Montag, 30. Oktober 2017

Goldammer, Frank: Tausend Teufel


Dresden 1947. 

Ein klirrend kalter Nachkriegswinter. 
Grausame Morde in einer besetzten Stadt.

Max Heller wird weiterhin gebraucht. Der Soldat des 1. Weltkrieges und danach Polizist, ist auch heute noch dabei: Bei der Volkspolizei. Im Jahr 1945 suchte er den Angstmann und verschaffte sich dabei Respekt bei denen, die in der sowjetischen Besatzungszone das Sagen hatten: den Chefs der Roten Armee und auch dem NKWD – (Народный комиссариат внутренних дел dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (aus dem wurde 1954 der KGB gebildet).

Im Jahr 1947 sind das General Medvedev und Oberst Ovtscharov.

Zwischen Hunger und Kälte, wartend auf Sohn Klaus, der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft demnächst heimkehren soll, ermittelt Max zum Tod bisher zweier sowjetischer Offiziere. Eine Leiche findet man auf der Bautzener Straße, schnellstens abtransportiert durch die Rote Armee. Was die Soldaten nicht mit nehmen, ist ein Rucksack. In diesem findet die Polizei den Kopf eines Kriegsverbrechers...



Informationen wollen sie haben, diese Russen, rausrücken mit solchen wollen sie nicht. Nicht damit, was es mit der Kneipe eines gewissen Gutmann in der Neustadt auf sich hat, die fast abbrennt und dann die Leiche eines jungen Mädchens offenbart: Prostitution, geduldet von den Sowjets und nicht nur das...
Doch wiederum verschafft sich Max Respekt. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Nicht von Ovtscharov und auch nicht vor Seidel, dem Staatsanwalt, der schon vor Mai 1945 aktiver Jurist war und nun in der Partei – einer anderen als damals. Ein Schritt, den Max nicht gehen will, so oft ihm auch dazu geraten wird.
Und dann trifft Max auf Fanny und deren Baby. Und die Kinder im „Camp“ in der Dresdner Heide. Kennt das Mädchen Gutmann und die sowjetischen Offiziere?

Wer greift da die Verwaltung oder Gutmanns Kneipe mit Waffen und Handgranaten an? Der Gedanke des sogenannten „Werwolfes“, einer noch von Reichsführer SS Himmler vor Ende des Krieges gebildete Untergrundorganisation, kommt öfter im Buch vor. Die Angriffe auf Einrichtungen der Verwaltung oder Gutmanns Kneipe, in der die Russen verkehren, lassen den Gedanken ja auch zu. Verschiedene Jugendliche, entwurzelt und dem Glauben an den Nationalsozialismus noch verhaftet, spiegeln den Gedanken wieder.
Dann begibt sich Heller in die Dresdner Heide, auf der Suche nach dieser Fanny.

Plötzlich steht so einer vor ihm: „Vor im stand ein großer Bursche von vielleicht sechszehn Jahren. Er hatte eine abgewetzte Wehrmachtsuniform an, die an Armen und Beinen mit Watte ausgestopft war. Er trug einen Helm der Wehrmacht und hatte sogar Stiefel von Heer. Auch er war mit einer deutschen Maschinenpistole bewaffnet. An seiner Unterlippe blühte ein kleines Ekzem und einer der unteren Schneidezähne fehlte ihm. Auf seiner Brust erkannte Heller mehrere Auszeichnungen. Ein Eisernes Kreuz und zwei russische Orden. An seinem Koppel hing ein schweres Messer, und auf seinem Rücken, stellte Heller mit Erstaunen fest, trug er einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen... ‚Die Hände tun oben blei´m!‘ ermahnte das bewaffnete Kind hinter ihm.“ ( Seite 198/199)




Frank Goldammer malt wieder Bilder mit Worten. War es im Angstmann die Schilderung der Feuernacht des 13. Februar 1945, deren Trauma sein Romanheld Max weiter mit sich herum schleppt, so ist es hier die schneidende Kälte, die den dauernden Hunger in einer weit zerstörten Stadt begleitet und dann die Beschreibung der verwahrlosten Kindern in der Heide. Dreijährige, Vierjährige, Zwölfjährige, 16jährige: zerlumpt, krank, frierend und bewaffnet. Doch zunächst steht er vor dieser Fanny mit dem Säugling:


„Fanny hob die Schultern, nahm den Säugling von der Brust und wollte ihn in einen schmutzigen alten Kinderwagen legen, der keine Räder mehr hatte.
»Nein, warte«, schaltete sich Heller ein. »Leg ihn dir an die Schulter, so, und dann klopfst du ihm sachte den Rücken, bis er ein Bäuerchen macht. Verstehst du mich? Bis er rülpst.« Er half ihr dabei und führte ihr vor, wie sie klopfen musste. Als der Säugling leise aufstieß, kicherte sie kindlich und die anderen Kinder kicherten mit.
»Wenn er kein Bäuerchen macht, bekommt er Bauchweh, oder er kann im Schlaf erbrechen und daran ersticken.«
Fanny sah ihn einen Augenblick nachdenklich an. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Sie mein', wenn der kotzt.« (Seite 204)


In dieser Szene offenbart sich der Charakter des Volkspolizei-Oberkommissars und Vaters zweier Söhne. Ein Krieg als Soldat und die Tätigkeit als Polizist in den 12 Jahren des tausendjährigen Reiches haben ihm den Sinn für ein Leben für Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft nicht nehmen können.


Quelle: Webseite Dresdner Heide
„...Heller nickte zustimmend. Dann stand er auf und ging in Richtung der Behausungen Ein Pulk von Kindern folgte ihm. Die Kleinen sahen zu ihm auf, betrachteten ihn mit ängstlicher Neugier und einer gewissen Bewunderung. Wenn er sich hinhockte, um in die Zelte zu sehen, taten sie es ihm nach. Besonders die Kleinsten drängten sich an ihn und beobachteten jede seiner Bewegung. Ihr penetranter Gestank ließ ihm die Tränen in die Augen schießen. Wahrscheinlich hatten sie sich seit den letzten warmen Herbsttagen nicht mehr gewaschen, geschweige denn, dass sie aus ihrer Kleidung gekommen waren. Auf ihren Köpfen wimmelte es nur so von Läusen, manchmal liefen sie ihnen quer übers Gesicht. Alle Kinder hatten irgendeine Art von Hautausschlag und juckten und kratzten sich unablässig. Ein kleines Mädchen stand abseits und hielt einen kleinen Ast im Arm, der, mit etwas Stoff umwickelt, nun seine Puppe war.
Auch in den Zelten stank es erbärmlich. Schmutzige Decken und Kissen bedeckten den Boden, Konservendosen stapelten sich, alte Puppen und kaputte Spielzeugautos lagen neben allerlei Diebesgut, Draht, Batterien und Pappen. 
In alten Töpfen und anderen Behältern fand Heller Kastanien Eicheln und Bucheckern, in einer Holzkiste gefrorene oder getrocknete Eidechsen. In einem anderen Zelt lagen zwei Kinder völlig reglos und offensichtlich schwer krank unter ihren Decken. Heller tastete nach ihren Köpfen, sie waren glühend heiß. Ein Mädchen kühlte sie mit einem Lumpen, den sie mit kaltem Bachwasser tränkte. In dem aus dem Hang ausgegrabenen Unterstand, beinahe schon eine Höhle, entdeckte Heller Munitionskisten mit deutschen Karabinern, russischen Gewehren und auch Handgranaten deutscher und russischer Bauart. Vor den Unterkünften brannten mehrere kleine Feuer. An primitiven Gestellen hingen schwarze Töpfe. Heller nahm einen großen Löffel und rührte in einem herum. Es war anscheinend eine Suppe. Kleine Fetzen von weißem Fleisch und ein wenig Grün schwammen darin herum. Vorsichtig roch er daran. Das Essgeschirr bestand aus einzelnen Tellern, ein paar aufgesägten Stahlhelmen und alten Blechbüchsen. An einem schmalen Wasserlauf verrichteten die Kinder ihre Notdurft....“ (Seite 204 – 206)

Mit Fanny unterhält er sich darüber und sie berichtet über ihren Freund Jörg, der denkt, er sei der Vater des Säuglings sagen: »Der Jörg sagt, irgendwann tun die Deutschen wieder kämpfen und die Russen vertreiben. Er sagt, unsere Soldaten sind gar nicht besiegt. Die ruhen sich nur aus und tun neue Waffen bauen. Er sagt, unter der Erde, da baut der Adolf eine Geheimwaffe, die macht alle Russen mit einem Schlag tot. Er sagt, man muss sich immer wehren. Er sagt, wenn uns die Russen entdecken, schießen sie uns tot.« Seite 206 – 207)

Die Befürchtung ist nicht ungerechtfertigt, die Russen sind mit solchen Jugendlichen nicht zimperlich umgegangen, es gab Todesurteile, Gefängnis und viele wurden in sibirische Gefangenenlager verschleppt. Ovtscharov lässt später das Lager auch ausheben, nach der Suche nach Jugendlichen, die die Anschläge hätten verüben können. Heller kommt gerade noch rechtzeitig hinzu und legt sich wiederholt mit dem Oberst an.

Doch zunächst geht es erst einmal um das Mädchen mit dem Säugling ohne Namen:

»Fanny, hör mir bitte zu. Dein Junge ist krank. Er muss zu einem Arzt.«
»Der ist nicht krank. Der hat kein Fieber!«
Heller nahm Fanny beim Arm und schaute ihr fest in die Augen. »Sag, läuft es bei dir da unten aus, zwischen den Beinen?«
Fanny wandte sich mit angewidertem Blick von ihm weg.
»Läuft es, hast du Ausfluss da unten? Weiß und schleimig?«, hakte Heller nach.
»Manchmal vielleicht, ein bisschen. Aber das ist nicht schlimm, stimmt's?«
»Fanny, das nennt man Gonorrhoe. Tripper. Und dein Junge hat das in den Augen.« (Seite 209)



Abb 1: Dresden 1949


Max Heller kommt der Lösung des Falles immer näher. Er kämpft sich gleichsam durch die besonders in der Altstadt zerstörten Straßenzüge. Eines Abends quält er sich mit Karin, seiner Frau, die Bautzener Straße hinauf, sie haben eine Einladung erhalten ins Kulturhaus Bühlau. Ein Konzert. Hell erleuchtet strahlt das Haus, warm ist es und die Tische gedeckt als gebe es keinen Hunger, keine Marken. Dazwischen goldglänzende Uniformen und blank gewichste Stiefel. Redner lösen sich ab und dann das Konzert: Brahms. Ein Deutsches Requiem. Es spielt ein Arzt der Roten Armee, der Georgier Kasraschwili am Klavier, es singt ein Chor von Rotarmisten. Der Arzt ist der Dritte der „lebenden Russen“, der im Roman eine Rolle spielt und Max und Karin besuchten vor vielen Jahren mal ein Konzert seines berühmten Vaters. Es gibt harte Getränke und auch hier lassen Max die Ermittlungen nicht los, zumal der Georgier ebenfalls im Dunstkreis der Ermittlungen auftaucht.

Dass der Georgier dieses Stück auswählt, das Programm verändert, erscheint ein wenig seltsam, besonders wenn man in den Text hineinliest, hineinhört. Kaum vorstellbar, oder vielleicht gerade, dass diese gewaltige große Musik da im Kulturhaus Bühlau so einschlägt, aber für Karin und Max ist es irgendwie ein weiterer Neuanfang. So wie das Eintreffen von Klaus. Wieder ein Stück mehr Normalität. Das Requiem war bestimmt nicht die Musik, die sich die nun die Stadt an der Elbe Regierenden vorgestellt hatten. Mit Kasraschwili und Brahms zieht der Widerspruch der propagierten sozialistischen Gesellschaft am Leser vorbei: Der große Virtuose, der Vater, wurde ein Opfer der stalinschen Repressalien in der UdSSR.



Da Ende des Romans ist dann viel einfacher, als es sich der hier bloggende Leser vorgestellt hatte. Max und Karin und Klaus haben eine Zukunft. Doch wie sieht diese aus?

* * *

Frank Goldammer bleibt auch mit diesem Buch seiner Heimatstadt tief verbunden. Mir scheint, sein Stil ist tiefer, eindringlicher geworden. Plötzlich verlangsamt sich das Lesen, oder man blättert einfach mal zwei, drei Seiten zurück und liest noch einmal: langsamer, Wort für Wort. Dann erschließt sich das geschriebene „Bild“, breitet sich der Feuersturm im Zentrum Dresdens aus oder das Lager der verwahrlosten Kinder in bitterkalter Dresdner Heide.

Ist er nun ein Held, der Max Heller? Da spricht zwei Jahre nach Ende des wohl schrecklichsten Krieges ein ehemaliger Häftling eines Konzentrationslagers und zeigt sich entsetzt über die Menschen, die die Gräueltaten „nicht glauben wollen und es für Propaganda hielten.“

"Heller musste an Staatsanwalt Speidel denken, der behauptete, nie ein richtiger Nazi gewesen zu sein. Aber was war ein richtiger Nazi? War man erst ein Nazi, wenn man Juden denunziert hatte? Wenn man Hitler gewählt hatte? Wenn man mit der Hakenkreuzfahne demonstrieren gegangen war? Wenn man eine SA- oder SS-Uniform getragen hatte oder Parteimitglied gewesen war? Oder war man schon ein Nazi, wenn man all das nur geduldet hatte? Jeder behauptete mittlerweile von sich, kein richtiger Nazi gewesen zu sein, aber alle hatten sie das System mitgetragen. Sie alle waren die Grundfeste gewesen, auf der das Deutsche Reich aufgebaut worden war. Heller nahm sich selbst nicht aus. Auch er hatte seinen Dienst verrichtet. Und jetzt?
Was dachten wohl die Leute über die Nürnberger Prozesse, die minutiös im Radio übertragen worden waren. Niemand schien sich dafür zu interessieren. Alle hatten sie andere Sorgen, kämpften ums Überleben, brauchten Wohnungen, Kleidung, Essen, Kohle. Jeder blickte lieber nach vorn, in eine bessere Zukunft, als zurück in die grausame Vergangenheit.
»Schlaf nicht!«, ermahnte Karin ihn leise und stupste ihn unauffällig an. Heller zuckte zusammen und nickte automatisch. Er versuchte, seine Gedanken zu verdrängen." 
(Seite 305)




Goldammer verlegt aktuellste Gedanken zurück in eine Zeit, wo sie viel mehr hingehörten, möchte man meinen. Doch dieser Zeitsprung ist es, der den Roman sehr, sehr aktuell macht. Als ich geboren wurde, erhob sich Dresden gerade aus der Asche. Semperoper und Schloss waren als Ruine deutliches Zeichen noch nicht zu weit zurückliegender Zeit, die Ruine der Frauenkirche das Wahrzeichen derselben. Nun, da alle drei wieder im Glanz erstanden sind, kommt es mir umso seltsamer vor, dass Max Hellers Gedanken wieder gedacht werden müssen, ob der Aussagen von Politikern einer neuen Partei, die stolz sein wollen auf die Heldentaten deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.


Tausend Teufel – die haben viele Menschen gesehen in der Zeit von 33 – 45 und Jahre danach. Die „Russen“ sind es für die Kinder in der Heide, die „Deutschen“ sind es für den sowjetischen Offizier. Heller tritt gegen Tausend Teufel an, hoffen wir, dass er weiter erfolgreich bleibe.

Max Heller ist einer, auf den man stolz sein könnte. Nach diesem Krieg und im Nachkriegselend aufrecht und ehrlich zu arbeiten, kein Hehl aus seiner Meinung zu machen, durchdachten Widerspruch auch auszusprechen und zu versuchen, die Menschen zu verstehen, Mitleid als aktives Handeln zu zeigen, nicht nur an sich denkend, sondern Fanny und dem Baby den Weg ins Leben zu zeigen:

„Was waren Sie? Nazi? Sind Sie Kommunist?
Ich bin Max Heller!"
Aus "Der Angstmann"







► DNB / DTV / München 2017 / ISBN: 987-3-423-26170-8 / 365 Seiten
► Frank Goldammer im DTV
► Frank Goldammer - Autorenseite

* Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms - Playlist YouTube

* Abb 1: Bundesarchiv, Bild 183-U0823-022 / CC-BY-SA 3.0, wikipedia

© Bücherjunge (08.02.2020)

1 Kommentar:

  1. Hui, man kann gut merken, wenn Dich Bücher beeindrucken. Eine sehr schöne und aussagekräftige Buchbesprechung! ☺

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