Dienstag, 1. November 2022

Goldammer, Frank: BRUCH - Ein dunkler Ort

Es ist nicht meine Art und nur selten bemühe ich den Klappentext zu einem Buch, um den Einstieg in die Besprechung zu finden. Diesmal scheint es mir notwendig, weniger wegen unserer Leserinnen und Leser, mehr um damit meine Kritik in der Rezension zu erklären.

Frank Goldammer ist ein Dresdner Autor, dem ich nun seit Jahren folge, noch bevor er mit den sieben Büchern um den Dresdner Kriminalisten Max Heller seinen nunmehrigen großen Erfolg begründete. Eine Menge Bücher hatte er vorher schon geschrieben, nicht alle hatte ich gelesen, es begann mit NEBELGEFLÜSTER, zu dessen Besprechung Bloggerfreundin Anne Parden bemerkte, ich hätte mich „in ein fremdes Genre-Land vorgewagt“. In Nebelgeflüster steht ein altes Haus an der Elbe bei Laubegast, und das ist der Hauptfigur überhaupt nicht geheuer...


Und es scheint, als hätte Frank Goldammer zu mystisch-schaurigen Geschichten zurückgefunden und nach dem KHK Tauer (Revierkampf), dem KOK Heller, und zuletzt Leutnant Falk (Im Schatten der Wende) die KHK BRUCH & SCHAUER erfunden, bei denen er vielleicht eine Weile verbleiben will.

Doch kommen wir zu diesen beiden und einem neuen schaurigen Ort.

Was schreibt der Verlag zum Inhalt?

„Ein Stadtteil am Rande Dresdens ist in Aufruhr: Ein Mädchen ist verschwunden. Felix Bruch wird mit der neuen Ermittlerin Nicole Schauer auf diesen Fall angesetzt. Schauer merkt schnell, dass Bruch ein Einzelgänger ist.

Ihre einzige Spur: Vor zwei Jahren verschwand bereits ein Mädchen aus derselben Nachbarschaft – und kehrte nach zwei Wochen nahezu unversehrt zurück. Bis heute weiß niemand, was damals geschah, und das Kind schweigt weiterhin.

Zunehmend irritiert sie Bruchs Verhalten, er ist wortkarg, empathielos, unzuverlässig. Er verfolgt Spuren, die nur für ihn Sinn ergeben. Sie erfährt, dass Bruch den Unfalltod seines Kollegen zu verkraften hat, aber sie vermutet, dass hinter seinem eigentümlichen Verhalten noch etwas anderes steckt als Schock und Trauer. Sie beobachtet, wie er Tabletten nimmt, und erlebt, was geschieht, wenn er das nicht tut. Bruch lebt zwischen den Extremen.

Den Ermittlern fehlt eine heiße Spur – und Schauer muss sich auf Bruchs ungewöhnliche Ermittlungsmethoden einlassen. Diese bringen sie an ihre Grenzen, und zunehmend wird deutlich, was mit Bruch passiert …“ (Verlag)

Wenn ein kleines Mädchen verschwindet und ein anderes bereits einmal zwei Wochen ebenfalls „abwesend“ war, dann sind Eltern und Nachbarn natürlich sehr sensibilisiert. Wenn sich zudem ein entlassener Sexualstraftäter in der Gemeinde niedergelassen hat, was, zum Beispiel durch die Presse öffentlich wird, dann bekommt der Probleme mit Anwohnern. Ein alter Mann scheint eine Rolle zu spielen und ein alter Bauernhof am Ortseingang von Kauscha. 



Tatortgebiet & Lost Place Bauerhof


Der Bauernhof hat es in sich. Lost Place im wahrsten Sinne des Wortes. Ein alte LPG-Station in deren Mitte alte Landmaschinen und Traktoren von Pflanzen überwuchert werden, ein alter Sitzungsraum und Büros und eine kleine Wohnung. Wohnt da etwa noch jemand?

„Drinnen war es finster, roch modrig feucht. Scharfer Geruch deutete auf die Anwesenheit einiger Tiere hin. Die Decke hing durch, Balken waren zerbrochen, auf ihnen lastete das Gewicht des eingestürzten Daches. Es tropfte wie in einer Höhle.... Es knisterte und raschelte. Das Haus musste unzähligen Mäusen, Vögeln und anderem Getier als Unterschlupf dienen. Leise knarrte etwas über ihnen. Das war der Wind, der am Gebäude drückte und zerrte. Seltsam, dass alles leer stand und dem Verfall preisgegeben war, angesichts dessen, dass heutzutage jedes Grundstück seinen Wert hatte...

[Bruch trat] in ein Büro. Wie aus einer andere Zeit. Der Schreibtisch, der Stuhl, die Regale, das Telefon auf dem Tisch, der hölzerne Spind, alles DDR-Standard. Die Tapete schälte sich von den Wänden. An der Decke und in den Ecken wucherte Schimmel. Eindeutig, dass der Raum seit der Wende oder kurz danach von niemandem mehr betreten worden war...

Der Hof war wirklich groß und vollgestellt mit schweren Gerät, dass früher hunderttausende Mark wert gewesen sein musste. Traktoren waren zu erkennen, Zuggeräte für die Feldarbeit. DDR-Laster, Multicars, auch einen Wartburg erkannte Bruch. Alles war verrostet. Längst hatte die Natur das Gelände zurück erobert.“ (Seite 94/95)

Die beiden Ermittler der exzentrischen Art werden sich diesen Bauernhof genauer ansehen...

Am Ende ist alles ganz anders und von Schauer & Bruch wissen wir Einiges mehr, aber noch nicht viel. Er kann um die Ecke denken und spricht nicht viel, sie scheint ihre Aggressionen nicht im Griff zu haben. Gegensätze ziehen sich an?

* * *

Das Buch. Einerseits haben wir hier einen „Goldammer“, der die gewohnte Spannung enthält, erst gegen Ende den Handlungsbogen auflöst und dabei wie nebenbei die Fortsetzung der Geschichte ankündigt. Des Weiteren wollte er wohl tatsächlich zu mystisch-schaurigen Geschichten zurück, wenn er sie auch anders erzählt. Auch die Beschreibungen des Bauernhofes als den hauptsächlich vermuteten Tatort sind "schaurig-goldammerlich" schön. 

Und dann ist da „mein“ Hauptproblem: Nicht eine einzige sympathische Gestalt oder Figur und zwei dienstunfähige Polizisten und keiner tut was dagegen. Nicht ganz, immerhin befielt der Chef der Dresdner Mordkommission der neuen Kollegen einen „Aggressionskurs“, worauf diese erwidert, sie wäre schon aggressiv. Aber den Anti-Aggressionskurs besucht Nicol Schauer hoffentlich. 

„Bruch wohnte seit einigen Jahren hier im größten Neubaugebiet Dresdens, das in den Siebzugern aus dem Boden gestampft wurde, um der Wohnungsnot der DDR Herr zu werden. Damals heiß begehrt, waren die Wohnungen jetzt letzte Station Gescheiterter jeglicher Art, Immigranten und einiger weniger Übriggebliebener... Es war nicht überall im Viertel so schlimm, weiter oben hatten sie die Häuser um einige Etagen zurück zurück gebaut, Wohnungen teuer saniert. Hier aber, wo er wohnte, hatten sich Plastiktüten im Gebüsch verfangen, lag zerbröseltes Styropor wie Schnee auf der Wiese, waren die Klingelschilder angeschmolzen und die Wände besprüht. Bruch machte das alles nichts aus. Er hatte, was er wollte, eine günstige Wohnung und, trotz der lauten Menschen um sich herum, seine Ruhe. Niemand sprach ihn an, niemand klingelte. Und niemand rührte den BMW an.

Er warf einen langen Blick auf die jungen Männer am Dönerladen. Bestimmt ahnten sie, was er war, und bestimmt hatte sich herumgesprochen, dass man sich in diesem Fall gegenseitig in Ruhe ließ. Er sah über die Wohnungen voller nicht gemeldeter Personen hinweg, den Grasgeruch aus manchen Fenstern, die aufgebrochenen Autos und Briefkästen, den übermäßigen Lärm, der nachts aus mancher Wohnung dröhnte, die Autorennen, die sich hier am Wochenende manchmal geliefert wurden. Dafür belästigte man ihn nicht, und der Wagen blieb heil, egal welche Begehrlichkeiten er bei dem einen oder anderen weckte.“ (Seite 62)

 


Dresden Gorbitz


Als Nicole Schauer ihren neuen Kollegen einmal abholt, ist sie schockiert über dessen völlig unpersönliche Bleibe und den vielen Packungen ewig gleichen Mikrowellen-Essens. 

Welch dunkles Geheimnis schleppt er mit sich rum? Diese Figur fällt völlig aus dem Rahmen und Goldammer würde damit wohl einen Preis für den schrägsten Kriminalkommissar des deutschen Kriminalromans gewinnen können.

Diese Manie in Romanen und vielen Filmen den Kommissarinnen und Kommissaren einen Knacks zu verpassen, scheint hier eine besondere Ausprägung zu erfahren, wobei ich Frank Goldammer in Betrachtung seiner bisherigen Büchern damit nicht gerecht werde. Da es aber hier um die Wirkung auf mich, den Leser, geht, sei es erwähnt.

Goldammer über sich:

»In meinem Kopf geht ständig etwas vor sich. Neue Ideen, neue Szenarien, manchmal auch die Entdeckung eines ganz besonderen Gefühls und der Wunsch, in der Lage zu sein, es so zu Papier bringen zu können, dass die Leser*innen es nachempfinden können.«

Das hat er hier eindrucksvoll bewiesen.



  • Frank Goldammer - Autorenseite auf Litterae-Artesque
  • Frank Goldammer - Webseite
  • DNB / Rowohlt - Verlag Wunderlich / Reinbeck 2022 / ISBN: 978-3-8052-0090-5 / 368 Seiten

© Bücherjunge (16.08.2023)

3 Kommentare:

  1. Hallo Uwe,

    danke für die ausführliche Rezension! Bisher zaudere ich noch, das Buch zu lesen – aber jetzt bin ich geneigt, wenigstens mal ins Hörbuch reinzuschnuppern und dann bei Gefallen ggf. zum Buch zu greifen.

    LG,
    Mikka

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  2. Auch wenn du mit den Charakteren der Ermittler:innen haderst, wirst du sicher auch zur Fortsetzung greifen, vermute ich mal? Hier werde ja sogar ich neugierig...

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  3. So, die Fortsetzung liegt auf dem Tisch. Und die Kritik relativiert sich. Allerdings nicht die fachliche...

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