„Wo ein Ypsilon ist, da steckt nicht selten ein Geheimnis ...“ Wolfgang Hildesheimer
Das kleine Flugzeug hat ihn, den Mann in der Mitte des Lebens, direkt von Akureyri nach Grimsey gebracht. Die winzige isländische Insel im Nordmeer, durch die der Polarkreis verläuft, ist für ihn, der schon viel herumgekommen ist, der fünfte arktische Boden, den er betritt. Fast ist es so, als sammele er Inseln. Sein Weg führt ihn über das karge Eiland, hinein in eine Kirche, in der ein merkwürdiges Summen tönt: Fliegen sind es, unzählige Fliegen, aber auch schon tote, verknäult, verklumpt. Draußen, in der Einsamkeit und Natur, Erinnerungen an früher, als er Kind war und Sandinseln am Strand baute, als er ein Junge war und Altpapierlager nach Büchern durchstöberte, als er ein Mann wurde, sich auflehnte und verhaftet wurde. Er, der Fotograf, Berichterstatter und Chronist, braucht Nahrung und neue Filme, trifft freundliche Einheimische, sieht immer wieder einen kleinen Jungen, alles scheint ganz normal, wenn da nicht die weißen Flecken wären, in den Wiesen. Die weißen Flecken werden mehr, und schließlich erkennt er, es sind tote Möwen. Was hat das zu bedeuten, hier, wo die Stille Musik, wo die Landschaft eins mit ihm ist? Am Ende des Tages, nach dem Überschreiten der Insel und dem Durchschreiten seines Lebens, wird er es wissen und ein anderer sein. – Sprachlich brillant, anmutig und kraftvoll, führt diese Novelle durch ein Neuland, das nur der sehen kann, der von einem anderen Leben weiß.
„Der Inselsammler hat ein besonderes Exemplar unter den Füßen: die Insel Grimsey in der baumlosen Welt, sehr klein, vom Polarkreis durchzogen, voll Vogelgeschrei und weiß wie Schnee die Möwenkadaver. Alsbald setzt Kino im Kopf ein von anderen Inseln, anderer Natur im anderen Leben. Eine sehr wunderbare Erscheinung ist dieses Buch.“ Sarah Kirsch
(Klappentext Aufbau Verlag)
- Gebundene Ausgabe: 189 Seiten
- Verlag: Aufbau Verlag; Auflage: 2 (21. August 2015)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3351036183
- ISBN-13: 978-3351036188
Ich danke dem Aufbau Verlag ganz herzlich, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu können!
SPRACHGEWALTIG...
Grimsey (Foto von MosheA - übernommen von Wikipedia) |
Ein Mann in der Mitte seines Lebens, ein Berichterstatter und Fotograf, der schon viele Regionen der Welt bereist hat, ein Inselsammler. Besonders die arktischen Inseln haben es ihm angetan, und so ist es nur konsequent, dass er mit seiner Kamera auch Grimsey aufsucht, eine winzige isländische Insel im Nordmeer am Polarkreis.
"Oh, sagte er, ich sammle Inseln, wenn Sie verstehen? Arktisinseln ganz besonders. Wow, rief der Mann, that's good, that's very good. But I hope you have enough room for them?! O ja, sagte er und legte die rechte Hand auf seine linke Brustseite." (S. 185)
Einen einzigen Tag wird der Mann, dessen Namen wir nicht erfahren, auf dem kargen Eiland verbringen. Was gibt es dort schon zu sehen? Eine kleine Kirche, in der sich Massen toter Fliegen befinden, ein wettergegerbter Friedhof, ein verlassener Leuchtturm, einige kleine Häuser, ein winziger Supermarkt - und die karge Natur, Fels und Gras und Möwen. Tote Möwen vor allem, die überall im Gras verteilt liegen, wie kleine Flecken weißen Schnees.
"Was wusste er von Grimsey und dem Leben hier? Daß die Insel eine Perle war, aufgezogen auf der Polarkreiskette, die dem ganzen Globus um den Hals hing. Daß es hier bedeutende Vogelkolonien gab. Daß ein Wikinger namens Grimur zur Landnahmezeit in ihrem südlichen Teil einen Hof gegründet und sich mit einer Reihe von Trollen und anderen nordischen Gespenstern herumgeschlagen hatte, weil das Eiland bis zu seiner Ankuft ihr Quartier gewesen war, das sie nicht verlassen wollten. Sonst nichts." (S. 31 f.)
Der Mann durchquert die Einsamkeit und die Natur, begegnet vereinzelt Menschen, lässt sich aber vor allem von den Bildern treiben, die ihm vor seine Kamera kommen - und von seinen Gedanken. Bilder schaffen Erinnerungen, und so legt der Mann nicht nur seinen Weg auf Grimsey zurück, sondern auch etliche Passagen seiner Vergangenheit - seine Kindheit, seine Zeit des Erwachsenwerdens und der Haft, vereinzelte Ereignisse seiner zahllosen Reisen. Und die Perlenkette der Erinnerungen hängt schließlich gedankenschwer um den Hals des Fotografen, eine Bilanz seiner Träume, vom Reisebericht zur Lebensbeichte.
"Beim Umdrehen jedoch (...) sah er, daß im Rasen, etwas abseits, ein Holzpflock steckte, über den vier Ringe aus Gummi gestülpt waren. Das sportliche Spielzeug, blaßrosa, blaßblau, blaßgelb und blaßgrün, löste in seinem Kopf ein Signal aus, das sogleich seine Füße erreichte und sie am Weiterlaufen hinderte: Mit solchen Ringen, die ein feines Rillenprofil trugen, hatten er und seine Freunde sich in jener Zeit vergnügt, als er auch seine Inseln baute, im Ferienlager oder auf dem Schulhof. Jahrzehnte lag das zurück, und nie wieder hatte er Gummiringe dieser Art gesehen, bis in ihre Farbblässe hinein glichen sie jenen von damals, er wußte für den Moment nicht, ob er weinen oder lachen sollte über das unerwartete Wiedersehen von Dingen, die scheinbar keinerlei Bedeutung für sein weiteres Leben gehabt hatten." (S. 55)
Ulrich Schacht lässt hier offensichtlich auch viele autobiografische Elemente in die Novelle einfließen, die einen Einblick auch in sein Leben und seine Gedankenwelt gewähren. 1951 wurde Schacht im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wuchs dann in Wismar auf und wurde 1973 wegen 'staatsfeindlicher Hetze' in der DDR zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt - man entließ ihn jedoch bereits 1976 in die BRD. Als Redakteur und Journalist arbeitete er für verschiedene Zeitungen, heute lebt er seit 1998 als freier Autor in Schweden.
"Zuerst fiel seine Aufmerksamkeit auf einen Bagger, der hinter der Kante, die an ihrem Fuß in einen groben Geröllsaum überging, auf dem der Ozean seine Wellen verlor, wie ein Ungetüm hervorragte. Es schien aus dem Meer gekommen zu sein und war dabei, die Kante zu erklimmen. Schon hatte es die Zähne seines mächtigen Gebisses in das Erdreich neben dem Asphaltband geschlagen, um den massigen, panzerschweren Leib nachzuziehen, da mußte ihm plötzlich die Luft ausgegangen oder etwas anderes Furchtbares geschehen sein: All seine Kraft war in dieser letzten Bewegung steckengeblieben, erstarrt. Seitdem hatten Wind und Wetter die leuchtend gelbe Haut des Monsters fast vollständig abgezogen und den darunterliegenden Leib aus Stahlknochen und Eisenfleisch in eine rostbraune Masse verwandelt, die sich der Farbe der nahe liegenden Basaltsäulen, denen das Meer seit Urzeiten seine Wellen entgegenbranden ließ, anzugleichen begann." (S. 18)
Trotz der leisen Töne und der ruhigen Bilder kommt die kleine Novelle sprachgewaltig daher, oftmals mit langen und verschachtelten Sätzen, die mehrfach gelesen werden wollen, um sie in ihrer Gänze zu erfassen, detailgetreu und bildhaft. Ein bisschen hatte ich zuweilen das Gefühl, mich durch Sirup zu lesen - süß und ein wenig zäh, in kleinen Portionen genossen eine Delikatesse, zu viel davon jedoch schlecht zu vertragen. Und so habe ich Wochen gebraucht, um diese Novelle bis zum Ende zu lesen, immer wieder ein paar Seiten, so dass der eintägige Ausflug nach Grimsey letztlich für mich zu einer langen Reise wurde.
Aber eine Reise, die sich gelohnt hat, die mich nicht nur mitnahm auf diese kleine Insel am Polarkreis, sondern auch in die Gedankenwelt des reisenden Fotografen - und ein wenig auch zu mir selbst.
© Parden
PRESSESTIMMEN
Ulrich Greiner, Die Zeit Nr. 47, 19.11.2015
„’Inseln sammeln’: Der Mann hat ein komisches Hobby, und kostspielig wird es auch sein, wenn auch nicht in dem Sinne, dass er sich seine Inseln alle kauft … Es sind solche, deren Boden beim Begehen gewissermaßen nachgibt, um tiefere Dimensionen und Seinsschichten zu offenbaren. Gerade ist er auf Grimsey, einer Insel vor Island. Viel passieren wird dort nicht. Es ist ein Glück bei dieser relativen Ereignislosigkeit, dass Ulrich Schacht so gut erzählen, das heißt einfach: schreiben kann … ein Stück Literatur, wie es in dieser Sorgfalt und Präzision nicht an jeder Ecke zu haben ist. … Unter der Oberfläche der behutsam ausgeleuchteten Gegebenheiten dieser nicht gerade zum Baden einladenden Insel wird langsam klar, worum es dem Reisenden geht: Laufend will er zu sich selbst kommen. Dies geschieht naturgemäß schrittweise. Dabei nimmt er, wie in einer Trickbearbeitung, fortlaufend eine andere Gestalt, oder richtiger, einen früheren Seinszustand an. Erinnernd durchmisst er seine früheren Identitäten und kommt auf der letzten Insel ans Ziel. … Das Glück, weiß der Erzähler, ist in der Literatur selten abendfüllend. Deswegen bricht er ab – nicht ohne ein Wort zu hinterlassen, dass sprachwissenschaftlich als Dvandva bezeichnet wird, eine Paarbildung mit semantisch gleichgewichtigen Teilen: ‚Glücksschmerz’. Man könnte von der ‚Trauer der Vollendung’ sprechen …“
Edo Reents, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 10. 2015
„Ein Mann liebt Inseln. Möglichst abgelegen sollten sie sein. Das trifft auf ‚Grimsey’ zu, auf die isländische Insel, über die der Mann streift. Einen Tag lang. Er beobachtet, fotografiert – und er erinnert sich. Das sind die Bausteine dieser geheimnisvollen Novelle von Ulrich Schacht. Der Schauplatz ist überschaubar, der Zeitrahmen begrenzt. Wie es typisch ist für eine Novelle. Ulrich Schacht bleibt ganz nah bei seinem Protagonisten, einem Fotografen, den er auf diesen Landgang nach Grimsey schickt. Der Mann ist auf einer Erkundungstour, einer äußeren wie inneren. Was auch immer er sieht und hört, stößt Erinnerungen an. Er denkt an die glücklichen Sommer seiner Kindheit, an die Studentenzeit, als er im Hafen gearbeitet hat, aber auch an die Brüche in seinem Leben. Inhaftiert war er zu DDR-Zeiten. Auf Grimsey, inmitten dieser eigenwilligen Landschaft, stellt er sich den Fragen des Lebens. Davon erzählt Ulrich Schacht: ohne Pathos, sensibel, in einer kraftvollen Sprache.“
Gabi Rüth, WDR 5, 22. 9. 2015
Der Aufbau Verlag schreibt über den Autor:
Ulrich Schacht wurde 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren und wuchs in Wismar auf. 1973 in der DDR wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, wurde er 1976 in die Bundesrepublik entlassen. Dort arbeitete er als Feuilletonredakteur und Chefreporter Kultur für Die Welt und Welt am Sonntag. Schacht erhielt verschiedene Preise, Auszeichnungen und Literaturstipendien, u. a. den Theodor-Wolff-Preis für herausragenden Journalismus. Er gilt als ein streitbarer Publizist, der sich nicht Konventionen, sondern einer humanistischen Tradition verpflichtet fühlt. Seit 1998 lebt Ulrich Schacht als freier Autor in Schweden. Zuletzt bei Aufbau: „Vereister Sommer“ (2011) und „Grimsey“ (2015).
► übernommen vom Aufbau Verlag