Der einzige Schrecken, den in meinen Kinderjahren das Wort Impfen verursachte, war die Angst vor einer spitzen Nadel. Ansonsten war Impfen etwas völlig Normales. Eine Impfung war als Schluckimpfung, ein Stück Würfelzucker getränkt mit dem Stoff, vorgesehen. Die war gegen Polio (Polyomyelitis) gedacht, Kinderlähmung. Das muss was Hässliches gewesen sein.
In der dritten Staffel der Miniserie Charité wird ein Westberliner Junge in eine Eiserne Lunge gesteckt. Nebenbei wird die Geschichte erzählt, dass Walter Ulbricht, die Serie spielt unmittelbar zur Zeit des Baus der Mauer, dem Bundeskanzler 1 Million Dosen Impfstoff angeboten hatte, das Angebot wurde, weil es „Russenimpfstoff“ war, abgelehnt. Die Geschichte wird hier erzählt – eine Geschichte des kalten Impfkrieges. Womit wir beim Thema wären: Charité und Impfen.
Um was geht es?
Eigentlich stehen Wissenschaftler wie der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie selten im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Den hier aber kennen wohl alle, da reicht ein Blick auf das Cover des vorliegenden Buches: Prof. Dr. Christian Drosten (1972) ist der Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité. Er ist der Gesprächspartner des zweiten Autors dieses gedruckten „podcasts“, dem investigativen Journalisten Georg Mascolo (1964), ein ehemaliger SPIEGEL-Chefredakteur.
Das eigentliche Wort oder Problem, um welches es hier geht, ist noch gar nicht gefallen: Corona, Covid-19, Pandemie. Das sind schon drei Wörter. Diese lernten wir mit Beginn des Jahres 2020 mehr als zur Genüge kennen.
Bevor ich weitermache, bekenne ich: Dreimal geimpft, regelmäßiger Hörer des Podcasts des genannten Professors, weitgehend disziplinierter Bürger was Mundschutz und Selbstisolation betrifft, zweimal infiziert, davon einmal mit ganz leichten Nachwirkungen, beide Male Wochen nach Impfungen.
Wenn mir irgendetwas richtig auf den Zeiger ging, dann war es das Wort „Fernlehre“ – Telefonunterricht ohne Kamera, weil das Netz den Augenkontakt mit den Lehrgruppen nicht lange mitgemacht hätte. Was mindestens die Hälfte der Schüler tatsächlich gemacht hat, das können sie nur selber beantworten.
Zurück zu Drosten und Mascolo.
Das Buch:
„Warum ist Deutschland das einzige große Industrieland in Europa, in dem es in der zweiten Corona-Welle mehr Übersterblichkeit gab als in der ersten? Wurden die richtigen Maßnahmen ergriffen? Was ist dran an den Behauptungen, das gefährliche Virus stamme aus einem chinesischen Labor?“ (Verlag)
Vier Kapitel beinhaltet das Buch. In diesen sprechen bzw. schreiben die Autoren über die Pandemi und in diesem Zusammenhang über die Politik, die Wissenschaft, die Medien und über die Herkunft des Coronavirus. (Erst kürzlich gab es wieder Schlagzeilen über Wuhan in China. Als ob die Idee, es könnte ein Laborproblem gewesen sein, nicht schon 2020 diskutiert wurde.)
Besonders interessant sind die mal ähnlichen mal unterschiedlichen Blickwinkel. Der Journalist schaut Politkern aus Berufsgründen aufs Maul, der Virologe trat als deren Berater auf. Investigativer Journalismus bleibt ein wenig im Hintergrund, der Mediziner saß plötzlich gelegentlich in Bundespressekonferenzen.
Eines der großen Probleme: Schulschließungen „JA“ oder „NEIN“? Ich erinnere mich an so manche Eskalation in der öffentlichen Wahrnehmung. Der Virologe verärgerte die Politik und die Bevölkerung, als er von einem Tag zum anderen anscheinend die Meinung änderte.
„Ich sah tatsächlich am Anfang keinen besonderen Grund für Schulschließungen. Aber dann schrieb mir in der Nacht zum 12. März 2020, um auch genau zu sein, um 00: 03 Uhr eine aus Deutschland stammende Epidemiologin, die damals an der Columbia-Universität in New York lehrte. Ich kannte sie bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht. Sie hatte meine Einschätzungen im Podcast gehört und wies mich auf eine Studie hin, bei der der Verlauf der Spanischen Grippe in 43 amerikanischen Großstädten untersucht worden war. Diese Studie belegte, dass das Verbot von Versammlungen und die Schließung von Schulen die Ausbreitung des Virus besonders effizient verhindert hatten. Das Papier war aus dem Jahr 2007, aber ich hatte es nicht gelesen. ... Das holte ich umgehend nach und erkannte das Gewicht und die Qualität der Studie. Anschließend habe ich sofort öffentlich zugegeben, dass ich zu kurz gedacht hatte.Nur war ich deswegen ja nicht plötzlich »für« Schulschließungen. Ich benannte die Literaturquelle und gab an, dass Schulschließungen während der Spanischen Grippe ein effektives Mittel zur Eindämmung der Infektionskrankheit gewesen waren. Und ich gab auch den vermuteten Grund an: dass nämlich Kinder eine besondere Rolle in Übertragungsnetzwerken spielen, weil sie zu mehreren Altersgruppen intensiven Kontakt haben–also zu anderen Kindern, den Eltern und manchmal auch den Großeltern. Hätte ich das vielleicht verschweigen sollen? Ich frage mich manchmal, ob Politiker wissenschaftliche Befunde mit verhandelbaren Positionen verwechseln. Die wissenschaftlichen Befunde können wir liefern, zu den Positionen aber müssen die Politiker gelangen“ (Seite 43)
Dieses lange Zitat soll dazu genügen. Es geht natürlich auch um Masken, Tests, Virus-Mutationen und mehr. Auf dem Bild der Blogger mit einer von seiner Schwester zu Beginn der Pandemie genähten Maske, als diese noch nicht als "Grundrechtseingriff" angesehen wurde. (Ist ja auch Quatsch: Warum trägt meine Zahnärztin eigentlich medizinischen Mundschutz? Oder der Professor, der meine Hüftgelenke ausgetauscht hat?)
Der Professor Drosten, und man möge mir nachsehen, dass ich den mehr im Blick habe als den Journalisten, sah sich angefeindet, beleidigt, bespuckt. Neben der Forschung war es dann der Podcast, den er mit anderen bediente und dem zuzuhören war meist erhellend. Ich frage mich, wie viele den hörten. Klar, das kostet halt Zeit. Die größten Rufer (oder eher Schreier) auf nach wenigen Monaten beginnenden Corona-Demos hörten den sowieso nicht, glaube ich. Die schauten auf ganz andere Formate, meist wenig wissenschaftlich.
Der Journalist dagegen erzählt von den Politikerrunden, ob mit oder ohne Virologen. Er erwähnt, wie wenig sinnvoll es ist, wenn unmittelbar danach oder gar während der Besprechungen schon Inhalte nach außen drangen, oder dass die Länder gleich alles anders machten als in der Ministerpräsidentenwoche gerade festgelegt...
Mascolo: „Viel wurde aus diesen Beratungen in Echtzeit nach draußen getragen, das beschäftigte die Runde ständig. Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther nannte es »total zum Kotzen«. [ 90 ] Einmal überlegte eine Runde in der Bundesregierung, ob man nicht ein Verbot von Handys in den Sitzungen einführen könne, so wie man früher im Wilden Westen seinen Revolver vor dem Betreten eines Saloons abgeben musste. Im »führenden Hinterzimmer« der Republik, wie es der Spiegel nannte, entstand ein immer größeres Misstrauen, da war das Gefühl, das Krisenmanagement könne durch die Liveticker schlicht unmöglich werden. [ 91 ] Söder sagte, es komme der Punkt, wo man durch ständige Indiskretionen »nicht mehr handlungsfähig« sein könne. [ 92 ] Das ist ein großes und gefährliches Wort in einer Krise. Allerdings waren es Bruchstücke, die nach draußen drangen, oft ohne Einordnung und Kontext. Manchmal entstand so ein richtiges, manchmal ein unvollständiges oder auch falsches Bild. Was besonders problematisch war: Kein Tonband lief in diesen Beratungen, es wurde nicht einmal ein anständiges Protokoll geführt. Nicht einmal Historiker würden also später nachvollziehen können, wie die in der Geschichte dieses Landes einzigartigen Entscheidungen getroffen wurden. Leider reiht sich das ein in ein generelles Transparenzdefizit, man denke nur an die vielen SMS-Nachrichten, die heute im politischen Betrieb für die Abstimmung und Entscheidungsfindung zentral sind. ... Aber sie finden sich so gut wie nie in den Akten. Es gibt keine Nachvollziehbarkeit mehr, und das ist eine Gefahr für die Demokratie.“ (Seite 64)
All das breiten Drosten und Mascolo vor uns aus, nicht immer sie einer Meinung. Gegen Ende geht es darum, wie die nächste Pandemie verhindert werden kann und für die kollektive Erinnerung findet sich am Ende eine Chronologie. Man kann natürlich auch den Podcast hören in der ARD Audiothek, die ersten Folgen zu finden ist nicht ganz leicht. Übrigens läuft gerade die letzte Staffel... auch dieser Rückblick ist empfehlenswert.
Aufarbeitung: Das Buch und die aktuellen Podcastfolgen widmen sich nicht nur rückblickend der Aufarbeitung. Von der Politik hören wir wenig und im Wahlkampftheater oft die Forderung nach Untersuchungsausschüssen und den Landesparlamenten und im Bundestag. Wie soll das werden? Ein paar Abgeordnete und vor Ihnen eine vorgeladene Person? Merkel, Lauterbach, Drosten, Kekule, Streek, Spahn nicht zu vergessen... Vorwürfe, Fragen wie vor Gericht und etwas anderes würde der Ausschuss auch nicht sein – hier bin ich mal pessimistisch.
Da lobe ich mir solche Bücher, in denen man blättern kann und eben diesen Podcast. Untersuchen muss man den Umgang mit dieser Pandemie ganz gewiss. Aber wie? Am besten wäre, die neue Regierung beauftragt drei Universitäten und dort verschiedene Fakultäten mit der wissenschaftlichen Untersuchung. Festgelegt Abgeordnete dürfen den Stand jederzeit abrufen und begleiten. Bildung, Handel, Gesundheitswesen. Impfung, Kosten, Material. Soziologie, Demografie, Meldewesen... (Bis heute verstehe ich nicht, wieso in dem Land, welches einst den großen Generalstab erfand, kein Meldesystem entstand, das zweimal am Tag genaue Zahlen liefert. Nicht erst am Mittwoch mit dem Hinweis auf die ungenauen Zahlen vom Wochenende...)
Fazit: Das Buch leistet einen hervorragenden Beitrag und führte dazu, dass ich eigene Ansichten hier und da doch hinterfragte. Zudem erscheint es mir, dass dies ein ehrliches Buch ist. Mir sind die Wissenschaftler als Quelle auch weitaus lieber als irgendwelche Kommentatoren; auch deshalb habe ich FREIHEIT von Angela Merkel gern gelesen, in dem sie ja auch und zwangsläufig auf die Pandemie eingeht.
Liest man diverse Kommentare unter Rezensionen, findet sich Kritik meist in Hinblick auf vermutete Unehrlichkeit und fehlendes Schuldeingeständnis. Dazu siehe oben das lange Zitat.
Der Podcast von Ines Bellinger, in dem die Virologen Christian Drosten und Sandra Ciesek bietet eine gute Ergänzung. Vor allem ist es die Unaufgeregtheit, in der, ob rückblickend oder aktuell, Probleme und Aspekte besprochen werden.
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- DNB / Ullstein-Verlag / Berlin 27.06.2024 / ISBN: 978-3-3550203022 / 272 Seiten
- Christian Drosten - Wikipedia
- Georg Mascolo - Wikipedia
Baum, Beate: LOCKED ... / Sackers-Böhm, Sylvia: Zwei x Medizin - Geschichten / Nguyen-Kim, Mai Thi: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. / Günther, Ralf: Arzt der Hoffnung
Nachtrag:
Heute (17.05.2025) in der sächsischen Zeitung. Die sächsische AFD hat sich natürlich hervorgetan und der Landtag hat den Untersuchungsausschuss zugelassen. Nun, warum auch nicht, denn vielleicht verstehen dann dort bestimmte Leute, dass die Wissenschaft keine punktgenauen ewig gültigen Postulate verfasst und das die Politik schon ihre Hausaufgaben machen muss.
Die Wissenschaft und Prof. Dr. Christian Drosten haben die ihren gemacht…
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