
Der Sommer 1953 blieb den Menschen in Deutschland auf unterschiedliche Art und Weise in Erinnerung. Vor allem in der DDR, denn dieser Sommer hat ein historisches Datum aufzuweisen: der 17. Juni ist der Tag des Volksaufstandes. Im Land brodelt es, auch in Dresden gehen Arbeiter auf die Straße.
„Ja, er hatte sie gesehen. Die wütenden Männer. Beim Sachsenwerk. Karin arbeitete dort in der Buchhaltung. Zuerst Waren es ein paar Hundert gewesen, dann ein paar Tausend, dann waren sie zu den ABUS-Werken gezogen. Schließlich sollten es nach Schätzungen der Polizei zwanzig-, dreißigtausend gewesen sein, und auf ihrem Zug durch die Stadt hatten sich ihnen immer mehr angeschlossen. Es war friedlich geblieben, bis auf ein paar Handgreiflichkeiten.
Doch Karin wusste nicht alles. Er war erst spät in der Nacht heimgekommen, da hatte sie schon geschlafen.
»In Leipzig waren hunderttausend auf der Straße. Sie haben das Volkspolizeikreisamt und das Funkhaus angegriffen, FDJler verprügelt. Es hat Tote gegeben. In Halle und Magdeburg waren es an die fünfzigtausend. Es gab viele Tote, auch Polizisten hat es getroffen. In Berlin sowieso, es gab Straßenschlachten, angeblich sogar MG-Feuer.« Heller fuhr sich nervös durchs Haar. »Karin, das ist kein Jux, glaub mir. Hier blieb es nur ruhig, weil die Sowjets gleich mit Panzern und die KVP unter schwerer Bewaffnung ausgerückt sind. Und wir wissen noch nicht, ob es Tote gab. Überall wird zum Generalstreik aufgerufen.«
»Ich weiß doch, dass das kein Spaß ist, Max.« Karin verschränkte trotzig die Arme und lehnte sich an die Anrichte. Seine Worte hatten die Wirkung auf sie nicht verfehlt. Doch
Heller kannte seine Frau, so schnell gab sie sich nicht geschlagen.
»Wenn ich nicht zur Arbeit gehe, dann streike ich ja mit. Und Anni? Was denkt ihre Lehrerin?«
»Du weißt, das ist nicht dasselbe«, mahnte Heller. Noch immer hingen ihm die Bilder des Vortages nach. Diese Menschenmasse. Und so viel Hass und Wut, die entweichen wollten. Die Leute waren zu allem bereit.
Max Heller und Werner Oldenbusch bekommen erst einmal einen neuen Chef. Der berichtet von der Einrichtung eines Krisenstabes: „Vorerst sind sämtliche Genossen der Kriminalabteilung bis auf Weiteres der Leitung des Krisenstabes unterstellt. Unterkommissar Salbach wurde für unbestimmte Zeit abkommandiert. Diese Weisung kommt aus dem Präsidium. Für den heutigen Tag sind wieder Zusammenrottungen zu erwarten. Unsere erste Aufgabe ist es, dieses zu unterbinden. Größere Ansammlungen sollen, wenn nötig auch mit Waffengewalt, gesprengt werden. Es soll gezielt nach Rädelsführern gesucht werden. Die neuralgischen Punkte dieser Stadt sind von der kasernierten Volkspolizei und den Streitkräften unserer sowjetischen Freunde besetzt. Trotzdem müssen wir mit massiver Gewalt der aufgehetzten Menge rechnen. Wiederholt kam es gestern in der Republik zur Erstürmung von Untersuchungsgefängnissen und Zuchthäusern. Inhaftierte Spione, Agenten aber auch Kriminalstraftäter wurden befreit. In Berlin wurden die Streitkräfte der Sowjetarmee angegriffen. Es gab Tote und Verletzte."
Anschließend informiert er die beiden, dass es im VEB Rohrisolation auf der Hamburger Straße einen Toten gäbe, den Betriebsleiter, und das der Parteisekretär des Betriebes vermisst wird. Heller und Oldenbusch sollen ermitteln und feststellen ob es poitische Hintergründe gibt, soll heißen, „von westlicher Hand initiiert und gelenkt sind.“ Außerdem wird ein Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit vor Ort auf die Ermittler warten.
Der tote Betriebsleiter scheint wirklich ermordet worden zu sein, er liegt in einem Behälter voller Glaswolle und ist qualvoll erstickt... Die Glaswolle wird Max Heller so einfach nicht los...
Zustände und Zuständigkeiten
Das ist die Lage. Seit dem Max Heller nach dem ANGSTMANN suchte, wurden die Ermittlungen mehr oder weniger behindert. 1944 war es noch die GESTAPO, dann die Sicherheitsoffiziere der sowjetischen Militäradministration, nach Gründung der DD im Jahr 1949 das MfS, kurz bezeichnet als die Stasi.
Das ist nun nicht anders. Da werden Tatverdächtige und Unverdächtige verhaftet ohne Absprache, Vernehmungen behindert oder deren Ergebnisse nicht geteilt, Machtspielchen auf der ganzen Linie. Max, der sich seit Jahren weigert, in die Partei einzutreten, geht nicht zu Saizew, den er bereits unmittelbar nach dem Krieg kennen lernte und der ihm gelegentlich half bei Tausend Teufeln und Vergessenen Seelen und dem Heller dann während der Ermittlungen zum roten Raben selbst helfen musste.
Die Paranoia der Staatsmacht scheint übermächtig, hierzu sei später noch einiges ausgeführt. Ob die Vorgabe der Ermittlungsrichtung durch den Genossen Kommandeur der VP Bestand haben wird?
Bisher wissen wir aus den Fällen 1 bis 4, dass vor dem Hintergrund politischer Vorstellungen immer noch ganz klassische Verbrechen geschehen.
Max Heller im Zwiespalt
Max Heller ist, auch dies ist nicht erst im Jahr 1953 deutlich geworden, nicht nur zwiegespalten in seinem neuen Fall. Der eine Junge, Erwin, lebt erfolgreich als Anwalt im Westen, Klaus dagegen gehört mit Überzeugung dem MfS an. Dann ist da noch die Frage, ob ein Parteieintritt nicht manches erleichtern würde. Zum Beispiel einen Heimplatz für die alte Frau Markwart. Die Frau, in deren Haus die ausgebomten Hellers Zuflucht fanden, war für Max, Karin und der kleinen Anni, immer eine große Stütze, doch nun ist ihre Demenz sehr weit fortgeschritten.
Da ist Anni, die stolz ist, bei den jungen Pionieren zu sein. Karin meint, so weit sie weiß, lernen die Kinder da nichts Falsches. Doch die Zustände im Land, in dieser DDR, gegen die die Menschen auf die Straße gehen, und nicht nur wegen der aktuellen Arbeitsnormen sind so, dass die Regierung der Sowjetarmee bedarf, um Herr der Lage zu werden. Regelmäßig diskutieren Karin und Max, ob sie bleiben oder sich den Tausenden anschließen sollen auf dem Weg in die Bundesrepublik. Erwin würde helfen, aber was ist dann mit Klaus?
Der Roman und der 17. Juni 1953


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Quelle Archiv Sachsen |
Sowohl Staatssicherheit, SED und die Sowjets sprechen hingegen vom „faschistischen Putsch“ und vermuten überall westliche Agenten, unterstützt von ihrem Sprachrohr dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, dem RIAS. In diesem Sinne geht der neue Vorgesetzte der Kriminalisten von einem "Lynchmord" aus. Es ist wieder einmal Hellers Aufgabe, unvoreingenommen in alle Richtungen zu ermitteln.
Während Kowalczuk der Wirkung des RIAS die Substanz abspricht bzw. als wenig bedeutend darstellt, erhält man bei Heym einen anderen Eindruck. Der zitiert nämlich zum Beispiel aus dem Neuen Vorwärts, der Zeitung der SPD vom September 1952, worin die Arbeit des Ostbüros der SPD u.a. dazu da ist, den illegalen Widerstand gegen das den ostdeutschen Staat mit zu organisieren. Solche Ostbüros hatten übrigens auch andere westdeutsche Parteien. *
Man könnte annehmen, dass die Figur des Sozialdemokraten Ziegler, Verfolgter des Naziregimes, er ist allerdings gegen den SED-Staat eingestellt, hier einen Zusammenhang erkennen lässt. Frank Goldammer hat dies nicht betätigt.
Quelle: Fünf Tage im Juni / Stefan Heym |
Man könnte annehmen, dass die Figur des Sozialdemokraten Ziegler, Verfolgter des Naziregimes, er ist allerdings gegen den SED-Staat eingestellt, hier einen Zusammenhang erkennen lässt. Frank Goldammer hat dies nicht betätigt.
Zum Schluss
Bei Frank Goldammer fiebert die treue Leserschaft weiter mit den Hellers. Interessant wäre, wo die Leserinnen und Leser die kleine Familie denn nun am liebsten sehen würden: diesseits oder jenseits der Elbe.
Leicht macht es einem der Autor nicht. Die vielen Figuren auseinander zuhalten, fiel nicht leicht, die vielen Querverbindungen ebenfalls nicht. Das Problem empfand ich schon bei der Suche nach dem roten Raben.
Natürlich mag ich solcher Art historischer Romane, auch weil weitere Recherchen so spannend und interessant sind. Der Titel des Romans und der Zeitraum sind hier natürlich besonders geeignet für derartige weitere Literaturrecherchen. Nun bin ich gespannt, was Goldammer in dieser Hinsicht weiter plant, auf die Gefahr hin, dass es nicht ausgeht, wie ich mir das persönlich wünschen würde. Die deutsche Geschichte bietet weitere historischen Daten an: 1956 und dann natürlich 1961.
Warten wir es ab...
Übrigens möchte ich hier auf einen weiteren sehr interessanten Beitrag verweisen: Auf Astrolibrium hat Arndt Stroscher seine Rezension veröffentlicht. Endlich.
* Die Originalquelle konnte ich bisher nicht ausfindig machen, derselbe Text wird auf linken Internetseiten gelegentlich zitiert
** Dresdner Neumarkt 1953: Das einsame Lutherdenkmal vor den Frauenkirchen-trümmern gibt Orientierung. Im Foto oben ist es in der rechten Mitte auszumachen. Foto: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek Walter Möbius
Übrigens möchte ich hier auf einen weiteren sehr interessanten Beitrag verweisen: Auf Astrolibrium hat Arndt Stroscher seine Rezension veröffentlicht. Endlich.
* Die Originalquelle konnte ich bisher nicht ausfindig machen, derselbe Text wird auf linken Internetseiten gelegentlich zitiert
** Dresdner Neumarkt 1953: Das einsame Lutherdenkmal vor den Frauenkirchen-trümmern gibt Orientierung. Im Foto oben ist es in der rechten Mitte auszumachen. Foto: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek Walter Möbius
- Goldammer, Frank: Juni 53 / DNB / DTV / München 2020 / ISBN: 978-3-423-26232-3 / 362 S.
- Kowalczuk. Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 / DNB / Beck - Verlag 2019 / ISBN: 978-3-406-74020-6
- Frank Goldammer - Autorenseite
© Der Bücherjunge (09.02.2020)
Deine Tür zum Buch ist eine geschichtliche, die Emotionen zulässt. Ich denke, wir gehen da Hand in Hand durch eine Reihe, die uns noch einige Jahre beschäftigen wird. Wird spannend in Leipzig, denke ich mal. Grüße aus Bayern
AntwortenLöschenDas denke ich auch und Dank für den Kommentar
LöschenWenn Dir Bücher / Reihen am Herzen liegen, fällt die Buchbesprechung besonders sorgfältig aus. So wie hier. Bei Goldammer kann ich immer noch nicht mitreden...
AntwortenLöschenDann solltest du dir den ANGSTMANN einmal vornehmen.
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