Kritikpunkte konnte mich der Kurzroman jedoch insgesamt gut unterhalten....


© Parden










Katharina Prietzel, geboren 1987, bekennender Bücherwurm, schrieb schon in ihrer Teenagerzeit für den Regionalteil einen südwestpfälzischen Zeitung, aber die wahre Leidenschaft blieb nun mal die Fiktion.

Sie wohnt im pfälzisch-saarländischen Grenzland und schreibt vorwiegend Fantasy und Science-Fiction Literatur.

Donnerstag, 23. November 2017

Bredemeyer, Mark: Runenzeit... (5+6)


Nach vier Bänden muss man ja die Lektüre zu einem glücklichen Ende bringen. 
Um was geht´s? Natürlich um RUNENZEIT


Was bescherte uns der vierte Band? Mit Handgranaten und Kalaschnikow ziehen Arminius und seine Armee aus den Stämmen der Germanen gegen die Legionen des Publius Quinctilius Varus. Man merkt, hier kann etwas nicht stimmen. Und richtig, in der Geschichte rühren so einige Leute dem 21. Jahrhundert rum. Aber das kennt der Leser dieses Blogs bereits, wenn er die kurzen Buchbesprechungen zu Bredemeyers „histo-fantastischem“ Roman verfolgt hat.

SCHIKSALSRUNEN, so heißt der fünfte Band und eigentlich weist dies auf das Ende hin. Das Schicksal des EWIGEN CHERUSKERS. Damit ist dann der sechste Band gleich mit genannt.

An das Ende darf man dabei als Mensch des 21. Jahrhunderts nicht denken, denn die Wolfszeit steht uns unmittelbar bevor, glaubt man den Göttern Wotan (Odin) und Donar (Thor). Über die Wolfszeit heißt es in der Völuspá, der Weissagung der Seherin:


Brüder schlagen dann,
morden einander;
Schwestersöhne
verderben Verwandtschaft;
wüst ist die Welt,
voll Hurerei; ’s ist
Beilzeit, Schwertzeit,
zerschmetterte Schilde,
Windzeit, Wolfszeit,
bis einstürzt die Welt –
nicht ein Mann will
den anderen schonen.

Die Wolfszeit gilt es zu verhindern, mindestens muss sie herausgezögert werden. Das ist der Grund, auf dessen die Hagedisen zu zeitverändernden Mitteln greifen, für diese eine Selbstverständlichkeit.

* * *

Wer sich so ein klein wenig auskennt, weiß, dass das Ende des Arminius nicht wirklich bekannt ist. Man spricht von Mord. Naja, bekannt ist auch, dass der Führer der Cherusker genügend Zoff in der eigenen Familie hatte. Schwiegervater Segestes und Bruder Flavus blieben den Römern verbunden. Thusnelda gebar den gemeinsamen Sohn Thumelicus in römischer Gefangenschaft.

Hier spaltet ein Verrat die Cherusker und auch vom Kampf gegen die Legionen des Germnicus erzählt Band 5 in dem die Munition knapp wird. Und MARBOD, auch ein „herbeigehexter“ Spätgermane spielt wieder eine Rolle.

Am Ende geht es darum, ob Arminius dem Schicksal entrinnen kann. Der harte Berufssoldat des 21. Jahrhunderts kennt ja das Ende des Cheruskers...





* * *

Immer wieder erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass es an sich eine komische Geschichte ist, wenn man eine solche Zeitreise erzählt. BLIKSMANI und sein Neffe / Sohn WITANDI, mit „bürgerlichen Namen Armin und Leon, greifen gemeinsam mit ein paar anderen in die Geschichte ein. Grundgedanke ist, dass ohne deren Eingreifen die Römer Germanien hätten erobern können. Daher holen sich die HAGEDISEN Unterstützung aus der Zukunft. Dies gelingt und damit läuft die Geschichte so ab, wie wir sie heute kennen. (Allerdings kennt sie eine Wissenschaftlerin am Ende besser und zwar aus berufenem Mund...)

Nun endlich, nach insgesamt sechs Bänden kann ich noch einmal bestätigen, was ich zum dritten Band schon einmal schrieb:

„Geschichtsrezeption ist die Sache vieler Jugendlicher heute nicht. Obwohl die Möglichkeiten der Geschichtslehrer durch unzählige Medien, massenweise Dokumentationen, heute fast ins unendliche gehen, scheint das Interesse selbst an eigener Geschichte ziemlich erlahmt zu sein. Vielleicht haben daher solche „histo-fantastischen“ Romane ihre neue Berechtigung. Es muss ja nicht gleich so was „Kompliziertes“ wie Augustus sein.“

Die „histo-fantastischen" Romane haben ihre Berechtigung. Genauso, wie heute Comics und Graphic Novels zur Geschichtsrezeption eingesetzt werden. Ganz ersetzen können sie den schulischen Geschichtsunterricht allerdings nicht. Zu den historischen Ereignissen kommen dann noch literarische dazu, denn es treten auch noch ein paar andere Typen dazu, die man aus den germanischen und nordischen Sagen kennt: Wenn es schon die Hagedisen (Hexen), die hier wirken, dann dürfen Wotan und Co. nicht fehlen.

Bredemeyer hat seine Bände jeweils mit einem umfangreichen Glossar versehen, in denen er die handelnden Personen vorstellt, die verschiedenen Stämme und auch die Gegenden, in denen die Geschichte spielt. Jeder Band beginnt mit einem prägnanten Rückblick, so dass der Leser gut an die vorangegangenen Bände erinnert wird, wenn die Lektüre bereits einige Wochen oder Monate zurücklag. Auch ermöglicht dies natürlich die gezielte Suche nach Begriffen und Erläuterungen im Internet.


* * *

Die Bücher bekam ich so nach und nach für einen „Eispreis“ und dann als Rezensionsexemplare von Katharina Salomo von Salomo Publishing. Dafür noch einmal recht herzlichen Dank.

Es gibt so Fantasy...




© Bücherjunge


Mittwoch, 22. November 2017

Völker, Melanie: Zwischen Leben und Ich


In unserer hektischen Zeit entflieht uns oftmals der Blick für das Wesentliche.
Wir hasten von einem Termin zum nächsten, planen das Morgen ohne zu sehen, was heute um uns herum passiert.


Zehn kleine Geschichten bieten Momente des Innehaltens, Atempausen im Strudel der Zeit.




  • Taschenbuch: 76 Seiten
  • Verlag: Books on Demand; Auflage: 1 (13. November 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3734706157
  • ISBN-13: 978-3734706158










ATEMPAUSEN IM STRUDEL DER ZEIT...



In ihren Geschichten lässt Melanie Völker die Welt alter Mythen aufleben, was nicht von ungefähr kommt - geht es ihr doch darum, gedanklich zum Kern des Menschseins zurückzukehren. Die Erzählungen lesen sich wie alte, indisch angehauchte Märchen, was der Namensgebung der Figuren geschuldet ist.


"Jeder Abzweig, an dem wir uns für eine Richtung entscheiden, jeder Schritt, den wir setzen, bringt uns neue Erkenntnis. Selbst ein Pfad, der sich am Ende als Irrweg entpuppt und auf dem wir umkehren müssen, erweist sich als lehrreiche Lektion für die Zukunft. Ein Weg ist dann richtig, (...) wenn er dein eigener ist."


Einzeln gelesen, können die Geschichten einen Ruhepol im hektischen Alltag darstellen, voller Farben, Bilder und Wärme, und nebenher noch einen kleinen Gedankenanstoß geben, um bei aller Hektik im Leben das Träumen nicht zu vergessen, um zu versuchen, alles im Gleichgewicht zu halten, um zu überprüfen, ob der eingeschlagene Weg noch der eigene ist.

Nicht dogmatisch, sondern behutsam transportieren die Erzählungen eine Botschaft, sind aber auch für sich genommen ein schönes Erlebnis. Um die Stimmung noch zu verstärken, sind einigen der Geschichten Fotos vorangestellt, die die Ruhe und die Kraft ausstrahlen, die den Leser hier bei der Lektüre überkommen soll.

Mir hat die Sammlung gut gefallen, auch wenn die Fremdartigkeit der Namensgebung es teilweise erschwerte, dass ich mir die einzelnen Charaktere merken konnte.

Tatsächlich ein schöner Fund...


© Parden 










Melanie Völker ist in Dortmund geboren und in Schwerte aufgewachsen, wo sie auch heute noch lebt. Neben ihrem Beruf als Dipl.-Verwaltungswirtin schrieb sie zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, später dann auch längere Geschichten im Fantasy-Genre. Mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans »Dämmernebel«, dem Auftakt zur Trilogie »Flamme der Seelen« erfüllte sie sich 2014 einen großen Traum. Derzeit schreibt sie am dritten Band der Reihe. Weitere Projekte sind in Arbeit.




Dienstag, 21. November 2017

Wolf, Julia: Walter Nowak bleibt liegen


Jeden Tag schwimmt Walter Nowak seine Bahnen im Freibad. Eines Morgens bringt eine Begegnung ihn aus der Fassung, mit fatalen Folgen: Der Länge nach ausgestreckt findet er sich wenig später auf dem Boden seines Badezimmers wieder, bewegungsunfähig und auf sich allein gestellt. »Von nun an geht es abwärts, immer abwärts«, schießt es ihm durch den Kopf. Zunehmend verliert er die Kontrolle, Gedankenfetzen, Bilder aus der Vergangenheit stürzen auf ihn ein: das Weihnachtsfest mit seiner ersten Frau Gisela, ihr Schweinebraten, ihre Tränen; der Blick seines Sohnes Felix, als er von der Trennung erfährt; Erinnerungen an seine eigene Kindheit als unehelicher Sohn eines GIs; und, vor kurzem, eine Diagnose seiner Ärztin. Während nach und nach alles vor seinen Augen verschwimmt, ziehen seine Gedanken immer engere Kreise, nähern sich einem verborgenen Zentrum, dem Anfang, dem Ende...


  • Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
  • Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt; Auflage: 1 (7. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3627002334
  • ISBN-13: 978-3627002336









EIN SPERRIGER ROMAN, EIN UNBEQUEMER CHARAKTER - UND DOCH ÜBERZEUGEND...



68 Jahre alt ist Walter Nowak - und fit wie ein Turnschuh. Eigentlich. Jeden Morgen schwimmt er seine Bahnen, immer exakt 1000 Meter, eher mehr, wenn er sich einmal verzählt. Doch an diesem einen Morgen unterbricht etwas seinen Schwimmrhythmus, Walter Nowak wird abgelenkt, und ganz in Gedanken knallt er mit voller Wucht mit dem Kopf gegen den Beckenrand.

Auch wenn Walter Nowak abwinkt, als man ihm zu Hilfe eilen will, auch wenn er einfach nur seine Sachen packt und aus dem Schwimmbad eilt, bleibt dieser Zusammenstoß mit dem Beckenrand nicht ohne Folgen. Diese Erschütterung wirkt nach, zieht wie ein ins Wasser geworfener Stein immer weitere Kreise, breitet sich wellenförmig aus, bis die spiegelglatte Oberfläche seines Lebens derart in Unruhe gerät, dass er sich darin nicht mehr wiederzufinden scheint.

Nach dem Schwimmbadunfall eilt Walter Nowak nach Hause, wo ihn gähnende Leere erwartet, denn Yvonne, seine deutlich jüngere Frau, ist für einige Tage auf einer Tagung, hat ihm einen Essensfahrplan dagelassen, gesunde Schonkost. Der Leser folgt Nowak in sein Haus, vor allem aber in seine nur durch gelegentlichen Schlaf oder eine Bewusstlosigkeit unterbrochene Gedankenkette, die oft wirr und unzusammenhängend scheint, jedem Impuls folgend. Und Stück für Stück taucht der Leser so ein in ein über weite Strecken gelebtes Leben.

Walter Nowak ist ein ehemals erfolgreicher Geschäftsmann, nun im Ruhestand, die erste Ehe geschieden, der gemeinsame Sohn Felix distanziert, seine Yvonne, nun auch nicht mehr jung und knackig, mit zunehmend eigenen Interessen. Hinzu kommt eine ärztliche Diagnose - "Natürlich, Herr Nowak, werden wir versuchen, potenzerhaltend, Herr Nowak, zu operieren", die ihn zusammen mit dem Schwimmbadunfall aus der Bahn wirft, auch die eiserne Disziplin, die ihn bis dahin ausgezeichnet hat, hilft ihm kaum, die Scherben seines Lebens zusammenzuhalten.

Gedankenfetzen, Fantasien, Erinnerungen, geistige Aussetzer - Walter Nowak ist am Boden. Der Schreibstil erscheint dazu ungemein passend. Anfangs war ich entsetzt - ein Endlostext, kaum einmal wenigstens ein Absatz, dazu noch unvollständige Sätze, auseinandergerissen. Doch einmal angefangen zu lesen, merkte ich rasch, dass es trotz allem flüssig erschien, wirr, wie Gedankengänge nun einmal sind, und deshalb zwar ungewönlich aber einfach gut gewählt.

Walter Nowak ist ein unbequemer Charakter, sperrig, und so regt sich beim Lesen kaum einmal Sympathie - wenn überhaupt, dann Mitleid. Und doch ist es spannend, dem Geschehen zu folgen, dem Zusammenbruch eines Lebens zuzuschauen, der auch mit eiserner Disziplin nicht aufgehalten werden kann. Walter Nowak, ein ehemaliger Firmenpatriarch, ein ehemals unbeugsamer Vater, versteht das Leben nicht, alles entgleitet ihm, ohne dass er weiß weshalb. Rückblicke in die Vergangenheit, bis hin zu seiner Kindheit, helfen verstehen, ändern aber nichts an dem, was ist.

Für mich ist dieser Roman von Julia Wolf zurecht auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet. Die Erzählung will nicht gefallen, sie ist sperrig wie ihr Hauptcharakter, sie fordert. Und doch ist der Roman mit seinem außergewöhnlichen Schreibstil und der reinen Aneinanderreihung von Gedanken etwas Besonderes, Originelles.

Sicher nichts für jedermann, aber mir hat es wider Erwarten richtig gut gefallen.



© Parden









Die Frankfurter Verlagsanstalt schreibt über die Autorin:

Julia Wolf, 1980 in Groß-Gerau geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Für ihren Debütroman »Alles ist jetzt« (FVA 2015) erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Brandenburg Lotto GmbH. Beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2016 las sie einen Auszug aus ihrem Roman »Walter Nowak bleibt liegen« (FVA 2017), für den sie mit dem renommierten 3sat-Preis und dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet wurde. »Walter Nowak bleibt liegen« wurde 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

übernommen von der Frankfurter Verlagsanstalt

Sonntag, 19. November 2017

Voll, Franz: Inside Duisburg-Marxloh: Ein Stadtteil zwischen Alltag und Angst


Eine Stadt verkommt, ein Stadtteil kippt, wer kann, haut ab. Vermüllte Häuser, verängstigte Bewohner, kriminelle Elemente. Wird Duisburg-Marxloh zu Deutschlands erster No-go-Area? Das Detroit Deutschlands? Oder kann der Problembezirk im Ruhrgebiet für andere Städte mit ähnlichen Problemen Lösungen aufzeigen? Und vor allem: Was kann man tun?

Franz Voll vom »Team Wallraff« war monatelang in Marxloh unterwegs. Er hat mit langjährigen Einwohnern und neuen Zuwanderern gesprochen, hat Prominente, Politiker und Polizisten interviewt. Sein Fazit: Von Marxloh lernen heißt anderswo die gleichen Fehler zu vermeiden. Dieses Buch ist das Porträt eines besonderen Stadtteils und seiner Menschen – investigativer Journalismus, professionell recherchiert, mit schockierenden Wahrheiten und verblüffenden Einsichten.


(Klappentext Orell Füssli Verlag)

  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: Orell Füssli (1. Oktober 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3280056349
  • ISBN-13: 978-3280056349












NO-GO-AREA?



Als ich auf dieses Buch stieß, wollte ich es sofort lesen. Nein, nicht weil ich in diesem Duisburger Stadtteil lebe, aber weil ich beruflich mit zahlreichen Menschen aus Marxloh in Kontakt komme und auch immer wieder dort vor Ort bin. Dort leben meist Menschen mit geringem Einkommen, oftmals Hartz-IV-Empfänger, dazu noch überdurchschnittlich viele Menschen mit Mirgrationshintergrund. Seit einiger Zeit berichten diese Menschen aber von einer deutlichen Verschlechterung der Lebensumstände. Viele Zuwanderer, Bulgaren und Rumänen, würden das Stadtbild verschlechtern, viele Spielplätze seien gar nicht mehr nutzbar, und alles würde abwärts gehen. Da interessierte mich dieses Buch eben sehr, um zu erfahren, wie viel ist eigentlich dran an den Berichten einzelner Einwohner oder auch an den schlagzeilenträchtigen Medienberichten?

Sehr erstaunt hat mich zunächst, dass Marxloh nicht immer das Problemviertel von Duisburg war, sondern ganz im Gegenteil, einmal eines der reichsten Stadtteile. Wer früher eine der begehrten Wohnungen in Marxloh bekam, hatte es geschafft - der war wer! Spaßeshalber habe ich mal geforscht, was Eigentumswohnungen in Marxloh heute so kosten - und nicht schlecht gestaunt. Unzählige Zwangsversteigerungen und auch sonst nur ein Bruchteil dessen, was vergleichbare Wohnungen in bevorzugten Wohnlagen kosten. Traurig. Doch so sieht es nun einmal heute aus in Marxloh:


"Die Menschen in diesem Stadtteil sind zu 65 Prozent Migranten. In den Schulen werden Klassen gebildet, die bis zu 85 Prozent aus Migranten bestehen, die aus 40 Nationen kommen. Manche sprechen beim Eintritt ins Gymnasium kein einziges Wort Deutsch."



Marxloh ist ein Armutsbezirk mit einer hohen Arbeitslosenzahl und mit vielen daraus entstehenden sozialen Problemen: 16 Prozent Arbeistlosigkeit, 19000 Einwohner, 64 Prozent davon mit ausländischen Wurzeln. Überall fehlt es an Geld, so dass Marxloh zusehends verfällt. Nicht alle Hauseigentümer kümmern sich ausreichend um ihren Besitz, aber vor allem die Stadt selbst hat kein Geld mehr - Schwimmbäder, Straßen, Schulen, Kindergärten, alles kommt zum Stillstand, und Stillstand bedeutet Verfall. Trotzdem sind sich die Befragten einig: Marxloh ist keine No-Go-Area. Und Franz Voll hat mit vielen Bewohnern gesprochen. Besonders wichtig waren ihm dabei die jungen Menschen, die doch eine Perspektive brauchen. Aber auch mit Hartz-IV-Empfängern, mit Drogendealern, Prostituierten, Schwarzarbeitern und Rumänen - und mit Politikern, Polizeibeamten, Feuerwehrleuten, Lehrern. Sechs Monate hat der Autor sich Zeit genommen, um diesen Stadtteil und seine Menschen näher kennenzulernen und um letztlich ein möglichst umfassendes Bild von Marxloh zu präsentieren.

Marxloh hat eine lange Tradition als Einwanderungsgebiet. Die Stahlwerke und die Kohlengruben zogen immer schon Arbeiter aus anderen Ländern an, teilweise gezielt angeworben von den Werken. Zunächst nur als Lösung auf Zeit gedacht, blieben doch viele der Arbeiter und gründeten Familien, so dass heute Menschen bereits in  2. und 3. Generation dort leben, teilweise auch mit deutschem Pass. Dadurch gab es ausreichend Zeit, sich aneinander zu gewöhnen, was auch gut funktioniert hat. Selbst der Bau der Moschee in Marxloh stellte so kein wirkliches Problem dar. Was für große Unruhe sorgte, war dann tatsächlich der große Zuzug von EU-Bürgern, Rumänen und Bulgaren, die widersinnigerweise als EU-Bürger keinen Anspruch auf einen Sprachkurs oder Integrationskurs haben - die Plätze werden von den zahllosen Flüchtlingen aus anderen Ländern belegt, die in den vergangenen Jahren noch zusätzlich dazu kamen. Von EU-Bürgern müsste der Sprachkurs selbst gezahlt werden, was die Motivation nicht sonderlich erhöht und die Integration noch zusätzlich erschwert.

Doch was ist Integration eigentlich? Auch dieser Frage geht Franz Voll nach und stellt erstaunt fest: alle reden davon, aber eigentlich weiß keiner genau, was das sein soll. Jeder hat sein eigenes Bild und persönliche Erwartungshaltungen, so dass es schwierig ist, da auf einen Nenner zu kommen. Kopftuch weg und Deutsch lernen? Moschee abreißen und alle ab zum Fußball? Und wer bewertet eine gelungene Integration?


"Wie soll sich ein Zugewanderter integrieren? Und ab welchem Zeitpunkt gelten Zuwanderer als integriert? Sind sie integriert, wenn sie die Sprache des Landes sprechen? Oder müssen sie noch in einem Kegelverein oder in einem Sportverein tätig sein? Reicht die Funktion des Kassenwarts aus oder wird mehr Engagement verlangt?"


Vielleicht kommt die Aussage einer Befragten der Sache am nächsten, die kein Problem damit hat, dass fremde Menschen um sie herum leben, dass diese sich aber benehmen sollen. Wenn man Gast ist, soll man sich auch so benehmen. Der Gastgeber hat Pflichten, aber der Gast eben auch.

Franz Voll hat ein buntes Bild von Marxloh gezeichnet, das manche der Vorurteile durchaus bestätigt, das aber auch die anderen Seiten des Stadtteils zeigt. Die seit einiger Zeit zur Verfügung gestellte zusätzliche Hundertschaft reguliert die deutlichen Nachteile der Sparmaßnahmen bei der Polizei in den vergangenen Jahren, so dass Konflikte meist rasch geregelt werden können. Aber die Aussage eines Befragten macht auch nachdenklich:


"Über die Ansammlung vieler Migranten muss man sich eigentlich nicht wundern; auch ich geh dahin, wo ich mich am wohlsten fühle und am schnellsten zurechtkomme. Lässt die Kommune diese Ansammlung zu und ergreift keine frühzeitigen Maßnahmen, um Probleme wie Kriminalität oder Bandenkriege zu verhindern,darf sie sich nicht darüber beschweren, hilflos und überfordert zu sein. Der Drops ist gelutscht."


Probleme gibt es durchaus, das ist durch Franz Volls Bericht deutlich geworden. Aber die Art der üblichen Medienberichterstattung ist oftmals vollkommen überzogen - und vielfacht waren die Reporter gar nicht vor Ort, sondern haben abgeschrieben, was andere behauptet haben.

Die Zuwanderer aus Osteuropa bereiten allerdings wirklich Schwierigkeiten. Das liegt zum einen an den anderen Lebensgewohnheiten - sobald das Wetter es zulässt, findet das Leben draußen statt, in großen Gruppen bis zu 150 Leuten, Grillen und spielende Kinder bis nach Mitternacht sind da kein ungewohntes Bild. Dass sich da Anwohner gestört fühlen, liegt auf der Hand, und dass da ein Einsatzwagen der Polizei nicht ausreicht, ebenso. Zum anderen liegt es daran, dass nicht, wie von der Politik gemutmaßt (oder schöngeredet) wurde, vorrangig die gebildeten Menschen nach Deutschland kommen, sondern vielfach die Roma, die in Rumänien zu den Geächteten und den Rechtlosen zählen. Dumm wären sie, wenn sie nicht kämen. Sie bekommen als EU-Bürger zwar keine Hartz-IV-Unterstützung, wohl aber Kindergeld - und bei durchschnittlich sechs Kindern ist das kein Betrag, der nicht ins Gewicht fällt. Doch mit den Problemen müssen jetzt nicht die Politiker fertig werden, die diese Entscheidung getroffen haben, sondern die Bevölkerung vor Ort. Und das schafft Unmut.

Müll, Dreck, Verwahrlosung - zwei Straßen in Marxloh scheinen fest in der Hand dieser Zuwanderer zu sein. Hier entstand der Begriff der No-Go-Area, im Sinne eines rechtsfreien Bezirks mit erhöhter Gewalttätigkeit. Ich muss gestehen, als ich dem Interview mit einem anonymisierten rumänischen Roma folgte, stieg bei mir der Blutdruck deutlich. Eine Geburtsurkunde für ein 'zusätzliches' Kind zu beschaffen, stellt wohl kein Problem dar - und schon erhöht sich das Einkommen durch das gezahlte Kindergeld noch einmal. Schwarzarbeit ist ebenso selbstverständlich, und man klaut dort zwar nicht selbst, gibt aber entsprechende Tipps weiter an zahlende Interessenten. Für die eigenen Kinder kauft man aber kein Spielzeug, denn die können in die Läden mit den vollgefüllten Regalen gehen und sich das 'nehmen', was sie wollen. Klauen sei das nicht. Dazu kommen noch etwa 40 bis 60 Mitglieder des ehemaligen gefürchteten rumänischen Geheimdienstes Securitate in Duisburg und Umgebung, die die Strippen ziehen - organisierte Einbrüche, Drogenhandel, Prostitution. Ich muss gestehen: ein sicheres Gefühl schafft das nicht.

Nach der Lektüre habe ich das Gefühl, mir nun ein umfassenderes und vielseitigeres Bild von Duisburg Marxloh machen zu können und die Berichte der Einwohner besser einordnen zu können, die immer wieder an mich herangetragen werden. Doch bei allem Optimismus, den manche Aussagen in diesem Buch zu verbreiten suchten, bleibt bei mir das Bild der Problematik mit den Roma haften, die sich zudem noch stets in riesigen Familiensippen ansiedeln. Wenn man Gast ist, soll man sich auch so benehmen? Wenn das der Maßstab für Integration ist, ist diese Gruppe der Zugezogenen jedenfalls noch weit davon entfernt.

Insgesamt jedenfalls eine durchaus interessante Lektüre...


© Parden













Der Orell Füssli Verlag schreibt über den Autor:


Franz Voll war lange Mitglied im »Team Wallraff«. Der gebürtige Essener ist ein echter »Ruhri«. Als bodenständiger Rechercheur ohne Berührungsängste und Mitinhaber einer Produktionsgesellschaft für Fernsehdokumentationen arbeitet er bundesweit vor allem an sozialpolitischen Themen.

übernommen vom Orell Füssli Verlag

Samstag, 18. November 2017

Erdrich, Louise: Das Haus des Windes


Ein altes Haus, eine ungesühnte Schuld und die Brüste von Tante Sonja – Louise Erdrich, liebevolle Chronistin der amerikanischen Ureinwohner, führt uns nach North Dakota. Im Zentrum ihres gefeierten Romans steht der 14jährige Joe, der ein brutales Verbrechen an seiner Mutter rächt und dabei zum Mann wird.

Im Sommer 1988 wird die Mutter des 14-jährigen Joe Coutts Opfer eines brutalen Verbrechens. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und verweigert die Aussage. Vater und Sohn wissen nicht, wie sie sie zurück ins Leben holen können. Da sich der Überfall auf der Nahtstelle dreier Territorien ereignet hat, sind drei Behörden mit den Ermittlungen befasst. Selbst Joes Vater sind als Stammesrichter die Hände gebunden. So beschließt Joe, den Gewalttäter selbst zu finden. Mit seinen Freunden Cappy, Angus und Zack unternimmt er teils halsbrecherische, teils urkomische Ermittlungsversuche. Bei seiner aufreizenden Tante und im Kreis katholischer Pfadfinderinnen begegnet er der Liebe – und in alten Akten dem Schlüssel des Verbrechens.

(Klappentext Aufbau Verlag)


  • Taschenbuch: 384 Seiten
  • Verlag: Aufbau Taschenbuch; Auflage: 2 (14. Januar 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Gesine Schröder
  • ISBN-10: 3746631505
  • ISBN-13: 978-3746631509
  • Originaltitel: The Round House










THE ROUND HOUSE...



Der englische Titel dieser Rezension ist gleichzeitig der Originaltitel des Buches und hätte mir wohl eher als der schmal gehaltene Klappentext verdeutlicht, dass dieser Roman in einem Indianerreservat spielt. So hat mich die Lektüre anfangs doch überrascht, aber auch schnell hineingezogen in das Geschehen.

Der 13-jährige Joe Coutts steht im Mittelpunkt der Handlung, und das Geschehen wird allein aus seiner Sicht erzählt. Er lebt mit seinen Eltern in einem Indianerreservat in North Dakota, einem der am dünnsten besiedelten amerikanischen Bundesstaaten, und gehört wie seine Eltern dem Stamm der Ojibwe an. Joes Vater arbeitet als Richter im Reservat, seine Mutter arbeitet im Stammesbüro. In einem Safe, dessen Code nur sie besitzt, bewahrt sie kompliziert verästelte Stammesregister auf. Sie kennt jedermanns Geheimnisse und weiß von Kindern, die durch Inzest, Vergewaltigung oder Ehebruch jenseits oder innerhalb der Grenzen des Reservats gezeugt wurden.

Eines Tages kommt Geraldine, Joes Mutter, sehr verstört nach Hause. Sie bleibt hinter dem Steuer sitzen und macht die Tür ihres Autos nicht auf. Als Joes Vater die Autotür öffnet, sieht er das Blut auf dem Fahrersitz. Und ihr grün und blau geprügeltes Gesicht. So beginnt ein Kriminalfall, der viel komplizierter und komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen zieht sich Joes Mutter in ihr Schlafzimmer zurück, verweigert die Aussage und verfällt in ein dumpfes, brütendes Schweigen, das Joe und seinen Vater in Angst und Schrecken versetzt. Zum anderen gehört das Stück Land, auf dem das Verbrechen verübt wurde, weder zum Indianerresrvat noch zum amerikanischen Bundesgebiet - es handelt sich um rechtliches Niemandsland, und obgleich drei Behörden mit den Ermittlungen beginnen, kann letztlich keine Anklage erhoben werden. Auch Joes Vater als Stammesrichter sind die Hände gebunden.


"Ich stand da und spürte die enorme Stille in unserem kleinen Haus wie die Folge einer gewaltigen Explosion. Alles war zum Stillstand gekommen. Selbst das Ticken der Uhr (...) Ich stand da und starrte auf die alte Uhr, deren Zeiger bedeutungslos auf 11:22 stehengeblieben waren. Sonnenlicht fiel in goldenen Pfützen auf den Küchenboden, aber es war ein unheimliches Leuchten, wie die blendenden Strahlen hinter einer Wolke am westlichen Horizont. Grauen packte mich wie ein Trancezustand, wie der Geschmack von Tod und saurer Milch." (S. 32)


So beschließt der 13-jährige Joe, den Gewalttäter selbst zu finden. Mit seinen Freunden Cappy, Angus und Zack unternimmt er teils halsbrecherische, teils urkomische Ermittlungsversuche, beginnend bei dem Rundhaus, wo das Verbrechen geschah. Und steht schließlich vor einer schwerwiegenden Entscheidung...

Was für ein Roman! Er liest sich streckenweise wie ein Krimi, doch die Coming-of-Age-Geschichte des Erzählers dominiert. Joe ist ein Junge, der begeistert Rad fährt, für 'Star Trek – Die nächste Generation' schwärmt (die Erzählung spielt im Jahr 1988) und seinen Kummer ansonsten sehr gut vor der Welt versteckt. Auch entdeckt er die Liebe und seine erwachende Sexualität. Wie Joe mit seinen Freunden der Wahrheit nachspürt, Verwandte besucht und tief in die mythische, übernatürliche Welt seiner indianischen Vorfahren eintaucht, ist wahrhaft anschaulich, der jugendlichen Perspektive entsprechend authentisch und oftmals hochkomisch beschrieben – so, wenn es um die Powwow-Montur von Großvater Randall geht: Die Federn an seinem Kopfputz wurden mit Autoantennen stabilisiert, und die Fußglöckchen hängen an einem mit Hirschleder bedeckten, elastischen Strumpfhalter irgendeiner Tante. Die amerikanische Ureinwohner sind keine hehren Gestalten, und die Alten erscheinen im Gegensatz zum gängigen Klischee nicht als Söhne der Weisheit und des Leidens, sondern als kräftige, zähe, sehr irdische Gestalten, die mit Vorliebe schmutzige Anekdoten erzählen. Die Indianer in diesem (fiktiven) Reservat lieben, sie haben Laster, sie suchen nach dem Sinn des Lebens und verlangen Gerechtigkeit.


"Ich weiß, dass die Welt über dem Highway 5 und jenseits davon weitergeht, aber wenn man dort entlangfährt - vier Jungs, ein Auto, und alles ist so friedlich und Meile für Meile so leer, und der Radioempfang hört auf, und da sind nur noch Rauschen und der Klang der Stimmen  und der Wind, wenn man den Arm zum Fenster rausstreckt -, dann fühlt man sich, als balancierte man auf dem Rand des Universums." (S. 377)


'Das Haus des Windes' ist ein großartig erzähltes, realistisches, hochspannendes Buch über den indianischen Alltag im Reservat, über Identität, Traditionen und überlieferte Mythen. Es ist auch eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Krimi, sowie eine politische Anklageschrift über die immer noch vorhandene Rechtlosigkeit der Ureinwohner Nordamerikas: Indianernationen haben keinerlei Souveränität über Nichtindianer, die sich in ihren Reservaten aufhalten, und können sie im Falle eines Verbrechens nicht belangen.

Eine gelungene Mischung, die Louise Erdrich hier präsentiert und zu einer deftig-traurig-komisch-packenden Geschichte verwebt. Tief eingetaucht bin ich in die Erzählung und kann hier nur eine unbedingte Leseempfehlung geben. Dieser Roman, der mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, gehört in jedem Fall zu meinen Jahreshighlights.


© Parden













Der Aufbau Verlag schreibt über die Autorin:

Louise Erdrich, geb. 1954 als Tochter einer Indianerin und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Ihre Lyrikbände, Kinderbücher und zahlreichen Romane, darunter Weltbestseller wie Die Antilopenfrau, Die Rübenkönigin und Der Club der singenden Metzger, wurden vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den National Book Award für „Das Haus des Windes“, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag sind ihre Romane „Das Haus des Windes“, „Die Rübenkönigin“, „Der Klang der Trommel“ lieferbar.

übernommen vom Aufbau Verlag