Montag, 7. November 2022

Langgässer, Elisabeth: Proserpina - Eine Kindheitsmythe

  „Denn das Haus stand an der Römerstraße, und der uralte Boden teilte noch immer die Geschenke der Vorzeit aus, wenn der Landmann mit dem Pfluge darüber ging, und weckte der Erinnerungen viele. Man stieß den Spaten in den Schlaf der Legionäre und hob Schild und Harnisch, aber auch die Mischgefäße der Freude, Schale und Becher...“ (Seite 13)

In diesem Haus lebt ein Kind, ein Mädchen, dessen Geschichte im Verlaufe eines Jahres erzählt wird, von Frühling zu Frühling. Doch ist das Kind, welches auf späteren Seiten dann Proserpina genannt wird, nicht einfach ein Mädchen, denn mit ihm wird eine mythologische Geschichte erzählt. Proserpina (römisch) oder Persephone (griechisch), Tochter von Zeus (Jupiter) und Demeter (Ceres), lebte als Kind „in einem blühenden, in seiner unermesslichen Fruchtbarkeit auch unheimlichen Garten, ganz nah einer eigenen und in ihrer Umgebung drohenden Todesahnung.“ (Seite 6)

Diesen Garten blättert Elisabeth Ganggässer vor den Lesern auf und erzählt eine duale Geschichte: kindlich und erwachsen, Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Wachsen und Vergehen, Wachen und Träumen, eine Geschichte der Jahreszeiten. Dreh und Angelpunkt ist das Kind im Garten.


Inhalt: Zu Beginn ist das Kind erkrankt und schwebt zwischen Licht und Dunkelheit so wie die Proserpina, deren Hand einst Pluto (Hades) von Jupiter erbat. Der Vater der Götter meinte jedoch, dass Ceres, die Mutter es nie erlauben würde, dass das Kind als Königin der Unterwelt und der Toten dauerhaft im Tartaros leben würde. Gleichwohl entführte der Gott der Unterwelt das Kind und Jupiter erlaubte später, als Ceres davon erfuhr, dass Proserpina ein halbes Jahr diesseits und ein halbes Jahr Jenseits leben sollte.


Raub der Proserpina
Diese Dualität erleben Leserinnen und Leser vielfach in diesem Buch, angekündigt zu Beginn:

„Je mehr das Kind aber genas und die sanfte Stille des Krankenzimmers von den offenen Schauplätzen künftigen Lebens abgelöst wurde, desto inniger trauerte sein Herz den göttlichen Gestalten der Vorzeit nach und begann, sie in Schattenreichen zu suchen, wie jener Sänger einst Eurydike; ja es fing an, ihnen einen Kult zu bereiten, der ebenso entsetzlich wie süß und kindisch war. Es würden aber, die ihn gesehen hätten, schaudernd gesagt haben, dies sei der Kult des Pluto und der Proserpina...“ (Seite 16/17)

Dunkel der Text seitenweise und dann wieder strahlend hell. Das kranke Kind, dem „schmolz der Himmel einer Kindheit sich wie am kämpfenden Gewittern am Horizonte nieder, die obst- und rebenreichen Hügel der heimatlichen Landschaft spalteten sich unter Beben, verborgene Weissagung raunend, und fortab fing die Träumende am Ufer schwarzer Ströme, während unendlicher Regen auf kleine eingesunkene Gräber herniederrauschte, die ein trauernder Mädchenengel mit aufgestützter Wange hütete.“ (Seite 31/32)

Und dieser geschriebenen Dunkelheit steht das Helle gegenüber, das die Geschenke für das kranke Kind quellen über in Farben und Form: Da „ruhte bald eine strahlende Orange, deren Rundung  zu umfassen tröstlich war, in der schwachen Hand des Mädchens, bald dufteten fette Datteln aus grell bemalten Schachteln und standen in Blumenscherben, worein man ihre Kerne gesenkt hatte, wieder auf; zerrissene Feigen ergossen ihr körniges Innere; saftstrotzender Ananas mächtige Fibern erglänzten wie goldhelle Speichen und rollten am Wagen des pfälzischen Bacchus ihr heiteres südliches Rad.“ (Seite 34)

Um diesen Wechsel von Dunkelheit und Licht zu verdeutlichen und die Geschichte der Proserpina im Text zu finden noch diese zwei Textstellen: „Proserpina stand jetzt dicht vor der Pforte; und zum ersten Mal fühlte die Tochter der Ceres, dass der holde und liebevolle Schoß der Dinge zugleich Ursprung aller Ungeheuer und Grab der Lebendigen ist.“ Alles Sichtbare war voll tiefer Beruhigung und bildete eine Mauer gegen das Nichtsein und den Abgrund... „Nur das Ungreifbare war Bedrohung: Schlaf, Träume und die feurigen Brände des Blutes – und mit mächtigen Flügeln stand bis hierher eine helle und strahlende Tageswelt um die Zitternde und verbarg vor ihr die braune Geisterschar.“ (Seite 42/43)


Das Mädchen besucht den Garten ständig, begegnet einer alten Gärtnerin, Greisin, die ihr wie eine Zauberin vorkommt, sie trifft auf den Gärtnerjungen Jakob, der die Rolle des Pan im Buch übernimmt. Im obigen Stil finden sich dabei vielfach Natur und Pflanzenbeschreibungen.

Mit dem langen Tode des geliebten Vaters, der „das schaurige Ende des Gartenglücks“ (Ueckert) für das Kind bedeutet, endet das Jahr und die Mutter verkauft das Besitztum, zerbrochenes Spielzeug wie eine „ermordete“ Puppe im Gebüsch versink in der Erde und...

„Nur die Erde bewahrt schweigsam das Gedächtnis all jener Schrecken, die hier erzählt worden sind. Sie hatte manches zu hüten und hütete dies nicht allein. Denn das Haus stand an der Römerstraße, und der uralte Boden teilte noch immer die Geschenke der Vorzeit aus, wenn der Landmann mit dem Pfluge darüber ging, und weckte auch diese Erinnerung.“ (Seite 187)

* * *

Lesen - Der Text. Der modernen Leserin, dem modernen Leser, den Jüngeren, fällt das Lesen dieses Buches vielleicht etwas schwer. Solch breiten Text, wir würden vielleicht auch ausschweifend dazu sagen, sind wir nicht mehr gewohnt. Kurze knappe Aussagen, nicht allzu „langweilig“ in nicht allzu dicken Büchern werden verlangt, sofern man nicht, wie der Blogger sich auch in tausendseitige historische Romane versenken kann. 

Charlotte Ueckert, die das Vorwort schrieb, bezeichnet diese Sprache dann als „mystisch und dunkel,. aber auch voller unterschwelliger Erotik.“ Das Buch erschien 1932 und damals schrieben die Autorinnen und Autoren augenscheinlich noch anders. Wortgewaltiger, mit breit angelegten Beschreibungen, unter Verwendung unzähliger Adjektive und Adverbien, in langen Sätzen und Absätzen.

Selbst fällt mir dazu Kurt Arnold Findeisen ein, der mit DER GOLDENE REITER UND SEIN VERHÄNGNIS (1954) auf ähnliche Art und Weise die Zeit um August den Starken und vor allem die bildende Kunst erzählte, oder sächsische Geschichte in FLÜGEL DER MORGENRÖTE (1956). Ein Textbeispiel findet sich in dieser Rezension

Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang noch Theodor Storm, dessen POLE POPPENSPÄLER mir in den Sinn kommt, auch hier findet sich ein Beispiel in der Rezension.

Nicht, dass es keine sprachgewaltigen Autoren mehr gibt: Wie Frank Goldammer in DER ANGSTMANN das Bombardement am 12./13. Februar 1945 oder die Kriegserlebnisse eines Heimkehrers aus der Gefangenschaft in TAUSEND TEUFEL beschreibt, wie Patrick Süßkind in DAS PARFÜM die Düfte der verschiedenen Ingredienzien darstellt oder wie Uwe Tellkamp in DIE SCHWEBEBAHN - DRESDNER ERKUNDUNGEN die Fahrt mit der Schwebebahn am Elbhang in Dresden erzählt , das sind durchaus Sprachbilder von besonderer Wirkung und sicher ließen sich noch einige mehr aufzählen.

Solche Sprachbilder erzeugt auch Elisabeth Langgässer, jedoch kommt damit besser zurecht, wer sich mit antiker Mythologie, sei sie griechisch oder römisch Einigermasse oder besser auskennt. Oder man „googelt“ in einem fort nach Penaten (Schutzgötter), Dioskuren (Castor und Pollux), orphische Hirten, Silvane, Dryaden (Baumgeister), Syrinx (Nympfe) und so fort.

Ueckert schreibt, dass sich die Menschen in der Zeit der Veröffentlichung des Romans damit noch besser auskannten, vermutlich weil an den bürgerlich-humanistischen Gymnasien und Lyzeen Latein und Griechisch unterrichtet und antike Werke im Original gelesen wurden. Auf die mystische und dunkel überhöhte Sprache wird sich nicht jeder Leser einlassen können und wollen, spannend kann es aber sein. Gegenwartssprache kann als Maßstab nicht herangezogen werden. (vgl. Vorwort)

Insofern bereitet das Vorwort die Leserin und den Leser auf das vor, was dann kommt.

* * *


Elisabeth Langgässer wurde 1899 in Alzey geboren, wurde Lehrerin und veröffentlichte Lyrik und Erzählungen. Nach dem zweiten Weltkrieg wird sie als Autorin in Deutschland bekannt mit Lyrikbänden und 1946 mit dem Roman DAS UNAUSLÖSCHLICHE SIEGEL In ihren Werken geht es um Glauben und Unglauben, Gut und Böse wobei die Tochter eines Juden ihre katholische Lebensauffassung offenbart. Postum, sie starb 1950, erhielt sie den Georg-Büchner-Literaturpreis.

Das Buch: Vor uns liegt ein schönes Buch, das kann man durchaus so sagen. Fadenheftung, Blauer Leineneinband mit in Silber geprägter Beschriftung. Bestimmte Textstellen sind kalligrafisch hervor gehoben, wie auf dem Bild etwas weiter oben. Jeder Band hat ein anderes Vorsatzpapier, hier wurde die Form eines Apfels gewählt, handelt die Geschichte doch von einem üppigen Garten. Eine Besonderheit ist die Bauchbinde, auf der in der Art eines Wordscrabbles für die Geschichte bedeutsame Wörter und Begriffe in bunten Farben aufgebracht sind. Zudem ergeben diese Bauchbinden auf den nebeneinander stehenden Büchern dien Schriftzug „Perlen der Literatur“. Jedes der Bücher weist eine andere Typografie auf. In einem bibliophilen Rückblick wird eine Ausgabe von 1949 beschrieben.

Perlen der Literatur benennt der Verlag und Herausgeber Plenz diese Reihe. Sie wollen damit Neuland beschreiten und Titel wieder auferstehen lassen, die einst, im 19. und 20. Jahrhundert erfolgreich waren und auf die eine oder andere Art und Weise etwas besonderes darstellen.



BuchBerlin: Gefunden habe ich Verlag und Buchreihe auf der kleinen Buchmesse BuchBerlin im September 2022. Einige Titel sind mir durchaus bekannt, wie DIE SCHATZINSEL von R.L. Stevenson oder G. Orwells 1984. Von manch anderen hatte ich noch nie gehört. Eine interessante Reihe, die nun zu einer Sammlung aufwachsen wird. Zu empfehlen ist auf jeden Fall die Vorstellung auf der Webseite des Verlages.



es folgt: SEEFAHRT TUT NOT! von Gorch Fock



© Bücherjunge

3 Kommentare:

  1. Angesichts der von dir gewählten Zitate wage ich mal zu behaupten: das wird ein anstrengedes Projekt. Sieht sicher schön aus im Regal, aber gleich Band 1 hätte mich persönlich schon abgeschreckt, sage ich mal so ehrlich. Hut ab, wenn du das durchziehst. Da gibt es sicherlich einiges zu entdecken.

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    1. Da sind ja auch ganz andere Bücher dabei. Auch welche, die man kennt. Grüße an den Niederrhein. Der Bücherjunge.

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  2. Der Verleger meint, die Folgebände wären nicht so schwierig.
    Grüße aus einer Pause, der Bücherjunge

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