Donnerstag, 3. April 2025

Masala, Carlo: Wenn Russland gewinnt - Ein Szenario

Wahrscheinlich jeder länger dienende Soldat, vor allem Berufssoldaten und unter diesen Einheitsführer, lernt die militärische Lage zu beurteilen. Den vermutlichen Zielen des Gegners, dessen Fähigkeiten in Angriff und Verteidigung, seiner Ausrüstung und seinen Kampfmitteln werden die Fähigkeiten der eigenen Einheit, des Bataillons, des Regiments, der Brigade gegenübergestellt, eigene taktische Ziele entwickelt, Entschlüsse gefasst und diese in Pläne und Befehle umgesetzt. Dabei geht es um Taktik als Theorie und Praxis der Führung solcher Formationen, das ist Bestandteil der Kriegführung. Strategie, operative Kunst und Taktik werden insgesamt als Kriegskunst bezeichnet.

Bevor Divisionen, Korps oder Armeen in Einsatzbereitschaft oder in Marsch gesetzt werden, wird die Strategie festgelegt, welche nicht nur, aber vor allem von der Politik bestimmt wird.

Der Einsatz der deutschen Kampfbrigade in Litauen, die aus 5000 Soldaten und Soldatinnen unserer Bundeswehr bestehen soll, ist Ergebnis der deutschen, der europäischen und NATO-Strategie im Ergebnis der Beurteilung der politischen militärischen Lage im Zusammenhang mit dem schon drei Jahre anhaltenden Krieges in der Ukraine.

Kriegstüchtig sein. Das erfordert vor allem Übung, Übung, Übung. Jede Übung im größeren Rahmen, oft Manöver genannt, folgt einer Idee, einem Szenarium, nachdem der militärische Gegner handeln könnte und geübt wird, wie ein möglicher Angriff zum Beispiel zurückgeschlagen werden kann.

Die genannte Brigade in Litauen (Panzerbrigade 45) muss aber gleichzeitig so leistungsfähig, geübt und ausgerüstet sein, das es sich der mögliche Gegner überlegt, den NATO-Staat Litauen anzugreifen. Als möglicher militärischer Gegner kommen im Norden der NATO-Flanke nur zwei Staaten in Betracht: Weißrussland und Russland.


Die aktuelle Lage: Die deutsche Bevölkerung, die Staaten der Europäischen Union sind augenscheinlich nicht besonders einig gewesen, seitdem es darum ging, die am 24. Februar 2022 von Russland angegriffene Ukraine zu unterstützen. Irgendwie haben viel Geld und Waffensysteme es ermöglicht, dass das Land die vollständige Eroberung verhindern konnte. Nun ist die Ukraine zwar kein NATO-Land, aber was passiert, wenn sie sich einem Dikatfrieden beugen muss, in dem die momentane Front als Grenze eingefroren wird? Einig ist man sich weitestgehend, dass Russland dann vor allem gewonnen hätte. Mit hohem Blut- und Materialzoll.


Der bisherige Garant der europäischen Sicherheit mag, wie es aussieht, die NATO nicht mehr führen. Haben wir das verstanden? Vor wenigen Wochen schien es undenkbar, dass hunderte Milliarden für die europäische Verteidigungsfähigkeit so schnell bereitgestellt werden sollen. Aber wenn der bisherige Hauptlieferand für die Ukraine dafür ausfallen sollte, dann liegt es im Rahmen der Möglichkeiten, dass dieses strategische Szenarium des Professors für internationale Politik an der Münchener Bundeswehr-Universität, Carlo Masala,  so oder etwas anders Wirklichkeit wird. 

Schauen wir nach diesem langen Vorwort hinein und nehmen wir mit ihm an:
Die Ukraine hat kapituliert. Präsident Putin hat einen neuen, einen jüngeren Präsidenten präsentiert. In Afrika organisieren geheimnisvolle Leute unter Führung von Russen eine neue Flüchtlingswelle über das Mittelmeer. China wird im chinesischen Meer aktiv und als ein führender Manager eines bedeutenden deutschen Rüstungsbetriebes in seinem Flugzeug mitten in Deutschland durch eine Flugabwehr-Rakete abgeschossen wird, ist ein weiteres Land überfallen worden.

Narwa liegt am äußersten nordöstlichen Rand des Baltikums an der Grenze zu Russland und an der Ostsee nördlich des Peipusssees. Es gibt in dieser estnischen Stadt eine große Gruppe russischsprachiger Bevölkerung, denen die estnische Regierung und viele Esten skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Im Szenarium helfen diese einsickernden russischen Einheiten, derweil die baltische Flotte die Insel Hiijumi vor der estnischen Ostseeküste besetzen.



Dies wäre an sich die Zeit für den Einsatz von NATO-Verbänden, die oben genannte Kampfbrigade, Zeit, die Lieferung von Versorgungsgütern, Soldaten und Material von Land und von See für die russischen Enklave Kaliningrad zu blockieren, ebenso für eine Blockade der russischen Flotte dort. Zeit, den § 5 in Kraft zu setzen, was der estnische Ministerpräsident von der NATO verlangt. (Die Blockade des Gebiets Kaliningrad würde ich als zusätzliche Maßnahme zur Verteidigung Estlands ansehen) 

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Artikel 5

Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.

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Aber Narwa ist eine kleine Stadt im äußersten Winkel der NATO. Die USA habe andere Weltregionen im Blick. Und die europäischen Staaten wollen mal wieder nicht: zögern und Ablehnung, was sollen portugiesische Soldaten an der kalten Ostsee? Wie es aussieht, werden Polen, Littauen, Lettland und Estland das allein klären müssen, während hinter dem russischen Präsidenten zwei ältere Herren im Kreml erscheinen, die nun verkünden, dass Russland und Weißrundland wieder eine Nation werden wollen.

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Das Buch: Das ist, kurz dargestellt, die Geschichte, die der fernsehbekannte Professor erzählt. Er hört bereits eher auf, die Idee mit Kaliningrad und der Einsatz von Verbänden der polnischen und baltischen Armeen habe ich gerade hinzu gedichtet.

Der Autor hätte ein anderes Szenario entwickeln können, eines wie es in den Schubladen der Führungsstäbe und vor allem beim NATO-Hauptquartier in Europa sicherlich zu finden wäre. Detailliert aufgelistet, was an Bodentruppen, Marine, Luftstreitkräften und vor allem an Drohnen für Aufklärung und Angriff auf eingedrungene Einheiten genutzt werden kann.

Masala hat sich für dieses entschieden, eines, dass den uneinigen Lesern wie den Staatenlenkern vor Augen führen soll, mit was wir rechnen müssen, wenn der Krieg in der Ukraine so ausgeht, wie es aussieht. Es sollten ja jetzt schon einige endlich einmal merken, dass Putin keinerlei Interesse an einer Beendigung des Krieges hat, obwohl er annehmen kann, dass die notwendige Einstimmigkeit von 32 NATO-Staaten zur Aufnahme der Ukraine vielleicht nicht erreicht werden kann. Ist er am gewinnen?

Es ist kein trockener politischer Stoff, den Masala hier ausrollt, er beruht zwar auf wissenschaftlicher Analyse, sein Forschungsgegenstand, wird aber plastisch erzählt, wenn es zum Beispiel um die Fluchtwelle in Afrika geht, oder wenn er von der Aufforderung an den estnischen Ministerpräsidenten erzählt, der den Antrag auf den Verteidigungszustand zurückziehen soll.

Es sind nur 89 Seiten Szenarium, hinzu kommen Vorwort und ein ausführlicher Epilog. Dieser beinhaltet einige bemerkenswerte Aussagen: Da fällt zum Beispiel auf, „dass man der Ukraine Regeln für den Einsatz der gelieferten Waffensysteme auferlegte und sie somit zwang, sich gewissermaßen mit einer Hand auf den Rücken gefesselt zu verteidigen.“ (Seite 104)
Die nukleare Drohung wirkt wieder. Schließen sich China und Russland plus Weißrussland zusammen und entsteht so etwas wie (friedliche?) Koexistenz nicht wie zur Zeit des Kalten Krieges, dann könnte m.E. die notwendige Aufrüstung Europas in eine neu Rüstungsspirale führen, die dann nicht durch Begrenzungsabkommen beeinflusst wird. Dieses Szenario würde unsere Zukunft entsprechend beeinflussen. Es kommt auf jeden Fall, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten.

Die fehlende Resilienz, die fehlende gesellschaftliche Bereitschaft für notwendige Zusammenarbeit, die ohne Rüstung nur auf dem Papier stehen würde, spielt im Szenarion Masalas eine Rolle.

„Eine Gesellschaft, der nicht bewusst ist, dass ihre Form des Zusammenlebens durch hybride Kriegsführung bedroht ist, die nicht realisiert, dass Russland durch vielfältige Propagandamaßnahmen und Desinformationskampagnen das Vertrauen der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Institutionen und Verfahren erschüttern will, mit dem Ziel, die Demokratie als Staatsform zu diskreditieren, wird nicht die Bereitschaft entwickeln, resilient und widerstandsfähig zu werden. Dabei ist Resilienz die zentrale Voraussetzung, um die Aufgaben, die in den nächsten Jahren auf die europäischen Staaten zukommen werden, zu bewältigen. Denn Russland abzuschrecken und einzudämmen, kann nur gelingen, wenn die europäischen Gesellschaften bereit sind, den dafür anfallenden Preis zu zahlen.“ (Seite 115)

Der Autor:   Carlo Masala zeichnet sich in diversen Talkshows dadurch aus, dass er äußerst sachlich und ruhig aktuell militärpolitische Themen analysieren und erläutern kann. Dieses schmale Buch aus dem C.H.Beck Verlag weist ähnlichen Charakter auf. Der 1968 geborene Politikprofessor lehrt nicht nur an der Bundeswehr-Universität an der fast nur Soldatinnen und Soldaten – Angehörige der BW – studieren, er hat auch am NATO Defence College in Rom gearbeitet. Masala gehört zu denen, die die Bezeichnung Experte verdienen.

Dem Verlag C.H. Beck danke ich für das Rezensionsexemplar, welches mir die freundliche Mitarbeiterin auf der Leipziger Buchmesse überließ.




© Bücherjunge (06.04.2025)


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