Ian McEwan, geboren 1948, hat bisher seltsamerweise nur einen Post in unserem Blog erhalten. Sein Roman ABBITTE wurde ein Weltbestseller und mit Keira Knightley auch verfilmt.
Im Jahr 2016 suchte ich nach einem passenden Geschenk für „engere Verwandtschaft“ und stieß, in Erinnerung auf ABBITTE nun auf KINDESWOHL.
Im Jahr 2016 suchte ich nach einem passenden Geschenk für „engere Verwandtschaft“ und stieß, in Erinnerung auf ABBITTE nun auf KINDESWOHL.
„In jeder Frage der Sorge für die Person eines Kindes… hat das Wohl des Kindes dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen."
(Abschnitt 1 (a) des britischen Children Act 1989)
Ian McEwan erzählt von Fiona Maye, einer Londoner
Familienrichterin. Sie spricht Recht am High Court, Scheidungen, Sorgerecht,
Fragen zum KINDESWOHL sind ihr Arbeitsgebiet. Selber haben Jack, ihr Ehemann, und Fiona keine
Kinder und momentan hat sich eine Ehekrise angebahnt, denn Jack will noch mal
den „großen Kick“. Er macht ihr den
schockierenden Vorschlag und verlang die Freigabe für einen Seitensprung. Noch
einmal Sex in „wilder Extase“, so wie früher. Er wäre jetzt 59 und da wird es
wohl Zeit.
Adam heißt ein gerade noch Siebzehnjähriger, der mit
Leukämie und guten Heilungschancen im Krankenhaus liegt. Zwei der notwendigen
Medikamente erfordern allerdings Bluttransfusionen, denn die vorgeschlagene
Therapie zur Bekämpfung der Leukämie ruft erst einmal eine Anämie hervor. Der
Junge und seine Eltern sind Mitglieder einer Gemeinde der Zeugen Jehovas und
die empfinden Bluttransfusionen als einen satten Verstoß gegen Gottes Wort.
Es ist die Klinik, die das Gericht anruft, sie will den
Jungen retten. Fiona Maye entschließt sich, den schwerkranken Jugendlichen im Krankenhaus
zu besuchen, die Zeit eilt. Die Ärzte rechnen bereits in den nächsten
vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden mit einer zunehmenden
Verschlechterung seines bereits schon von Schwäche und Atemnot gekennzeichneten
Zustandes.
Nach dem Besuch fährt sie zurück in das Gericht und spricht
ihr Urteil…
* * *
Das ist, wenn man so will, Teil eins. Sie hat zu entscheiden
zwischen dem Glauben von Eltern und Sohn, die bisherige Rechtsprechung
verlangt, dass der Wille eines fast Erwachsenen zu werten ist wie der eines eben
Erwachsenen. In der Tat, Adam ist ein weit entwickelter junger Mann, der die
Richterin, Mylady, beeindruckt hat.
Sie kommt aber zu dem Schluss, dass ein Siebzehnjähriger
kaum „Gelegenheit gehabt [hat], sich auf
dem unüberschaubaren Feld religöser und philosophischer Ideen genauer umzusehen.
Es gibt in dieser christlichen Sekte, deren Mitglieder sich selbst – mit Recht,
wie manche meinen – als >die anderen Schafe< bezeichnen, keine Kultur der
offenen Diskussion oder des Widerspruchs. Ich glaube nicht, das A.´s Denken und
seine Ansichten ganz und gar seine eigenen sind. Er wurde in seiner Kindheit
pausenlos und einseitig einer rigorosen Weltanschauung ausgesetzt und muss
daher zwangsläufig von ihr geprägt sein. Es kann nicht seinem Wohl dienen,
einen qualvollen, unnötigen Tod zu erleiden und zum Märtyrer seines Glaubens zu
werden.“ (Seite 130 f)
KINDESWOHL. Und Adam ist von Rechts wegen doch noch ein Kind.
Daher…
* * *
Doch der Besuch im Krankenhaus hinterlässt noch andere
Spuren, denn eben die Konfrontation mit anderen Ansichten löst bei dem Jungen
noch mehr aus. Er schreibt Mylady, sie lässt die Briefe unbeantwortet, sie hat
Recht gesprochen, Zuneigung ist nicht vorgesehen.
Sie fährt mit einigen anderen Richtern quer durch England
und spricht in verschiedenen Orten Recht. Sehr interessant – erinnert an die
Reisekaiser und Reisekönige die von Pfalz zu Pfalz reisten und dort auch Recht
sprachen. England eben. Das Rechtssystem ist sehr traditionell, die Achtung vor
den Gerichten ist vermutlich viel größer als bei den Deutschen, die zwar Recht
und Ordnung wollen, selbst aber nicht davon berührt sein möchten.
Doch die unmittelbare Vergangenheit holt sie ein. Was wird
aus dem Jungen werden? Was wird aus ihrer Ehe?
* * *
Wie weit geht das Recht des Einzelnen? Kann ein noch nicht
Volljähriger über sein Leben frei entscheiden? Wie doktrinär sind solche
Religionsgemeinschaften oder gar Sekten?
Interessant das Recht des Einzelnen: Jack und Adam, in jedem
Fall geht es um das Recht des Einzelnen, völlig unterschiedlich und sicher auch von sehr unterschiedlicher Bedeutung. Beide sind eng verbunden mit der
eigentlichen Hauptfigur, die also zweimal schwere Entscheidungen ohne Hilfe von außen
zu treffen hat. Nur scheinbar ist die eine leichter als die andere zu treffen. So schnell kommt auch zu moralischen Fragen. Für Außenstehende erscheint die Lösung vermutlich noch einfacher.
IanMc Ewan hat einen sehr guten Roman geschrieben, der die
Leserin, den Leser in die Geschichte bannt. Meisterhaft baut er die Spannung
des Dramas auf. Der Leser ahnt, dass die Handlung auf ein Drama zusteuert
* * *
Heute fand ich im Netz die Literaturverfilmung zu Kindeswohl. Die Richterin spielt eine großartige Schauspielerin, die den meisten filminteressierten Lesern sicher bekannt ist: Emma Thompson, die einzige Person bis heute, die nicht nur nur einen Oscar als Schauspielerin sondern auch für das beste Drehbuch erhielt.
Ausgewogen und ruhig, ohne jede Effekthascherei begegnet uns diese Geschichte, auch im Film wird den Zuschauern wie schon den Lesern nicht "vorgeschrieben" wie die Entscheidung lauten sollte.
Ist die oben zitierte Entscheidung für den Minderjährigen sehr verständlich, den wenige Monate später erwachsenen Patienten betrifft sie nicht mehr. Doch die, die für das Kind die Entscheidung traf, und auch das ist eine Botschaft des Films, urteilt nicht nur nach Recht und Gesetzt sondern als Mensch. Und so wird sie das Schicksal des Jungen weiter berühren, der erneut und diesmal nur für sich eine Entscheidung zu treffen hat...
Ian McEvan hat das Drehbuch zu diesem Film verfasst und so wird man sich nicht wundern, wenn der Film den Roman fast Eins zu Eins in Bilder umsetzt.
* * *
Es sind keine allzu dicken Romane, die Ian McEwan, dessen
Bücher bei uns im Diogenes Verlag herausgebracht werden, inhaltlich ist das nun
mein zweiter sehr tief gehender Roman, von dem durch die Königin geadelten
(Commander oft he British Empire) Schriftsteller, der seine Professsion auch
richtig studiert hat. Er studierte englische und französische Philologie und
englische Literatur. Ein Kurs zu kreativem Schreiben während des Studiums
machte ihn, der auch unterrichtete, später dann ab 1975 zum freien
Schriftsteller.
Es ist bestimmt nicht der letzte McEwan – Roman, den ich
gelesen habe.
► zuerst veröffentlicht am 26.06.2016
► Webseite von Ian McEwan
► Interview zum Roman.
© Bücherjunge (19.06.2024)
Der Autor steht auch noch auf meiner 'Will-ich-lesen'-Liste... Ich brauche echt mehr Zeit!
AntwortenLöschenJa, auf meiner auch. Recht interessante Themen ...
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