Sonntag, 28. Juli 2019

Lukrez: De rerum natura - Über die Natur der Dinge


"Es gibt, außer unserer, unzählige weitere Welten […..]    
               Darum, ich sage es wieder und wieder, musst du zugeben, dass sich auch anderswo hier und da Materie verdichtet, verbunden hat, zu Welten wie der unseren, die, ohne etwas auszulassen, ein Äther umschlossen hält..."
(Lukrez)

Liebe Leserinnen und Leser,
Das oben wiedergegebene Zitat stammt aus der Feder eines Römers, der ungefähr im 1. Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung lebte. 



https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucretius_Rome.jpg

Titus Lucretius Carus war ein römischer Dichter und Philosoph in der Tradition des Epikureismus.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Epicurus_Louvre.jpg
Der Epikureismus wiederrum geht zurück auf den griechischen Phillosophen Epikur, der um 341 v. Chr. auf der Insel Samos geboren wurde und um 270 v. Chr. in Athen starb. Der nach ihm benannte Epikureismus, den er in seinem Kepos (Garten) lehrte, fußte auf dem sog. Atomismus der griechischen Philosophen Demokrit und Leukipp:


Demokrit lehrte u.a.:



„Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum."













Die griechische und römische Antike ist heute für viele sozusagen ein Buch mit sieben Siegeln. Bekannt sind den meisten sicherlich die Illias und vor allem die Odyssee des sagenhaften griechischen Dichters Homer.

Auch der Name Pythagoras mag vielen aus dem Mathematikunterricht noch bekannt sein. Doch damit erschöpft sich unser Allgemeinwissen vielfach auch schon. Heute können wir mit den Namen großer griechischer Philosophen meistens nicht mehr viel anfangen, geschweige denn wissen wir, was genau sie überhaupt lehrten. Begriffe wie Stoa, Epikurismus, Atomismus und vieles mehr müssen wir vermutlich schon irgendwo nachschlagen. Dann bekommen wir aber auch nur mehr oder weniger detailreich Auskunft über diese Begriffe. Will man ergründen, was eigentlich wirklich dahinter steckte, dann müssen wir uns intensiver mit der Materie beschäftigen. Und genau da wird es schwierig, weil wir dann nämlich Übersetzungen der Originaltexte (soweit sie überlebt haben) oder spezielle Fachliteratur lesen müssen. Solche Texte aber sind schwere Kost, denn die Welt und die Sprache von damals sind nicht die unsere, und so erschließen sich solche Texte eben meistens nur Altphilologen oder Wissenschaftlern, die das Altgriechisch und Latein beherrschen sowie aufgrund ihrer Studien in der Mythologie und der Kultur der Antike auskennen.

Wir "Normalmenschen" aber benötigen schon ein wenig Anleitung, wenn wir uns mit der antiken Gedankenwelt beschäftigen wollen, denn das Thema erscheint vielen als "trocken" und doch eher "langweilig". Aber was kann spannender sein als Geschichte? Was kann aufschlussreicher sein als die Erkenntnis, dass wir heute buchstäblich "Nichts" wären ohne diejenigen, auf welche unsere Kultur sich gründet! 

Demokratie und Philosophie sind gleichsam Erfindungen der griechischen Antike. Das Wort Atom und die Erkenntnis, dass alles im Universum aus Atomen zusammengesetzt ist, geht auf griechische Philosophen zurück. Sie haben damit vor mehr als 2000 Jahren die geistigen Grundlagen geschaffen, auf denen wir heute noch aufbauen. Ist das nicht einfach großartig zu nennen?


Lukrez zu lesen, ist heute dank Klaus Binder einfach und spannend! 

Er bringt für uns in seiner großartigen Übersetzung und mit sachkundigen Kommentaren die ursprünglich in Hexametern verfassten Verse in eine für heutige Verhältnisse lesbare Fassung, ohne die Inhalte zu verfälschen. Das Vorwort stammt von Stephen Greenblatt, dessen Buch







ich bereits 2014 hier vorgestellt habe. Der Autor erhielt dafür den Pulitzer Preis 2012!
Ich empfehle dieses Buch allen zur Lektüre, die es einmal mit Lukrez´ De Rerum Natura versuchen wollen. Sie erfahren viel über die Hintergründe des Lukrez´schen Textes, über das Mittelalter und über die beginnende Renaissance. Dabei ist das Buch unterhaltsam und spannend geschrieben.
Legen Sie evtl. vorhandene Vorurteile im Umgang mit Geschichte ab: Auch ich musste mir in der Schule Eselsbrücken bauen wie etwa: "333 - bei Issus Keilerei"
Was wir in der Schule als langweiliges Auswendiglernen geschichtlicher Daten betrachteten, verleidet manchem von uns bis heute den Umgang mit der Geschichte.
Betrachten Sie deshalb Geschichte nicht als bloße Aneinanderreihung von historisch bedeutsamen Daten, sondern als einen stetigen Fluss von Ereignissen. Das Datum von Ereignissen zu kennen ist dabei weniger wichtig, als deren Zusammenhänge zu verstehen!

Greenblatt erzählt uns in seinem bemerkenswerten Buch die atemberaubende Geschichte der Wiederentdeckung einer Abschrift des Lukretz´schen Manuskripts De rerum natura im Jahre 1417 durch den Humanisten Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster.
Bracciolini, über dessen Lebensgeschichte wir in Stephen Greenblatt´s Buch viel erfahren, rettete damit das mutmaßlich letzte Exemplar dieser längst verloren geglaubten Schrift des römischen Philosophen und Dichters Lukrez, aus der verstaubten Bibliothek einer mittelalterlichen Klosterabtei bei Fulda. Wir wissen nicht, ob ihm von Anfang an bewusst war, welchen Schatz er da gehoben und dem endgültigen Vergessen entrissen hatte. Die Verbreitung der uralten Schrift aus vorchristlicher Zeit war jedoch nun nicht mehr aufzuhalten und trug maßgeblich dazu bei, jene Zeitenwende einzuleiten, die wir heute als Renaissance bezeichnen und in  der sich die Abkehr vom düsteren Mittelalter hin zur Moderne vollzog. 

Insofern lässt sich eine direkte Linie ziehen von den großartigen Denkern der längst vergangenen griechischen Hochkultur über die Römerzeit und die Renaissance bis heute. Was wir heutzutage wissenschaftlich weitgehend entschlüsselt haben, den Aufbau der Materie und die Struktur von Atomen und noch kleineren Teilchen zum Beispiel, das haben griechische Philosophen vor mehr als 2000 Jahren allein durch Beobachtung und die Kraft ihres Geistes und ihres Denkens bereits mit erstaunlicher Treffsicherheit beschrieben.
Unterbrochen wurde diese gerade Linie durch historische Entwicklungen, zu denen auch das Aufkommen des Christentums zu zählen ist, die mindestens Europa für Jahrhunderte in ein dunkles Mittelalter führten. Dies war ein beispielloser, wenn auch temporärer, kultureller Absturz vom Olymp jener strahlenden antiken, altgriechischen Geisteshöhe in ein dunkles Zeitalter voller Aberglauben, Rückschritt, Unterdrückung und Leibeigenschaft.

Poggio Bracciolini
Ironischerweise waren es gerade Kirchenmänner, welche die damals als ketzerisch geltenden Schriften kopierten, in ihren Klöstern über die Jahrhunderte hinweg, wenn auch wie in einem Giftschrank, aufbewahrten oder, besser gesagt, verborgen hielten.
Lukrez´De rerum natura wurde von Poggio Bracciolini aufgespürt und gerettet. Der Menschheit wurde damit sowohl ein strahlendes Stück Poesie als auch ein Zeugnis davon erhalten, zu welchen geistigen Höhenflügen griechische Philosophen und Wissenschaftler lange vor Beginn unserer Zeitrechnung fähig waren!


De rerum natura in der vorliegenden Ausgabe der Büchergilde Gutenberg und in der äußerst gelungenen Übersetzung von Klaus Binder ist vielschichtig:


Wunderbare Literatur, Poesie, Philosophie und ein wissenschaftlicher, auf rein deduktiver (auf Beobachtung beruhender) Methodik und logischen Schlussfolgerungen gründender Text

Die Poesie offenbart sich in der Schönheit von Sprache und Gedankeninhalten. Klaus Binder schafft es, beides in seiner Übertragung, die ja gleichsam eine doppelte Übersetzung darstellt, zu erhalten.
Die von mir erwähnte "doppelte Übersetzung" meint, dass Binder sowohl vom altgriechischen ins Deutsche übersetzt und den Text dabei von der Versform des Hexameters in Prosaform transferiert hat. Dies allein ist eine großartige Leistung des Übersetzers!

Als wissenschaftliche Abhandlung war De Rerum Natura seiner Zeit weit voraus. Atomismus und Epikerismus als Weiterentwicklung des erstgenannten sagten die Zusammensetzung der Materie und des Universums mit erstaunlicher Treffsicherheit voraus. Jene Hypothese, welche die damaligen Denker aus reiner Beobachtung und als logische Schlussfolgerungen des Beobachteten ableiteten (nämlich, dass alle Materie aus Atomen besteht), ist heute wissenschaftlich bewiesen.
Damit hatten die altgriechischen Denker ein wesentliches Prinzip unseres Universums und damit unserer Existenz erkannt:
Nämlich, dass alle Materie aus kleinsten Teilchen besteht, die im Rahmen der Naturgesetze nahezu alles bilden und nicht vernichtet werden, sondern höchstens in etwas anderes umgewandelt werden kann.
Natürlich waren auch diesen Geistesgrößen Grenzen gesetzt.
In Unkenntnis vieler Naturgesetze kannten sie weder Elektrizität, magnetische Feldlinien, Ausbreitung von Schallwellen, Photonen, Elektronen, Lichtgeschwindigkeit und vieles mehr. So waren sie bei der Beschreibung von Ursachen bestimmter Naturphänomene wie z.B. Blitz und Donner, Magnetismus usw. auf phantasievolle, ja bisweilen skurrile Erklärungen angewiesen, über die wir heute lächeln mögen.
Immer aber beruhen die Aussagen auf der zutreffenden Erkenntnis des zugrundeliegenden Grundprinzips!
So ist es denn fast schon nebensächlich, ob Blitze und Gewitterdonner, wie Lukrez es beschreibt, durch "Reibung der Gewitterwolken aneinander" oder durch eine elektrische Entladung in der Atmosphäre hervorgerufen werden!

Lukrez´ Beschreibung von der Natur der Dinge war und ist von hoher philosophischer Bedeutung, in dem sie das Weltbild veränderte, ja verändern wollte. Denn dies ist der Hauptzweck dieser Schrift, die lange vor Kant im Sinne der Aufklärung stand und wirkte.
Der in der Tradition des Atomismus stehende Epikureismus erklärt die Welt und das Universum anhand von Naturphänomen.
Ein solches Weltbild kommt ohne Götter aus.
Anders gesagt: Die Erschaffung der Welt und ihre Entwicklung bedurfte/bedarf keines Schöpfers, weil sich alles naturwissenschaftlich erklären lässt!
Nach Epikur und Lukrez ist das Universum in jeder Hinsicht unendlich, d.h. räumlich und zeitlich ohne Anfang und Ende.
Wir wissen bis heute nicht, ob er damit richtig lag, die wissenschaftlichen Meinungen gehen da auseinander. Immerhin gibt es bis heute Theorien über ein "Multiversum", d.h. über die parallele Existenz vieler Universen nebeneinander. Auch diese Theorie hatte ihren Ursprung bereits in der griechischen Antike!
Bleiben wir aber einmal in "unserem" Universum:
Der Schriftsteller und Epikureer Lukrez postulierte also ein Universum ohne Schöpfer und geriet damit bereits in seiner Zeit in Widerspruch mit dem Götterglauben. Mit dem aufkommenden Christentum (Lukrez starb etwa im Jahre 55 v.Chr.) ließ sich seine Haltung (und die des Epikur) schon gar nicht vereinbaren, und so verschwand seine Schrift für viele Jahrhunderte spurlos hinter Klostermauern, vor aller Welt verborgen.
Die philosophische Botschaft des Epikureers Lukrez und seiner Schrift aber war eindeutig:
Der Mensch sollte sich nicht vor den Göttern und vor deren "Strafen" fürchten. Opfergaben waren sinnlos, weil die Götter, nach Lukrez, im Olymp existieren mochten, sich aber um die Geschicke der Menschen nicht kümmerten, geschweige denn an der Erschaffung der Welt und der Menschen beteiligt waren! Jegliche Angst vor dem "Fegefeuer" war somit völlig unbegründet.
Nach Epikur ist auch der Tod für die Menschen ohne Bedeutung, weil mit dem Eintritt des Todes auch die "Seele" stirbt und somit kein "Leben nach dem Tode" existiert. "Geist und Seele" sind nach seiner Auffassung körperlicherlicher, also materieller Natur und somit sterblich.
Bei Lukrez klingt das so:

"Der Tod, darum, ist uns nichts, geht nicht das Geringste uns an, nun, da wir begriffen haben: Die Seele ist ihrer Natur nach sterblich..."

Zusammenfassung:

Die Erkenntnisse des Epikureismus muten auch heute noch, mehr als 2000 Jahre nach ihrer Entstehung, erstaunlich modern an:
Demnach sind wir nur hier, weil der kosmische Zufall es wollte. Es existiert kein Leben nach dem Tode, weil Geist, Körper und "Seele" eins und sterblich sind. Die Furcht vor göttlicher Strafe ist unbegründet. Alles lässt sich naturwissenschaftlich erklären. Deshalb können die Menschen nach Lukrez frei von Furcht sein, auch vor der Furcht vor dem Tode getreu dem Motto:
"Bist Du da, ist der Tod nicht da. Ist der Tod da, bist Du nicht da."
Alles endet mit dem Tod!

Moderne Forscher, wie der kürzlich verstorbene Stephen King, haben die Frage nach dem Ursprung der Welt und nach einem Schöpfer ebenfalls gestellt. Die Suche nach der alles erklärenden "Weltformel" ist aktueller denn je.
Fest steht bislang nur:
Wissenschaftliche Erkenntnis und Philosophie, also unser Weltbild, sind engstens miteinander verknüpft!
Der Leser möge sich nun sein eigenes Urteil bilden.

Eines vorab:
Niemand sollte sich fürchten, dieses Buch zur Hand zu nehmen. Die Übersetzung von Klaus Binder, der das Werk vom Hexameter des Originals in Prosaform übertragen hat, wird jedem Anspruch gerecht: 
Sie ist feinfühlig, so dass die Schönheit der Sprache erhalten bleibt, sie ist gut lesbar und auch für den normalen Leser leicht verständlich. Zusätzlich sorgen die umfangreichen Erläuterungen dafür, dass man sich das Werk leicht und fast mühelos erschließen kann.
Wer die Büchergilde-Ausgabe bestellt, der erhält ein bibliophiles Schmuckstück für seinen Bücherschrank und ein sprachliches wie philosophisches Kunstwerk zugleich. 

Lukrez:
Über die Natur der Dinge (De rerum natura)
Übersetzt und reich kommentiert von Klaus Binder
Büchergilde Gutenberg
Leineneinband, 405 Seiten
DNB

1 Kommentar:

  1. Das hast für einen Atheisten wie mich hervor gekramt, lieber Rudi. Kommt auf die Merkliste.

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