Freitag, 5. Juli 2019

Goldammer, Frank: Großes Sommertheater

Was sehen wir heute? Das Meer...

„Ein richtiges Meer ist die Ostsee, wenn auch nur ein kleines, mit Gezeiten, die kaum zu spüren und erst recht nicht zu sehen sind. Bei Wismar hat die Tide gerade einmal eine Amplitude von fünfzehn Zentimetern, ziemlich schlapp für ein Meer. Aber doch auch irgendwie gut, denn wer will schon ein Meer, dem man immerzu nachlaufen muss um wenige Stunden später wieder zu ihm zu flüchten?“
Auch der Salzgehalt ist längst nicht so hoch...“ (Seite 5)

Aber wen interessiert schon die Tide bei Wismar, wenn die folgende Geschichte auf Usedom spielt? Nach fünfeinhalb Seiten hat einen der Dichter ordentlich eingelullt: Man denkt zurück an Kindertage an denen man nackig am Textilstrand rumplanschte, Mutti immer bedacht, dass der Po weder übermäßig vom Sand, noch von der Sonne gerötet wurde. Oder an die Fahrten als Jugendlicher, immer mit Zelt unterwegs und Bier am Strand, oder später dann, im Abendrot entlangwandernd der Wasserkante in Binz auf Rügen oder Heringsdorf auf Usedom, oder Kloster auf Hiddensee...

Großes Sommertheater gibt es alljährlich wieder in Ralswiek wo man den Störtebeker besucht und im Dunkel Kanonen donnern und Schiffe versinken...



Sommertheater

Doch dieses Sommertheater hier hat nur für die teilnehmenden Kinder unter Obhut einer Schwester Agnes so etwas wie unbeschwerte Strandbesuche zu bieten. Deren für ihre Erziehung verantwortliche Erwachsenen haben anderes zu erledigen, in der hochherrschaftlichen Villa mit Strandblick hinter der Düne...



Eingeladen hat der alte Joseph seine Söhne und deren Anhang. Der alte Gauner sitzt im Rollstuhl, mehr tot als lebendig und neben ihm steht eine Frau in strenger Schwesterntracht, förmlich dem Diakonissenkrankenhaus in Dresden vor achtundachtzig Jahren entsprungen, dort wo Joseph einst von seiner Mutter Waltraud geboren wurde. Waltraud wird die im Krankenhaus herrschende Sauberkeit in den weiteren Jahren schmerzlich vermissen, in der kleinen Wohnung, die sie mit dem immer schmutzigen Kohlenträger Alfons bewohnt. Als dieser Proletarier meint, dass die Mitgliedschaft in der Schutzabteilung und das gelegentliche Denunzieren von Kommunisten, in deren Partei er einst war, ein besseres Auskommen und eine Lohnsteigerung ermöglichen würde, ist es fast vorbei mit dem Dreck, doch der neue Staubsauger zur Beseitigung des Kohlenstoffs ist wohl ein Montagsstaubsauger wie wir heute sagen würden und so wird Joseph zur Waise...

Erich, Harald und Uwe, ersterer CDU-Senator aus Berlin, der zweite ein Gangster und der dritte, ein arbeitsscheuer Looser, treten also an in dieser Villa. Erich wird von seiner Gattin Gisela, ihrer beider Tochter Regina und ihren Enkeln Tom und Rocco begleitet, der Letztere ist vier Jahre alt und spielt trotzdem eine entscheidende Rolle, als er mit Uwes Begleitung zusammen trifft. Diese Begleitung verblüfft alle erwachsenen Familienmitglieder – eine so schöne Frau an der Seite dieses Taugenichts? Das alles wird aber erst ab Seite 233 wirksam werden und darum will ich hier nicht weiter erzählen von den anderen komischen Gestalten, die man hätte auf einer Bühne unterbringen können – einem großen Sommertheater, in dem der die Hauptrolle spielende Joseph hauptsächlich stinkt und dreiundzwanzig Worte spricht.

Wie es sich gehört, hat das große Sommertheater ein knalliges Finale – Mal sehen, ob der Alte nun Entscheidendes zu den erwarteten Erbangelegenheiten zu vermelden hat, die irre Villa jedenfalls lässt hoffen, aber vielleicht geht einer leer aus?




Das Buch

Goldammer hat alle Klischees zusammengebracht, die man sich familiär so denken kann. Der Kunstgriff besteht schon mal darin, dass die drei Jungs von drei verschiedenen Frauen sind und vielleicht daher völlig unterschiedlich. Die Enkel haben alle irgendwie einen Knall – nur die Urenkel eher nicht, sieht man mal vom vierjährigen Rocco und der sechzehnjährigen Linda ab, deren unübersehbare Oberweite... Aber lassen wir das.

Die kleine Romanze zwischen Tom und Vanessa wäre so einfach und so natürlich und so schön, aber sind sie tatsächlich verwandtschaftlich so weit entfernt, wie der Stammbaum im Schutzumschlag vorgibt?

Die Beschreibung der seltsamen Typen ist schon sehr amüsant, die „virtuellen Leben“ des vierzehnjährigen Tom, die Bemühungen, nur ja nichts arbeiten zu müssen seines Großonkels, die erziehungsunfähige Regina mit dem vierjährigen Nervtöter und die Geschichte des alten Verursachers dieser Inszenierung – alles ein todernster riesiger Spaß mit nachdenklichen Momenten.

Dichterisch schon fast, wenn der Autor den Gang der Geschichte unterbricht: „Ein Acheta domesticus, ein Heimchen, beginnt zu singen, indem es seine Schrillader unter dem rechten Flügel über die Schrillkante auf dem linken Flügel bewegt und somit das Stridulationsgeräusch verursacht. Als es bemerkt, dass es zu früh ist, zieht es sich beschämt zurück.“ (Seite 17) 
Okay, hier mutet das schon eher wissenschaftlich und lexikonartig an. Diese Form eignet sich blendend, den Leser mal kurz innehalten zu lassen, wenn ihm im Kopf die Personen durcheinander schwirren. Man kann dazu auch gelegentlich Eichhörnchen verwenden...

„Schräg, gemein und alles andere als politisch korrekt“, sei dieser „Familienroman“. Vor allem aber ist er großes Sommertheater, wobei ich politisch Unkorrektes nicht wirklich wahrnehmen konnte, sieht man mal von der unortodoxen Arbeitsweise des Senators ab. (Umschlagtext)

pixabay


„Es ist zu heiß, zu laut, zu eng, zu teuer, zu sandig, aber genau das ist es! Man möchte da sein. Man möchte immer wieder kommen. Man möchte gar nicht mehr weg.“ (Seite 9) 

Das galt zwar der Ostsee im Sommer, aber aus dem Sommertheater möchte man erst wieder weg, oder raus, wenn das Finale vorüber ist. Das Stück möchte bitte wenig Pausen haben, soll heißen, ich möchte keine Leseunterbrechungen.

Wenn Frank Goldammer eben mal nicht den Spuren eines gewissen Kriminalpolizisten im Nachkriegsdresden folgt, dann lenkt er sich mit solchen Geschichten ab. Und uns, seine Leserinnen und Leser gleich mit. Und wer mehr über ihn wissen will, der schaue auf der Autorenseite nach. Ach ja, dass die Schwester Agnes heißt ist schon fast was für Insider und hängt vielleicht, aber nur indirekt mit dem Geburtsland des Autoren zusammen.

DNB / dtv / München 2019 / ISBN: 978-3-423-26216-3 / 239 Seiten

© Bücherjunge

2 Kommentare:

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