Freitag, 5. Mai 2023

Orwell, George: 1984

 Perlen der Literatur - Eine Reihe aus dem Input Verlag.

Vor vierundsiebzig Jahren erschien im Juni 1949 der Roman Nineteen Eighty-Four, im Deutschen 1984 von George Orwell (1903 – 1950). Nachdem der Text zu diesem Buch nunmehr gemeinfrei geworden war, gab es eine Reihe neuer Übersetzungen. Für den INPUT-Verlag und für die Reihe Perlen der Literatur übersetzte Gerrit Pohl den Roman neu und schrieb dafür ein Vorwort sowie das Nachwort. Verschiedene Übersetzungen zu vergleichen ist meine Sache nicht. Warum mir die hier vorliegende Ausgabe allerdings gut gefällt, ist Gegenstand dieser Buchbesprechung. 


Inhalt: Orwell hat den Roman in drei überschriftslose Kapitel eingeteilt, die auch nur Eins, Zwei und Drei benannt sind. Eins beinhaltet die Schilderung des dystopischen Überwachungsstaates. Winston Smith Arbeit im Wahrheitsministerium – Minitrue –, seine Beschäftigung dort besteht in der Veränderung oder Neufassung alter Nachrichten auf Grund neuer „Erkenntnisse“ des Großen Bruders - Big Brother. Die daraus resultierende „Geschichtsfälschung“ ist schon keine mehr, denn inzwischen werden ja die „Fälschungen“ gefälscht. Dann lernt Winston Julia kennen...

Zwei erzählt von der beginnenden Liebe zwischen Julia und Winston, dem Weg in den inneren Widerstand gegen die Diktatur und der Verhaftung der Hauptfigur. Im Drei geht es um Gefangenschaft, Folter und darüber. dass die auch durch Folter erfolgte Gehirnwäsche funktioniert. Winston steht wieder an der Seite des Großen Bruders.
Unter den drei Losungen KRIEG IST FRIEDEN / FREIHEIT IST SKLAVEREI / UNWISSENHEIT IST STÄRKE herrscht der GROSSE BRUDER mit der Inneren Partei über die Mitglieder der Äußeren Partei und die Proles. Dieses Ozeanien kämpft angeblich gegen Eurasien und scheint momentan mit Ostasien verbunden zu sein. Aber Winston Smith gehört zu denen, die letztlich dafür sorgen, dass das eigentlich keiner außerhalb der inneren Partei mehr weiß.

Seine Aufgabe ist es, bisherige Aussagen und damit die „Geschichte“ richtig zu stellen. Zum Beispiel hat er ältere Zeitungsartikel zu ändern, wenn der Große Bruder andere "Erkenntnisse" hat. Diese werden zur „Wahrheit“, denn die ursprüngliche Aussage wird umfassend gelöscht, sie ist nicht mehr vorhanden, die Fälschung selbst ist nicht mehr vorhanden. Dabei geht es hier um ökonomische Zahlen oder Ergebnisse und dort um militärische Erfolge. 

Der Leser, oder auch Winston und Kollegen, könnte sich zum Beispiel die Frage stellen, ob da tatsächlich jemand gegen Eurasien kämpft.  „Geschichte war nichts weiter als ein Palimpset.“ (Seite 53) Ein Palimpset ist ein antikes oder mittelalterliches abgeschabtes und neu verwendetes Schriftstück oder Pergament. 

Orwell schlug sich als Gelegenheitsarbeiter, Hopfenpflücker und auch als Tellerwäscher durch. Er lebte in bitterer Armut. Daher hatte er auch direkte Ansichten zur Lage der arbeitenden Bevölkerung, den Arbeitern in den Industrierevieren Englands. Arbeiter = Proletariat = Proleten = Proles. So nennt er die, die in "1984" die unterste Schicht oder besser Klasse darstellen, im fiktiven Land OZEANIEN - eine von drei Supermächten, bestehend aus Nord- und Südamerika und England gegenüber EURASIEN und OSTASIEN.

Zur Erinnerung - Proletarier: Im alten Rom war das die unterste Klasse, Menschen, die nicht mal als Legionäre zu verwenden waren, weil sie ihre Ausrüstung nicht selbst besorgen konnten (Proletarii). Nach Marx und Engels die Klasse ausgebeuteter Lohnarbeiter, die keine Produktionsmittel besitzen und damit nur ihre Arbeitskraft verkaufen können. Außerdem heißt PROLES = Nachkomme. Proletarier haben als einzigen Besitz ihre Kinder. 

Doch seltsamerweise sind diese nicht das eigentliche Ziel des GROSSEN BRUDERS und seiner Diktatur, deren Philosophie der ENGSOZ ist, der englische Sozialismus. Nein, in dieser seltsamen Diktatur sind es die mittleren Beamten, die Mitglieder der sogenannten Äußeren Partei, herausgehoben gegenüber den PROLES und unterprivilegiert gegenüber den Mitgliedern der Inneren Partei, die die Macht ausüben in Ozeanien.  Diese "inneren" Parteimitglieder werden durch einen weiteren ganz engen Kreis "geleitet", ohne dass der Leser diesen kennenlernt. Der Diktator selbst, der GROSSE BRUDER, existiert gar nicht. 

Es gibt keine Liebe, keine Freiheit, nur Kollektivismus, nichts ist verboten und doch wird alles verfolgt. Beängstigend. Parallelen zu den Schauprozessen in der Sowjetunion, dem NKWD unter Berija, Geheimdienstchef Stalins, oder auch den Methoden der GESTAPO, oder den "Prozessen" des deutschen Volksgerichtshofes sind erkennbar. 

Orwell, der am spanischen Bürgerkrieg teil nahm, lernte als Anhänger einer trotzkistischen Partei* , die Kommunistenverfolgung durch Kommunisten kennen. Er analysierte dahingehend den spanischen Bürgerkrieg im Buch MEIN KATALONIEN. 




So ist seine eigene Geschichte die Ursache für dieses Buch, bei dem Leserinnen und Lesern Schauer über den Rücken laufen. Die Überwachung im real existierenden Sozialismus war viel subtiler, trotzdem sind Vergleiche möglich. Die Dystopie dagegen besteht in der allumfassenden Überwachung mit technischen Mitteln.

Die Beeinflussung geschieht durch die Allgegenwart des Großen Bruders in Form von überall aufgestellten Telescreens, Schauprozessen, Versammlungen bis zu öffentlichen Hinrichtungen. Die Sprache wird zu „Neusprech“ umgeformt, sie dient damit der „Doppeldenk“-Methode. Für Winston heißt das, dass er die Lügen, die er durch die „Korrektur“ von Nachrichten und Berichten erzeugt, auch selber glauben soll und am Ende auch glauben wird.

„Neusprech“ ist eine Sprache, die in der weiteren Verkürzung des alten Englisch zu entwickeln gilt. Eine Vielzahl von Sprachregelungen führt zu neuen „Wertschöpfungen“. Ein Wort ist zum Beispiel „vaporisieren“ in der Bedeutung „zu Dampf machen“, „verdampfen“. Die alten, von Winston geänderten Nachrichten werden vaporisiert, Menschen aber ebenso, wenn sich keiner mehr an sie erinnern soll.

* * *



Das Buch: Die vielen Übersetzungen der letzten Jahre sind vielfach besprochen und miteinander verglichen worden. Eine besonders (kosten-) günstige Auflage Orwellscher Werke aus dem Anakonda - Verlag ist diese ins Auge fallende Gestaltung:




Warum nun aber plädiere ich für die Perlen-Ausgabe? Der INPUT-Verlag hat für die Reihe Perlen der Literatur den Orwelschen Roman mit aufgenommen, weil dieser im 20. Jahrhundert erschienen ist und nicht nur in den Jahren nach seinem Erscheinen, sondern auch aktuell erfolgreich ist. 

Der Vorteil der vorliegenden Ausgabe besteht in den Fußnoten, die auf einen angefügten Glossar verweisen, in dem Begriffe wie „Neusprech“, „Doppeldenk“, „Ingsoc“ (englischer Sozialismus) und andere erläutert sind. Zudem hat der Übersetzer, Geritt Pohl, ein Vorwort und ein Nachwort verfasst, die den Lesern helfen, dieses „seltsame“ Werk einzuordnen. Im Vorwort reflektiert der Übersetzer auf die „Würde des Menschen“ und kommt zum Schluss, dass es ein Segen sei, wenn 1984 nicht eintraf. Im Nachwort geht er insbesondere auf George Orwells Leben ein.

Zudem ist interessant, dass Pohl den bekannten Satz The Big Brother is watching you als solchen in Englisch stehen lässt und selbst nicht übersetzend interpretiert. ("sieht dich", "wacht über dich", "beobachtet dich") 

Die gediegene Ausführungen der Bände „Perlenreihe“ spricht für sich, der Verlag wirbt ja auch mit dieser, Fadenheftung, Bauchbinde als Lesezeichen, jeder Band hat eine andere Typografie und die Vorsatzseiten passen zum Thema. Kalligrafische Elemente erleichtern die Lesbarkeit und weisen auf besondere Textstellen hin. Am Ende gibt es bibliografische Hinweise auf frühere oder Erstausgaben, das wäre übrigens ausbaubar, eventuell mit farbigen Abbildungen.



* * *




Fazit: Nineteen-Eighty-Four ist eine hoffnungslose Dystopie, im Gegensatz zu den modernen Dystopien.

Der heute oft gebrauchte Begriff Fake News bedeutet ja immerhin, dass es noch „Wahrheit“ und „Unwahrheit“ gibt. Aber das direkte Lügen und das Verbreiten von solchen wird nicht mehr nur von Diktatoren, sondern von sogenannten Führern der freien Welt gebraucht, zu nennen wäre dabei der vorletzte Präsident der USA. Ließ dies die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen; ist dies auch ein Grund für die vielen Neuauflagen und Übersetzungen? Orwells 1984 wird von Gegnern der Demokratie gern gebraucht und zitiert, „Neusprech“ zum Beispiel mit „Gendern“ verglichen.

Man sollte es endlich lesen, wenn man noch nicht früher dazu griff, und sei es, um festzustellen, dass wir beileibe nicht in der von Orwell beschriebenen Welt leben.

Gerrit Pohl erklärt im Vorwort: 
"Geschrieben um 1948, ist "1984" das Nonplusultra aller Anti-Utopien (Dystopien) und dass die Finsternis, die in Orwells Roman herrscht, im wahren 1984 nicht eintrat, sollten wir als Segen empfinden. Und darauf bauen: 'Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei' "
Nicht das schlechteste Schlusswort für diese Buchbesprechung, welche nicht die erste auf Litterae-Artesque ist. Anne Parden besprach den Roman bereits im Jahr 2014

Ergänzen möchte ich diese Rezension durch die folgende videografische Besprechung, die mir sehr gut gefällt und beim Verstehen des Romans und der Problematik jüngst gut geholfen hat.


Videos (Postcast)




  • Porträt George Orwell: Von Branch of the National Union of Journalists (BNUJ). - https://web.archive.org/web/20080608013945/http://www.netcharles.com/orwell/pics/orwell-unioncard.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2001660
  • * Trotzki lehnte sich als Mitglied der Parteiführung der KPdSU - Bolschewiki - gegen die Art und Weise des Sowjetkommunismus auf, emigrierte und wurde in Mexiko vermutlich durch den NKWD ermordet

© Dresdner Bücherjunge

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