Dienstag, 31. Oktober 2017

Jacobson / Colón: Das Leben von anne frank

Eine grafische Biografie.

Auf Spurensuche zu Hanas Koffer besuchte ich vor ungefähr anderthalb Jahren das Konzentrationslager Ravensbrück. Hanas Koffer ist nicht nur ein Buch über ein tschechisches jüdisches Mädchen, welches in Auschwitz ermordet wurde. Hanas Koffer ist auch eine Lesereise quer durch diese Republik, wir haben bereits viel darüber erzählt.


In Ravensbrück gibt es natürlich auch eine Menge Bücher. wissenschaftliche Bücher, Romane, Kinderbücher und auch "Bilderbücher". Sogenannte Graphic Novels. Auch von solchen wurde hier schon viel berichtet. Und so erstand ich neben Sofie Scholl auch dieses Buch hier, eine grafische Biografie des wohl bekanntesten Opfers des Vernichtungszuges der Nationalsozialisten gegen die Juden Europas: Anne Frank.


Gestehen sollte ich an dieser Stelle, dass ich ihre Tagebücher bis heute nicht gelesen habe. Gleichwohl kenne ich natürlich die Geschichte der Familie Frank aus diversen Dokumentationen und Filmen. Die Gelegenheit nutzte ich nun, die Gesamtausgabe sämtlicher Anne-Frank-Texte zu erwerben. Doch hier soll es erst einmal um diese grafische Biografie gehen.

Graphic Novels begleiten mich nun schon einige Jahre, dass diese inzwischen auch Geschichte lehren, war eine Erfahrung, die zuerst Erstaunen hervorrief. Mit der Zeit aber kam das Verständnis für ein weiteres gedrucktes Medium, welches vielleicht in Schulen eingesetzt werden kann und ähnlich wie Hanas Koffer Wirkung entfalten kann. Sid Jacobsen (* 1929) und Ernie Colón (*1931) schufen auf der Grundlage der Tagebücher hier nun kein Tagebuch, sie erzählen in Bildern die Geschichte der Familie Frank und ordnen sie in das jeweilige politische Zeitgeschehen ein. [1]

Sie beginnen mit der Hochzeit von Edith Holländer und Otto Heinrich Frank, den Eltern von Margot und Anne. 
"Habe ich dir schon mal was von unserer Familie erzählt? Ich glaube nicht, und deshalb werde ich sofort damit anfangen. Vater wurde in Frankfurt geboren, als Sohn steinreicher Eltern..." [2] So beginnt die grafische Biografie. Anne erzählt dies am 8. Mai 1944 ihrer Freundin Kitty, so heißt das Tagebuch.

Weiter wird vom Leben des Vaters, auch als Soldat im 1. Weltkrieg erzählt, bis Margot geboren wird. Die Autoren kennzeichnen diese Zeit durch einen Hinweis auf die Erstveröffentlichung von Hitlers "Mein Kampf" und wie die NSDAP im Jahr 1928 12 Sitze im Reichstag erlangte. Es ist das Jahr in dem Anne geboren wird.  Die Geschichte der Kinder, die gut behütet in Frankfurt am Main aufwachsen wird weiter erzählt, wobei die Erstarkung des Nationalsozialisten immer im Kontext steht, bzw. gezeichnet wird.

Nach dem Reichstagsbrand entschließen sich die Eltern, in die Niederlande umzuziehen. Die Mädchen werden erst einmal zu ihrer Oma nach Aachen gebracht. noch können sie reisen und so erlernt Margot in der Schweiz Schlittschuh laufen und Ski fahren.

Dann ziehen Sie nach Amsterdam und vorerst gehen die Mädchen ganz normal zur Schule, später müssen sie auf ein jüdisches Gymnasium, den bekannten gelben Stern tragen. Am 12. Juni 1942, an ihrem 13. Geburtstag erhält Anne ein Geschenk. Es ist ein Poesie-Album, das nun zum Tagebuch wird. "Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein." [3] 

Während Sie am 5. Juli noch von der Versetzungsfeier in der Schule schreibt, so finden wir im Tagebuch und auch in der grafischen Biografie die Worte vom 08. Juli 1042: "Liebe Kitty! Zwischen Sonntagmorgen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist soviel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht..." [4] Familie Frank ist mit weiteren Bewohnern in ihre letzte Zufluchtsstätte, ins Hinterhaus gezogen, nachdem Margot eine Art "Einberufungsbefehl" zum Arbeitseinsatz erhalten hat.

Hier beginnt Anne an imaginäre Freundinnen Briefe zu schreiben, denn dieses Versteck dürfen sie nicht mehr verlassen. So entstehen auch die Geschichten aus dem Hinterhaus. [5] sie erzählt vom Leben in dieser Gemeinschaft aber auch von ihrem ersten Lyzeumstag oder einer Biologiestunde.

12. August 1943
Eine Mathematikstunde
Beeindruckend steht er vor der Klasse, groß, alt mit einem umgeknickten Stehkragen, immer in einem grauen Anzug, einer Glatze, umgeben von einem Kranz grauer Haare. Spricht einen eigenartigen Dialekt, schimpft oft und lacht oft. Ist geduldig, wenn man sich Mühe gibt, zornig, wenn man faul ist...." Von ihm bekommt Anne einen Strafaufsatz wegen Schwätzens, in dem sie schreibt:
"Ich muss mich tatsächlich bemühen, mir das Schwätzen ein bisschen abzugewöhnen, aber ich fürchte, dass nicht viel daran zu ändern ist, da dieses Laster erblich ist. Meine Mutter schwätzt auch so gern..." [6]

Am 4. August 1944 werden sie entdeckt. Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik - Auschwitz - Bergen-Belsen in der Lüneburer Heide. Chanukka, Nikolaus und Weihnachten an einem Tag im Dezember 1944. Und dann kommt der Typhus...


Es hätte sich wohl kaum jemand für das Tagebuch der dreizehnjährigen Anne interessiert. Vielleicht wäre es nach ihrem Tod als Großmutter mit vielen Enkeln einmal weitergegeben, vielleicht auch gedruckt worden. Auch den Anne Frank Fonds in Basel gäbe es wohl nicht und niemand hätte eine "Anne Frank Gesamtausgabe" verlegen müssen. Es wäre schön, wenn es diese nicht geben müsste. Es gibt sie, weil die Mädchen kurz vor der Befreiung an schwerer Krankheit sterben müssen, es gibt sie, weil der Vater überlebt. Es wird unzählige Auflagen geben, Theaterstücke und mehrere Filme. Und eben auch Bilderbücher, Comics, Graphic Novels. Dank ihm. Und sie sind notwendig, auch wenn das 13 jährige Schulmädchen meinte, für ihr Geschreibsel würde sich keiner interessieren. Dass sie darin Unrecht hat, das ist die Tragik.

* * *

In letzter Zeit liest man immer mal wieder von Ermittlungen und Forschungen über die Festnahme der Familie Frank und der anderen Bewohner. Die Frage, die dabei im Raum steht heißt: War es wirklich Verrat oder war es Zufall? Ich weiß nicht, wer nun so unbedingtes Interesse daran hat, dies zu klären, es ändert nichts an dieser schrecklichen Zeit. Es bedeutet nur, dass Deportation, Vertreibung, Tod auf eine bestimmte Art plötzlich begannen. Die Ursachen sind bekannt: Menschenverachtende Ideologie und politischer Wille einer Gruppe von Menschen, die diese nicht ohne industrielle Geldgeber und Zustimmung von Millionen hätte umsetzen können.

* * *

Holocaust-Leugner gibt es heute noch. Es scheint zur Zeit, es werden mehr. Eigenartige Dinge geschehen und dein Name, Anne, erscheint auf Fußballtrikots. Davon schreibt ein Bloggerkollege, für den der Vorfall mit Anlass war, ein weiteres Bilderbuch zu besprechen. Selten beziehen wir Blogger uns auf andere unserer Zunft. In diesem Fall tue ich es wiederholt gern, denn die Idee ist nicht von mir. Mit Astrolibrium gegen das Vergessen. Warum nicht?



* * *



Filmtrailer 2016 

* * *
 


Die Gesamtausgabe ist ein beeindruckendes Buch. Schon das Lesen von Teilen der Tagebucheintragungen, der Erzählungen und der Briefe zeigen, dass dieses Mädchen auch ein großes Schreibtalent war. Dass sie geschrieben hätte, wäre das glückliche Leben in Frankfurt ohne den NS-Staat weiter gegangen, wissen wir von ihr selbst:

5. April 1944: "...werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr! Mit Schreiben kann ich alles ausdrücken, meine Gedanken, meine Ideale, meine Phantasien." [7]

 Hätte sie überlebt, würden wir vielleicht anderes von ihr lesen, oder aber eben auch das Erleben von Deportation und Tod ringsum auf dem Leidensweg von Millionen.






  • Das Leben von anne frank - Eine grafische Biografie: DNB / Carlsen-Verlag / Hamburg 2010 / ISBN: 978-3-551-79185-6 / 159 S.
  • Anne Frank - Gesamtausgabe: Tagebücher, Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus, Erzählungen, Briefe, Fotos und Dokumente: DNB / Fischer Verlag / Frankfurt 2015 / ISBN: 978-3-596-90591-1 / 800 S. 



© KaratekaDD

Quellen:

[1] Sie folgen dabei der Übersetzung der Tagebücher durch Mirjam Pressler, wenn sie aus diesen Zitieren.
[2] vgl. Tagebuch, Edition Mirjam Pressler, in Anne Frank - Gesamtausgabe, Fischer Verlag 2015, Seite 226
[3] vgl. Ebenda, Seite 15
[4] vgl. Ebenda, Seite 28
[5] Ebenda ab Seite 265
[6] Ebenda, Seite 302
[7] Ebenda, Seite 200


Montag, 30. Oktober 2017

Goldammer, Frank: Tausend Teufel


Dresden 1947. 

Ein klirrend kalter Nachkriegswinter. 
Grausame Morde in einer besetzten Stadt.

Max Heller wird weiterhin gebraucht. Der Soldat des 1. Weltkrieges und danach Polizist, ist auch heute noch dabei: Bei der Volkspolizei. Im Jahr 1945 suchte er den Angstmann und verschaffte sich dabei Respekt bei denen, die in der sowjetischen Besatzungszone das Sagen hatten: den Chefs der Roten Armee und auch dem NKWD – (Народный комиссариат внутренних дел dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (aus dem wurde 1954 der KGB gebildet).

Im Jahr 1947 sind das General Medvedev und Oberst Ovtscharov.

Zwischen Hunger und Kälte, wartend auf Sohn Klaus, der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft demnächst heimkehren soll, ermittelt Max zum Tod bisher zweier sowjetischer Offiziere. Eine Leiche findet man auf der Bautzener Straße, schnellstens abtransportiert durch die Rote Armee. Was die Soldaten nicht mit nehmen, ist ein Rucksack. In diesem findet die Polizei den Kopf eines Kriegsverbrechers...

Sonntag, 29. Oktober 2017

Nesbø, Jo: Schneemann

Seit September bereits steht ein neues Buch im Regal. Dies ist Jo Nesbø und seine Hauptfigur, der bekannte Harry Hole. Im Jahr 1999 betrat Harry Hole erstmals die Literaturbühne, seither entstanden elf Romane um den trinkenden, eigenwilligen Kriminalkommissar.
Natürlich nichts Ungewöhnliches.

Der siebente Roman der Reihe ist 'Schneemann'. Der Spiegel schrieb im Jahr 2008 was vom „vielleicht besten Krimi des Jahres“ und im Jahr 2010, zur Buchgesichterzeit, begeisterte der Osloer Typ erstmals auch uns.

Der Schneemann ist ein Serienmörder, der es auf junge Mütter abgesehen hat, deren Ehen nicht ganz so laufen, wie sie laufen sollten. Sein Zeichen ist ein Schneemann, den er am Tatort zurücklässt, die Morde geschehen immer im Winter. Die neue Kollegin von Harry ist Katrine Bratt. Die Kinder der Mütter haben eine seltene Erbkrankheit – ist der Mörder vielleicht Arzt? Je tiefer die beiden Ermittler in die Geschichte eindringen desto mehr tritt der Mörder aus dem Schatten. Sowohl Katrine wie auch Harry stehen in Beziehung zum Schneemann. Und obwohl Harry mit seiner geliebten Rakel und deren Sohn Oleg nicht zusammenlebt, geraten auch diese in den Fokus des Mörders.

Bis zuletzt tappt der Leser im Dunkeln und rätselt hin und her, wer denn nun der Schneemann sein könnte. Spannend, aufreibend, brutal und blutig: Warum nur immer lesen wir solches Zeug?

Nun gab es den Schneemann im Kino. Beim Durchblättern des Buches wird deutlich, die Grundstory blieb natürlich enthalten, das Buch ist mal wieder viel dichter und enthält auch einige Handlungsstränge mehr. Die Rolle des korrupten Bullen in Bergen ist im Film etwas verworren und außerdem spielt plötzlich ein Industrieller, der sich um die Bewerbung Oslos für die Olympischen Winterspiele bemüht, eine Rolle. Etwas moderner ist die Polizei auch geworden, die Ermittler benutzen ein etwas sperriges Tablet für alle Arten von „Ermittlungsnotizen“, etwas, wovon wir hier noch weit entfernt zu sein scheinen. Nicht alles ist schlüssig, das Tablet führt außerdem zu einem weiteren brutalen Gewaltakt, da der noch unbekannte Täter den Zugang zu diesem braucht.




Abb 1: M. Fassbender
Abb 2: C. Gainsbourgh
Harry Hole Fans gehen bestimmt sofort ins Kino, jedoch könnten sie dieses enttäuscht wieder verlassen. Zumindest dann, wenn man vom Film die exakte Romanwiederabe verlangt, was sowieso meist nicht eintrifft. Ansonsten findet man "seinen" Harry durchaus wieder. Selbst hatte auch ich mir etwas mehr versprochen. Die Filmkritik ist vernichtend, eine Reihe hochkarätiger Schauspieler reißt die Mittelmäßigkeit des Thrillers nicht raus. Trotzdem könnte man sich Michael Fassbender (Harry Hole) und Charlotte Gainsbourgh (Rakel) als erneutes Filmpaar vorstellen, mit einem anderen Regisseur, der nicht (nach eigenen Angaben) versucht, dem Film norwegische Attribute wie Geschäftsnamen oder die Beschriftung auf Polizeiautos zu entziehen um den Film mehr „Internationalität“ zu verleihen (wikipedia). Ansonsten ist der Thriller „skandinavisch ruhig“, was der beabsichtigten Spannung nichts nimmt.







Gespannt dürfen wir sein, denn die Filmrechte für Der Sohn und die neue Reihe Blood on the Snow sind bereits verkauft.


Die Harry Hole Reihe (siehe wikipedia):

1997: Der Fledermausmann (norw.:Flaggermusmannen)
1998: Kakerlaken (norw.: Kakerlakkene)
2000: Rotkehlchen (notw.: Rødstrupe)
2002: Die Fährte )norw.: Sorgenfri)
2003: Das fünfte Zeichen (norw.: Marekors)
2005: Der Erlöser  (norw.: Frelseren)
2007: Schneemann (norw.: Snømannen)
2009: Leopard (norw.: Panserhjerte)
2011: Die Larve (norw.: Gjenferd)
2017: Durst (norw.: Tørst)

Jo Nesbø auf Litterae-Artesque:

Der Fledermausmann (AP)
Leopard (UR)
Die Larve (UR)
Koma (AP) Notiz (UR)
Der Sohn (AP) Notiz (UR)
Blood on Snow - Der Auftrag (UR)

Jo Nesbø in der wikipedia
DNB / Ullstein / Berlin 2009 / ISBN: 978-3-548-28123-0 / 499 S.

© KaratekaDD

Bilder:

  • Abb 1: wikipedia CC-BY-SA 4.0 File:Michael Fassbender by Gage Skidmore 2015.jpg Erstellt: 11. Juli 2015
  • Abb 2: wikipedia CC BY 2.0 File:Charlotte Gainsbourg (2010) 2.jpg Erstellt: 6. April 2011

Freitag, 27. Oktober 2017

Blogpost 106: TinSoldiers Bücherstapel (Nr. 01/2017)


Lieber Leser und "Follower" von Litterae-Artesque!

Auch das Jahr 2017 soll nicht vorüber gehen, ohne dass ich in meiner Rubrik "Bücherstapel" mindestens einen Blogpost veröffentliche, in dem ich wieder einige Bücher vorstelle, die ich zwar selbst noch nicht besitze oder (aus Zeitgründen) noch nicht lesen konnte, die ich aber trotzdem hier vorstellen möchte, weil ich sie für lesenswert halte.
Vielleicht kann ich Euch so die eine oder andere Anregung für hochwertige und genussvolle Lektüre geben, die Euch, vielleicht bei einer guten Tasse Tee, die kommenden langen Herbst- und Winterabende versüßen könnte!



Sachbuch



Andrea Wulf :
Alexander von Humboldt
und die Erfindung der Natur
Ausgabe der Büchergilde
Gutenberg
Ein tolles, ein vielversprechendes Buch über den weltbekannten Naturforscher und Wissenschaftsautor Alexander von Humboldt.
Nicht einfach "nur" eine Biografie, beschreibt dieses Buch das Lebenswerk und das vielfältige Wirken dieses genialen Naturwissenschaftlers, der die Großen seiner Zeit beeindruckte und beeinflusste:
Thomas Jefferson war sein Freund, Charles Darwin und Simon Bolivar ließen sich von ihm inspirieren.


Nach ihm wurden der Humboldtstrom, das Mare Humboldtianum auf dem Mond, zahlreiche Tiergattungen, z.B. der Humboldt-Pinguin, Gletscher, Berge u.a. mehr benannt und jeder von uns kennt die Humboldt-Universität in Berlin, deren Gründer (gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm) er war.

Alexander von Humboldt war der Erste, der den vom Menschen gemachten Klimawandel beschrieb und vor seinen Folgen warnte!

Ein Buch über den größten deutschen Naturwissenschaftler seiner Zeit, der wie kein anderer unsere Weltsicht bis in die Gegenwart beeinflusst hat.
Meine Meinung: Allein deswegen schon lesenswert!


Originalausgabe:
München : C. Bertelsmann Verlag
Erscheinungsdatum: 2016
ISBN: 978-3-641-19550-2
DNB


Ian Kershaw: Höllensturz
Europa 1914 - 1949
Ausgabe der Büchergilde
Gutenberg
Ian Kershaw ist einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart. Mit seinem Buch Höllensturz - Europa 1914 - 1949 hat er einen vielbeachteten Bestseller geschrieben.
In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts stand Europa zweimal an der Schwelle der Selbstzerstörung:

"In diesem Glanzstück der modernen Geschichtsschreibung durchbrechen immer wieder individuelle Erfahrungen und Erlebnisse Einzelner die Schilderungen der großen Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Kershaw, einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, schildert eindrucksvoll, wie es zum Ersten Weltkrieg kam. Und wie unter den Vorzeichen des Kalten Krieges die Weichen Europas neu gestellt wurden". 
(Büchergilde Gutenberg)

Dieses Buch empfehle ich allen, die sich mit neuerer Geschichte auseinandersetzen wollen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, warum die Vergangenheit nicht einfach "nur" Geschichte ist, die uns gar nichts mehr anginge:


Die Vergangenheit betrifft uns alle, wenn wir nämlich die Gegenwart verstehen wollen.
Die Vergangenheit ist die Ursache, weshalb die Gegenwart so ist, wie sie ist!

Und ganz nebenbei machen wir die Erfahrung, dass solche Bücher nicht trocken sondern ungemein spannend sein können.
Klare Empfehlung von mir (ich besitze es schon und es liegt in meinem SuB ganz obenauf!)


Originalausgabe:
München : Deutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsdatum: 2016
ISBN: 978-3-641-18872-6
DNB

Belletristik
Kalteiche
ist ein Kriminalroman, der von einem 
echten Polizisten geschrieben wurde

Kalteiche
Kriminalroman von Ulrich Hefner

Originalausgabe erschienen 2017 bei Leda.
Folge 7 der Martin-Trevisan-Serie.



Der Autor ist Polizeibeamter und kennt also die Materie, von der er als Krimi-Autor schreibt.
Ich erwarte hier also keine Staatsanwälte, die der Kripo arrogant in den Ermittlungen rumpfuschen oder den herrischen Befehl "Abführen", vom Herrn Kriminalhauptkommissar an die Kollegen in Uniform gerichtet. 
Die inhaltliche Kurzangabe zu diesem Roman hat mich sofort neugierig gemacht, denn ich mag Kriminalromane, die im Norden Deutschlands oder Europas spielen.
Dieser handelt von einer grausamen Mordserie, die mit dem Massaker an einer ganzen Familie in Wilhelmshaven beginnt. Die Ermittlungen führen schließlich nach Norderney.  
Hauptkommissar Trevisan übernimmt hier seinen siebenten Fall. 
Hier also einmal eine erfrischende Alternative zum sonst üblichen Krimi- und Thriller-Allerlei und mit Handlungsorten, die man aus dem Urlaub kennt; ich liebe das!



Ulrich K. Hefner, Jahrgang 1961, ist Polizeibeamter, Journalist und Krimiautor. Ulrich Hefner ist Mitglied bei den Polizei-Poeten, beim Syndikat, in der Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren und beim Deutschen Presse Verband. Wikipedia





Kalteiche
Kriminalroman
Broschur, 336 Seiten
erschienen 2017 im Verlag Leda
ISBN: 978-3-86412-203-3
Preis: EUR 11.00
auch als e-book erhältlich
DNB




Meine nächste Buchvorstellung ist nun mal wieder etwas ganz anderes!


Tyll
heißt der neue Roman von Daniel Kehlmann, der uns ein großes Leseerlebnis verspricht. Kehlmann, der uns u.a. als Autor des Buches "Die Vermessung der Welt" noch in guter Erinnerung ist, gestaltet seinen Tyll in Anlehnung an die sagenhafte Figur des Till Eulenspiegel, der angeblich als umherstreifender Schalk im 14. Jahrhundert lebte.
Der "Tyll Ulenspiegel" des David Kehlmann ist nun nicht unbedingt ein geborener Schalk, aber umständehalber ebenfalls gezwungen, während des dreißigjährigen Krieges zu aus dem Elternhaus zu fliehen, um religiöser Verfolgung zu entgehen. So gerät er in die Wirren des 30-jährigen Krieges. Dies erinnert uns nun wiederum sehr stark an den

"Tyll Ulenspiegel – Vagant, Schausteller und Provokateur – wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Müllerssohn in einem kleinen Dorf geboren. Sein Vater, ein Magier und Welterforscher, gerät schon bald mit der Kirche in Konflikt. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das von den Religionskriegen verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: dem jungen Gelehrten und Schriftsteller Martin von Wolkenstein, der für sein Leben gern den Krieg kennenlernen möchte, dem melancholischen Henker Tilman und Pirmin, dem Jongleur, dem sprechenden Esel Origenes, dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, deren Ungeschick den Krieg einst ausgelöst hat, dem Arzt Paul Fleming, der den absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben, und nicht zuletzt dem fanatischen Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat. Ihre Schicksale verbinden sich zu einem Zeitgewebe, zum Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Und um wen sollte es sich entfalten, wenn nicht um Tyll, jenen rätselhaften Gaukler, der eines Tages beschlossen hat, niemals zu sterben"
(Amazon).

Diese kurze Inhaltsangabe aus dem 480 Seiten umfassenden opulenten Werkes ist aber nur eine kurze Zusammenfassung der Geschichte.
Das Buch ist mehr, viel mehr:
Historischer Roman, teils grausame Schilderung der Verrücktheit dieses epischen europaweiten Krieges, den wir den 30-jährigen Krieg nennen, und der seinen Anfang mit einer Provinzposse nahm: Dem Prager Fenstersturz.
Um so erstaunlicher, dass es Kehlmann gelingt, seinen Roman noch mit einer guten Prise Humor zu würzen (man denke nur an den in der obigen kurzen Zusammenfassung erwähnten "melancholischen Henker", den "sprechenden Esel" und an den Arzt, der den "absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben"!

Meiner Meinung nach eine der besten Neuerscheinungen des Jahres.
Ich werde mir das Buch auf alle Fälle kaufen.
Eine klare Empfehlung also von mir!

Daniel Kehlmann
Tyll 
fester Einband
erschienen bei Rowohlt
Erscheinungstermin: Oktober 2017
978-3-498-03567-9 
EUR 22.95

(auch als Hörbuch, z.B.
bei Amazon, erhältlich)



Kinderbuch


Manolito
Text und Illustrationen von
Friedrich Hechelmann.

Ein fantastischer Märchenroman

Manolito, der "Winzling mit einer Elfenseele" öffnet dem Wissenschaftler  Knuth Rabenhorst die Augen über die vom Menschen gemachten Katastrophen, vor denen die Tiere auf den Nachbarkontinent Aronia geflohen sind. Manolito macht sich auf die abenteuerliche Reise nach Aronia, um den Tieren zu helfen.
Mit von der Partie sind:
Fledermaus Philomena, Hedwig die Maus, die Krähe Kasimir und die Hummelkönigin Klara.

Ein modernes Märchen über den Zustand unserer Welt, wunderschön illustriert.


Manolito : ein fantastischer Märchen-Roman / Friedrich Hechelmann

Ab 10 Jahren
19.5 x 23.0 cm, gebunden mit SU, 176 Seiten mit
10 schwarz-weiß-Abbildungen und 30 farbigen Abbildungen
Erscheinungsdatum: 2017
erschienen im Knesebeck-Verlag, München
ISBN 978-3-95728-060-2
Preis: 29,95 Euro



Samstag, 21. Oktober 2017

Aus meinem Zeichenblo(g)ck: Portraitzeichnung eines Models... von der Lust und dem Frust beim Zeichnen

Beim Malen und Zeichnen... 

macht man als Amateur immer wieder die gleiche Erfahrung (wie in vielen anderen Bereichen des Lebens auch):

Man versucht immer wieder, ein wirklich 100 - prozentig optimales Ergebnis zu erzielen, nur um dann (oft etwas frustriert) festzustellen, dass es wieder einmal "nur" gelang, sich dem Ideal lediglich anzunähern.
Immer ist es das nächste Bild, das optimal werden soll - und dann macht man wieder Fehler, wenn auch vielleicht andere, als beim letzten Mal.

Als Autodidakt stößt man irgendwann sowieso an seine Grenzen, wenn man sich nicht professionelle Hilfe holt: 
Also habe ich mir kürzlich spontan überlegt, einmal an einem Kurs für´s Portraitzeichnen an der Volkshochschule teilzunehmen:


VHS Workshop zum Thema Portraitzeichnen:
Jeder Teilnehmer hat seine individuelle Technik


Ausarbeitung einer Portraitzeichnung....



...in diesem Fall mit Pastellkreiden




Hier entsteht eine Portraitzeichnung nach einer Fotovorlage mit 
Graphit (Bleistift) auf Papier.
Sorgfältiges und genaues Arbeiten ist hier notwendig!


Nun treffen sich in den nächsten Wochen einige Hobbykünstler immer Freitags zum Workshop, wie man das heute auf "Neudeutsch" nennt.
In der Gruppe zeichnen wir hier unter behutsamer fachkundiger Anleitung, um unsere zeichnerischen Fähigkeiten zu verbessern. Sowohl das Niveau als auch die individuellen Ansätze sind dabei offensichtlich unterschiedlich. Die Freude am Hobby Zeichnen aber ist offenkundig allen gemein!

Ich habe sehr schnell festgestellt, dass es sich lohnt, den anderen Kursteilnehmern zwischendurch über die Schultern zu schauen um zu sehen, wie sie sich einer zeichnerischen Aufgabe nähern und wie sie bestimmte Dinge umsetzen.
Jeder macht es offenbar anders. Anders halt, aber nicht unbedingt besser oder schlechter als man selbst.

Die erste Lektion, die ich hier lernte, war  für mich eine etwas frustrierende Erfahrung:
Es ist etwas völlig anderes, ein lebendes Modell zu portraitieren, als von einer Fotovorlage!
Ich bin es gewohnt, nach Fotovorlagen zu zeichnen und mir dafür verhältnismäßig viel Zeit zu nehmen. 
Eine Person in 10 - 20 Minuten nach dem Leben zu zeichnen, ist (jedenfalls für mich) eine andere Hausnummer!

Die nächste Aufgabe kam mir deshalb besser gelegen: 
Wir zeichneten nach Fotovorlagen.
Ich wählte für mich ein sog. "high Key" Foto aus einem Modemagazin, weil ich das Gesicht des Models interessant finde. Erste Entwürfe fertigte ich noch im Kurs, die eigentliche Zeichnung entstand dann weitgehend zu Hause:

Vorlage und zeichnerische Umsetzung

Bleistift und Kohle auf Papier waren wieder die Zeichenmedien meiner Wahl.
Das halb fertige Ergebnis präsentierte ich dann in der nächsten Sitzung.
Auch hier wieder eine völlig neue Erfahrung:
Die Urteile aus der Runde über mein "Werk" deckten die gesamte Bandbreite menschlicher Begeisterung ab! :-)
Der Kommentar:
"Ui, die schaut aber aus, als wäre sie ziemlich angepisst"!
deckte das eine Ende der Skala ab, ein ausführliches "Wow!" das andere.

Die Frisur macht viel aus.
Man beachte das Ohr: Dieses menschliche
Körperteil originalgetreu zu zeichnen
ist nicht so leicht, wie es aussehen mag!

Dazwischen aber fanden sich zahlreiche Hinweise auf kleine Fehler in meiner Zeichnung, die mir helfen werden, mich zu verbessern.
Hier nun das fertige Ergebnis meiner Bemühungen. Meine eigene Erwartung konnte ich mal wieder nicht erfüllen.
Aber ich bin dem Ziel ein Stückchen näher gekommen!

Das fertige Bild
Graphit und Kohle auf Papier
50x70 cm
Copyright: TinSoldier (Rudolf Fröhlich)




Freitag, 20. Oktober 2017

Salzmann, Sasha Marianna: Außer sich


Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.

Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

(Klappentext Suhrkamp Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 366 Seiten
  • Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 2 (11. September 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3518427628
  • ISBN-13: 978-3518427620











SCHERBENLEBEN...




 Ich habe diesen Roman, der mit fünf weiteren Büchern auf der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, nun vor einigen Tagen beendet und ganz gegen meine Gewohnheit nicht sofort eine Rezension verfasst. Der Klappentext lässt nicht einmal ansatzweise erahnen, worum es in diesem Buch überhaupt geht. Gerade das aber lässt sich hier auch schlecht auf den Punkt bringen.

Eine autobiografische Fiktion sei ihr Roman, verrät
Sasha Marianna Salzmann zu ihrem Debüt. Es geht hier um vieles, wobei die Suche Alis nach ihrem Zwillingsbruder Anton tatsächlich den kleinsten Raum einnimmt. Es geht um Geschwisterliebe, Geschlechterumwandlung als radikale Selbstbestimmung, um sowjetische Familiengeschichten, Migration in jeder Hinsicht.


"Die ganze Zeit hat sie so Zeug vor sich hin gesprochen, sie hätte uns nicht hierherbringen sollen, alles selbstverschuldet, das habe sie jetzt davon. Dann sagte sie, Migration tötet, es klang wie eine Warnung auf einer Zigarettenschachtel: Migration fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu." (S. 297)


Die Autorin selbst ist in Moskau aufgewachsen, mit zehn Jahren dann mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen als jüdischer Kontingentflüchting. Auch hat
Sasha Marianna Salzmann länger in Istanbul gelebt, wo mit Hilfe eines Stipendiums dieser Roman entstand. Die Eckdaten ihrer Biografie spiegeln sich in dem Hauptcharakter Ali. Insofern war beim Lesen stets die Frage präsent, wie viel von der Autorin sonst noch in Ali und ihre Geschichte eingeflossen ist. Istanbul beispielsweise nennt Sasha Marianna Salzmann selbst einen 'Sehnsuchtsort', "...weil ich in Istanbul in mir war, nicht außer mir, das passiert mir sehr selten."


"Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie wirklich ihren Bruder oder wollte sie einfach nur verschwinden. Sie zitterte." (S. 123)

Ali wirkt wie getrieben. Sie ist auf der Suche. Doch weniger tatsächlich nach ihrem Zwillingsbruder, wie der Leser bald bemerkt. Vielmehr nach - ja, nach was? Vielleicht am ehesten nach sich selbst, nach ihrem Platz in der Welt, nach ihren Wurzeln. Ali ist immerzu unterwegs, nirgends wirklich zu Hause, nichts steht fest, selbst und gerade das Ich scheint zu bröckeln. Istanbul ist schließlich die Stadt, in der Ali erstmals einen Ort erfährt, der sich annähernd wie Zuhause anfühlt. Aber auch dort treibt eine innere Unruhe sie immer weiter, an immer neue Orte.


"Ich bin nicht wie du, ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt." (S. 118)


Doch Ali sucht nicht nur im Hier und Jetzt. Sie sammelt auch Bruchstücke der Vergangenheit auf. Ausführlich schildert die Autorin hier die Geschichten der vorherigen Generationen, die alle die Themen Migration, Verlust von Lebensträumen, Zugehörigkeit, Alkohol, Gewalt und grenzenlose innere Einsamkeit vereinen. Aufbrüche, Umzüge, Zerwürfnisse zwischen Moskau, Berlin und Istanbul, Haltlosigkeit und Bodenlosigkeit prägen die Biografien, brüchige Wurzeln. Ali betrachtet diese Scherben, kann sie jedoch nicht zu einem Ganzen fügen, aus dem losen Flickenteppich der Erinnerungen entsteht keine Wahrheit.


"Sie sprach in mehreren Sprachen gleichzeitig, mischte sie je nach Farbe und Geschmack der Erinnerung zu Sätzen zusammen, die etwas anderes erzählten als ihren Inhalt, es klang, als wäre ihre Sprache ein amorphes Gemisch aus all dem, was sie war und was niemals nur in einer Version der Geschichte, in einer Sprache Platz gefunden hätte." (S. 258)


Die Gestaltung des Romans entspricht der Getriebenheit Alis. Hier wird alles andere als linear erzählt, und jeder Figur lässt die Autorin dieselbe Sorgfalt zukommen, so dass Alis Suche oftmals aus dem Fokus gerät. Der Ausgestaltung der Szenen ist die Nähe Salzmanns zum Theater anzumerken; sie sind geprägt durch eine dramaturgische Kraft sowie durch einen ungeheuren Reichtum der Bilder. Eine kraftvolle Sprache, getragen von Bildern und Dialogen, zieht sich durch den Roman.


"Mustafa schaute sie an. Er hatte sehr müde Augen, eine sehr müde Haut, sie bildete tränenförmige Ausstülpungen, die langsam von den Wangenknochen nach unten zogen, in Zeitlupe tropfte seine Haut von seinem Gesicht. Große, runde Sogpupillen, die ohne jeden Ausdruck auf Ali ruhten." (S . 32)


All dies zählt durchaus zu den positiven Seiten des Buches, und es ist für mich nachvollziehbar, dass dieser Debüt-Roman auf der Shorlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Der Roman beschäftigt den Leser auch über die eigentliche Lektüre hinaus, was ich ebenfalls zu den Stärken zählen würde. Aber - und hier kommt ein großes Aber - da ist noch der Punkt, wie es mir persönlich beim Lesen erging.
Für mich war diese Lektüre ein großer, persönlicher Kampf. Seite um Seite musste ich diesem Roman abringen, nach ein paar Abschnitten hatte ich dann wieder genug und legte das Buch wieder weg. Selten habe ich mich einmal so schwer getan mit einem Roman. Das lag zum einen an den sperrigen Charakteren, die einfach keine Nähe zuließen, zum anderen aber eben auch an der Sprunghaftigkeit der Erzählung, an dem Nicht-Linearen, der Düsternis, der sich durchziehenden Melancholie. Ich hatte immer das Gefühl, Menschen beim Vor-Sich-Hin-Vegetieren zuzuschauen - hinter jeder Kulisse kam Abfall, Niederträchtigkeit und Einsamkeit zum Vorschein.


"Ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich nicht schwanger geworden wäre. Ich hätte ihn verlassen gleich nach dem ersten Streit, gleich nach dem ersten Schlag, als ich sein aufgedunsenes, rotes Gesicht zum ersten Mal sah. Versteh mich nicht falsch, ich bereue es nicht, das heißt, ich bereue es nicht, euch gekriegt zu haben, aber Kinder muss man schnell kriegen, bevor man Zeit hat, sich kennenzulernen und dann enttäuscht zu sein, sonst würde niemand Kinder kriegen... (S. 258)


Auch wenn zu spüren ist, mit wieviel Engagement und Herzblut die Autorin ihr Erstlingswerk geschrieben hat, wie viel Persönliches auch wohl dort eingeflossen ist, kann ich  in der Summe einfach nicht mehr Sterne vergeben, was mir sehr leid tut. Aber neben der Faszination hinsichtlich der Gestaltung des Romans, seiner Bildhaftigkeit und der existentiellen Fragen, die hier gestellt werden, gibt es eben das persönliche Gefühl eines Zuviels und einer phasenweise Unerträglichkeit. Niemand bedauert das mehr als ich.

Dennoch fand ich es spannend, diesen Roman im Rahmen einer Leserunde zu lesen und dabei zu erkennen, wie unterschiedlich er aufgenommen wurde. In jedem Fall war die Lektüre eine bereichernde Erfahrung.

© Parden 


















Der Suhrkamp Verlag schreibt über die Autorin:

Sasha Marianna Salzmann studierte Literatur/Theater/Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Ihre Theaterstücke werden international aufgeführt und sind mehrfach ausgezeichnet. Außer sich ist ihr Debütroman.

übernommen vom Suhrkamp Verlag

Sonntag, 15. Oktober 2017

Hansen, Dörte: Altes Land


Mit ihrem ersten Roman Altes Land gelang es der norddeutschen Autorin Dörte Hansen auf Anhieb, sich in die Herzen ihrer Leser zu schreiben. 
Das Buch geriet auf Anhieb zum Bestseller, und dies ganz zu recht, wie ich meine. 
Zugegeben: Das Buch stand ziemlich lange, einige Monate nämlich, in meinem Bücherregal und wartete zwischen etlichen anderen Neuerwerbungen darauf, endlich gelesen zu werden.
Manche Dinge brauchen eben Zeit.
Und manche Bücher muss man lesen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, nämlich wenn man sowohl die Zeit und Muße als auch die innere Aufgeräumtheit dafür hat.
Jedenfalls ist das bei mir so.

Dann hole ich meine  noch ungelesenen Bücher (oder zumindest einen Teil davon) aus dem Regal und lege sie vor mich hin auf den Tisch, blättere mal in diesem, mal in jenem und lese ein paar Zeilen, wie sie mir beim zufälligen Aufschlagen der Seiten in die Augen springen.
Dieses Ritual vor dem Beginn einer neuen Lektüre ist mir wichtig und weckte in mir die Lust darauf, gerade dieses Buch genau jetzt lesen zu wollen:
Altes Land.
Der Titel lässt mich eine alte deutsche Kulturlandschaft, an Obstbäume mit Steinobst, an alte, duftende Apfelsorten und dergleichen denken. 
Dörte Hansen beschreibt die Landschaft, aber mehr noch die Menschen auf eine Art und Weise, die mich sofort, von der ersten Seite an, in ihren Bann gezogen hat:





"In manchen Nächten, wenn der Sturm von Westen kam, stöhnte das Haus wie ein Schiff, das in schwerer See hin- und hergeworfen wurde. 
 Kreischend verbissen  sich die Böen in den alten 
 Mauern.
 So klingen Hexen, wenn sie brennen, dachte Vera,  
 oder Kinder, wenn sie sich die Finger klemmen".

Dies sind die ersten sechs Zeilen des Buches.
Und sind sie nicht schön?

Dörte Hansen gelingt etwas, was nur wenige Autoren schaffen:
Sie bezaubert mit ihrer Sprache und mit ihrem schnörkellosen, oft mit typisch norddeutsch - trockenem Humor gewürzten Schreibstil, der gleichzeitig so großartige Sätze hervorbringt wie die oben zitierten Zeilen. 

Die unterschiedlichen Charaktere und deren Schicksale beschreibt die Autorin mit Herz und frei von Sentimentalitäten, aber immer mit treffender Sprache und so originell, dass man gar nicht aufhören möchte zu lesen. Mal mit spöttischem Humor, mal mit beißenden Spott, aber immer mit innerer Anteilnahme, springt sie jeweils von diesem zu jenem Charakter, erzählt uns deren Geschichten, die alle miteinander verwoben sind. 
Sie charakterisiert dabei zutreffend und erweist sich als scharfe Beobachterin: Manchen ihrer Typen hat man, der Gedanke kommt einem zwangsläufig, doch auch schon mal "in Echt" getroffen, oder nicht?! 


Dabei ist die Geschichte eigentlich eher tragisch als lustig: 

Seit mehr als sechzig Jahren lebt Vera Eckhoff im Alten Land, ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen, das niemals richtig angekommen ist. Bis eines Tages wieder zwei Flüchtende vor der Tür stehen: Veras Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon … Das Überraschungsdebüt des Frühjahrs!
Altes Land erzählt in einer knorrigen Atmosphäre und mit trockenem Humor vom Kampf zweier Frauen mit ihrer Vergangenheit, die drei Generationen hat erstarren lassen. Von einer Romantisierung des Landlebens keine Spur. Und als Vera und Anne beginnen, das Haus wieder in Stand zu setzen, entwickeln die unangepassten Frauen eine neue Kraft, die alles in Bewegung bringt.... (Büchergilde Gutenberg)


Die Autorin:

Dörte Hansen wuchs in Högel im Amt Mittleres Nordfriesland auf, gesprochen wurde zuhause plattdeutsch. Ihre „erste Fremdsprache“ Hochdeutsch lernte sie in der Grundschule.
Nach dem Abitur 1984 studierte sie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Linguistik, Anglistik, Romanistik und Frisistik. 1994 wurde Hansen an der Universität Hamburg mit einer soziolinguistischen Arbeit über eine besondere Form der Zweisprachigkeit promoviert.
Dörte Hansen-Jaax lebte seit 2005 mit ihrer Familie in Steinkirchen (Altes Land)und seit 2016 wieder in Husum.

Nach einem Praktikum beim Magazin Merian arbeitete sie bis 2008 als Journalistin für mehrere Hörfunksender (NDR, WDR, SWR, hr, DLF) und verschiedene Zeitschriften, bis 2012 dann als festangestellte Kulturredakteurin bei NDR Info. Seither ist sie als freie Autorin tätig.

In ihrem ersten Roman Altes Land (2015) verarbeitete Dörte Hansen kritisch das Thema Heimat: Viele Stadtmenschen entdeckten für sich das Land als Sehnsuchtsort Heimat und zögen aufs Dorf. Sie unterlägen dabei ihrer Ansicht nach jedoch einem Irrtum, denn sie spielten nur Landleben, machten „Bauerntheater“. Diese Thematik verknüpft sie mit dem Schicksal der weiblichen Hauptfigur als heimatloser Nachkriegsflüchtling aus Ostpreußen im Alten Land. Das Buch wurde ein Bestseller und von den meisten Kritikern gelobt.

(Quelle: Wikipdia)


Dörte Hansen: Altes Land
Roman
Schutzumschlag, Lesebändchen,
Leinen, Umschlaggestaltung Franziska Neubert,
288 Seiten.

Erschienen als Lizenzausgabe bei Büchergilde Gutenberg
Preis für Mitglieder 17,95 €
Originalverlagspreis 19,99 €

DNB

Eine Rezension von TinSoldier