„(Das) Prinzip lautet: daß der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eins ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten...Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde.“ (John Stuart Mill in ÜBER DIE FREIHEIT - 1859 - Seite 206)
Und wer darf das? Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland führt Grundrechte in den Artikeln 1 – 19 auf. In ein solches darf nur durch ein Gesetz eingegriffen werden. Ausgenommen davon ist einzig die Würde des Menschen, denn diese ist unantastbar. Der Wesensgehalt dieser Grundrechte darf keinesfalls verändert werden. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie vollzieht sich in Wahlen und Abstimmungen sowie durch Organe der Rechtssprechung (Judikative) der Gesetzgebung (Legislative) und die vollziehende Gewalt, die Regierung (Exekutive).
Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Das nennt man Gewaltenteilung und wenn mich nicht alles täuscht, können die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen dies ziemlich genau erläutern, denn die uns anvertrauten Polizeischüler lernen das in Fächern wie Einsatzrecht und Staats- und Verfassungsrecht bzw. politischer Bildung. Der Wesensgehalt des Grundgesetzes und dieser deutschen Republik lässt sich nicht einfacher, zumindest nicht kürzer darstellen finde ich.
Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass eine Reihe von Familienmitgliedern, Freunden, ehemaligen Kommilitonen, die Freunde in zwei Sportvereinen, denen ich angehöre eher nicht gut erklären können. Viele haben es einfach nie lernen müssen, geschweige denn aus eigenem Antrieb gelesen. Unter den genannten sind höchster Wahrscheinlichkeit nach einige, die ihre Stimme in den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg denen gaben, deren Programme und Aussagen weder der Auffassung des John Stuart Mills entsprechen noch für das Wesengehalt bestimmter Grundrechte Gewähr bieten. (Die engere Familie schließe ich davon aus) Leider werden aber auch Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme auf diese Art und Weise abgegeben haben.
Im Fall der Freiheitsformel von Mill, so Ilko-Sascha Kowalczuk, hat dieses Prinzip bisher kein Staat vollumfänglich eingehalten oder akzeptiert, einige allerdings besser als andere. Die Bundesrepublik Deutschland steht in diesem Kreis, das ist nach 35 Jahren deutscher Einheit auch meine volle Überzeugung, sehr gut da.
Hier könnte sich die Frage anschließen, ob unsere Ampel-Regierung in ihrer von permanenten Koalitionsstreitereien geschüttelten Tätigkeit eine Aktie daran hat (sicherlich), aber es geht in diesem Buch um den FREIHEITSSCHOCK, den der Autor Kowalczuk als eine andere Geschichte Ostdeutschlands seit 1989 beschreibt.
Inhalt: In drei Teilen und einem Prolog beschreibt Ilko-Sascha Kowalczuk etwas, was er Freiheitsschock nennt, der nach den Jahren 1989 / 1990 über die Ostdeutschen gekommen ist.
Was meint er damit? Es seien, gemessen an knapp 17 Millionen Einwohnern, eher wenige mutige Leute gewesen die über die achtziger Jahre in oft kirchlich angebundene Umweltgruppen freiheitliche Verhältnisse in der DDR einforderten, dafür mannigfaltige Repressionen erdulden mussten, bis im Jahr 1989 sich mehr und mehr auf den Straßen von Leipzig und Berlin einfanden um ihren Willen offen kund zu tun. Die Masse schaute dem hinter den Gardinen zu. Allein solche Aussagen führen bei vielen zu Widerspruch, aber Kowalczuk betont, dass Revolutionen von wenigen gemacht werden.
Allein schon mit dieser Darstellung machte der Autor in unzähligen Zeitungsbeiträgen und Interviews das Buch bekannt, unterstützt von vielen Freunden und „Followern“ und sich gleichzeitig viel Unmut und auch Hass zuziehend, denn so sachlich er auch schreibt, in den sozialen Medien nimmt der 1967 geborene Historiker kein Blatt vor den Mund.
Eine weitere These ist die vom Transformationsschock, den die Ostdeutschen mit der in so kurzer Zeit übernommenen Staats- und Gesellschaftsnorm der Bundesrepublik Deutschland erlitten hätten.
Doch zuvor schreibt er über die Prägungen und Vorstellungen der Ostdeutschen, über die Wirkung des Westens (Besucher und TV), die Folgen der Massenflucht in den Westen. Von 1949 bis 1990 verließen rund 5 Millionen Menschen die DDR, welch enorme Zahl für das kleine Land. Ein deutscher Schriftsteller, auf den sich Kowalczuk gern beruft, ist Uwe Johnson, nach dem behielten viele diese Menschen einen Teil DDR bei sich.
Und nun dieser umfassende Aufbruch: Gorbatschows Perestroika, Ungarns Öffnung der Grenzen nach Chinas Terror gegen die Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens. Die Stimmen auf den Straßen und Plätzen wurde lauter und der Staat schlug zurück, glücklos aber glücklich letztlich unter Verzicht auf Waffengewalt. Dies erkennend, machten sich immer mehr Menschen auf den Weg und die Demonstrationen und Kundgebungen nahmen erstaunliche Ausmaße an.
Doch ging es den Bürgerrechtsgruppen um Freiheit in der DDR, wurde daraus mit den vielen die Forderung nach Freiheit von der DDR, gekoppelt mit dem Wunsch nach dem Wohlstand des Westens, der D-Mark und letztlich, durchaus verständlich, nach „Deutschland einig Vaterland“.
Der Transformationsschock setzte ein, als mit der D-Mark und dem Wirtschaftssystem das gesamte Arbeitssystem zusammenbrach.
Dem hier schreibenden Blogger und den vielen Leserinnen und Lesern, innerhalb weniger Wochen kam es bereits zur fünften Auflage, führt Kowalczuk vor Augen, wie das einst war: Die Kollegen nicht nur als solche, sondern auch als kulturell verbundene Gruppe, die Urlaubsplätze vom Betrieb, die Ferienlager für die Kinder auch, Freundschaft- und „Beschaffungs“-Beziehungen, gemeinsame Konzertbesuche, Sportfeste, Weihnachtsfeiern. Und nun brechen die Arbeitsplätze weg, die Betriebe werden teilweise verramscht, sämtliche Posten besetzen westdeutsche Eliten. Die versprochenen „blühenden Landschaften“ haben sich nach vierunddreißig Jahren wohl eingestellt, aber die 90ger und 00er Jahre boten diese noch nicht.
Neben diesem „Transformationsschock“ wirkten die „Baseballschlägerjahre“, das Aufkommen „rechtsextremen, faschistischen Jugendkultur“, zeugend von mindestens ungenügender Aufarbeitung deutscher Geschichte, ein Umstand, der mich seinerzeit förmlich sprachlos zurückließ, das Verstehen folgte erst durch ebensolches Verstehen der in der DDR aufgebauten kommunistischen Diktatur.
Kowalczuk blickt nicht nur zurück, er schreibt im zweiten Teil des Buches über die Demokratie in Ostdeutschland, über Phänomene wie Ostalgie und das, was er „Ostdeutschthümelei“ nennt. Es geht ihm um die Zukunft, die Wirkung von AfD und Bündnis S. Wagenknecht, das Verhältnis zur „SED-PDS-Linkspartei“ und in diesem Zusammenhang auch um der Verhältnis von Ostdeutschland und Russland.
Das Buch: All das ist verständlich zu lesen, wird überzeugend vorgetragen und die persönlichen Befindlichkeiten des Autors werden deutlich, denn er nimmt auf eigene Erlebnisse als Schüler, Jugendlicher und junger Erwachsener in der DDR Bezug. Hat er in DIE ÜBERNAHME sachlich-korrekt und mit dem Abstand des penibel recherchierenden und auswertenden Historikers diesen „Umwandlungsprozess“ der DDR-Wirtschaft beschrieben, verlässt er diese sachliche Darstellungsweise gelegentlich emotional, wenn es um rechtsextremistische und antidemokratischer Bestrebungen (BSW und AfD) Bestrebungen geht.
Gleichzeitig schafft er, der die Linkspartei weitestgehend als SED-Nachfolgepartei sieht wegen ihrer ungenügenden Aufarbeitung der SED-Rolle in der DDR, in Bezug auf den linken Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow, der CDU vorzuwerfen, am Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber den Linken festzuhalten, die „Lininistin“ Wagenknecht aber als mögliche Koalitionspartnerin zu überlegen.
Und dann zieht er ein Resümee und "bemüht" ausgerechnet das kommunistische Mainfest von Marx und Engels aus dem Jahr 1848.
„Ein Gespenst geht um in Europa und das Gespenst heißt Freiheit“ - gegen das sich in ganz Europa Parteien wehren, „die autoritäre Staatsstrukturen anstreben.“
Den Ostdeutschen die Ostdeutschen, von denen sich eine ziemliche Menge für den Mittelpunkt dieser Bestrebungen hält, hätten einen „schweren Rucksack der Geschichte zu tragen“, ihr Weg in die Demokratie, denn man muss lernen, sich immer wieder einzubringen, mitzumachen, Zivilgesellschaft mit Wirkung zu sein.
Vielleicht lesen tatsächlich meist die falschen Leute dieses Buch, also die, welche es gar nicht nötig haben.
* * *
In eigener Sache: Damit komme ich zum Anfang zurück. Ich war nicht dabei bei dieser Revolution. Ich verstand sie erst gar nicht. Der junge Offizier lebte an der innerdeutschen Grenze wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen in einer Kompanieunterkunft der Grenztruppen und Radios und Fernseher waren petschiert. Die Leute vor dem Dresdner Hauptbahnhof am Tag, als die Züge aus Prag kommend nach Hof fuhren, die Versuche aufzuspringen – standen wirklich Kinderwagen auf den Gleisen? – empfand ich nur und ausschließlich für verrückt, nicht einmal als Feind oder so etwas. Kein Wunder, ich war ja nicht dabei.... Doch darüber schrieb ich in einer anderen Buchbesprechung.
In meiner Erinnerung beschäftigten sich Freunde, Bekannte und Verwandte in Dresden wenig mit dem Thema Demokratie und Begriffe wie freiheitlich demokratische Grundordnung, Gewaltenteilung, Wirkung von Grundrechten sind vielen wahrscheinlich immer noch fremd. Mit dem Durchbringen der Familie, mit neuen Jobs, Arbeitsstellen im Westen und ewige Pendelei (Mein Vater fuhr einige Jahre als Schutzkraft für Baumärkte – nur Nachtschichten – und ausschließlich in den Westen) beschäftigt, denkt man weniger darüber nach, wie dieses Land nun positiver Weise funktioniert.
Dafür braucht man Zeit. Ich bekam diese Zeit, denn die Wende führte mich nahtlos in den Bundesgrenzschutz. Zunächst war das reiner Opportunismus, aber wenn man diverse Hilfen, Fortbildung nutzen kann und zudem rausbekommen wollte, warum ein System, dem man sich vorbehaltlos verschrieben hatte, zugrunde ging, dann gab es die Chance, sich dem Neuen zu stellen. Es war ja auch einfach, denn Geldsorgen zum Beispiel bestanden nicht. Zudem traf ich auf Kollegen, die sich uns offen und interessiert zuwendeten. (Erst in den letzten Jahren geschieht es gelegentlich wenn auch selten, dass jüngere Kollegen einem die Vergangenheit wieder vorwerfen.)
Trotzdem sind die letzten zehn bis fünfzehn Jahre nochmals zu einer Zensur geworden. Es begann mit einer Studienreise nach Israel (2009) und der Hoffnung, dass im Westjordanland eine Chance auf Koexistenz mögliche wäre, setzte sich mit der Krim - Annexion durch Russland fort und mit dem, was heute gemeinhin als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird. Die Ursache letzterer mit ihrem Schwerpunkt in Syrien und dem Kampf gegen den Islamischen Staat wird heute überhaupt nicht mehr erwähnt. Dann der Überfall auf die Ukraine und aktuell der Mehrfrontenkrieg im Nahen Osten.
Das Wort, welches mir vordergründig in den Sinn kommt: ist FRIEDEN. Frieden ist ein Wort, welches den Glauben an eine sozialistische, gerechte Gesellschaft untrennbar begleitete. Ich habe keine Ahnung, wie groß die Gruppe von Menschen war, die ohne große Öffentlichkeit in diesem Sinne einfach ihrer Arbeit nachging und die Kinder so erzogen. Aber ich kenne so einige. Dieses „Nie wieder einen Krieg von deutschen Boden...“ ist vielleicht eine Formel, die im Nachkriegsdeutschland auf beiden Seiten in den Köpfen vieler bestand? Jedenfalls kommen diese Menschen in den heutigen Geschichten nicht vor, denn ich meine die, welche eben nicht „russische Sicherheitsinteressen“ aufwiegen gegen die zwingend erforderliche Verteidigung der Ukraine, gleichwohl aber diplomatische Bestrebungen verstärkt sehen wollen. Die jetzt notwendige Nachrüstung nicht nur der Bundeswehr ist und bleibt trotzdem eine Rüstungsspirale. Wo ist das Ende?
NZZ, 15.10.24 |
Daher sehr ich zwar klar, dass Ilko Sascha Kowalczuk nicht unrecht hat mit zum Beispiel diesen Aussagen in der Neuen Züricher Zeitung vom 15. Oktober 2024 und versuche sie trotzdem differenzierter zu sehen. Durchaus in Hinblick auf meine Geschichte und die unserer Familie.
Fazit: Kowalczuk bezeichnet sein Buch als Essay, in das vieles aus Jahrzehnten eingeflossen ist. Ich halte ihn für einen profunden Kenner, nein für einen der vermutlich wenigen Wissenschaftler, die sich im Detail mit DDR- und Kommunismusgeschichte beschäftigen. Mit Vehemenz beschränkt er sich nicht nur auf den Druck seiner Werke, sondern vertritt seine Meinung sehr offen, direkt und wie ich meine ehrlich und kompromisslos in der Öffentlichkeit und den Medien. (Hier ein Beitrag von Heute-Journal). Folgt man den zahlreichen Artikeln online und in den Printmedien, erkennt man vieles wieder. Die vorliegende Zusammenfassung verdichtet viele der immer wieder ausgesprochenen Auffassungen des Autors.
Es ist ein sehr persönliches Buch, anders zu lesen als sein letztes wissenschaftliches Werk, die zweibändige Ulbricht - Biografie. über deren ersten Teil ich hier bereits schrieb.
Ich danke dem Verlag C.H. Beck für das Rezensionsexemplar.
- Den Namen Ilko Sascha Kowakzuk findet man in folgenden Posts:
- 2000 Seiten Geschichte... Eine Buchvorstellung in Berlin
- Kowalczuk, Ilko-Sascha: Walter Ulbricht - Der deutsche Kommunist
- Zwei Bücher - Geschichte im Streit
- Goldammer, Frank: Juni 53
- BlogPost Nr. 194: IM OSTEN GEBOREN…
- Du Bois, W.E.B.: Along the color line
- Mau, Steffen: Ungleich vereint
Eine Zusammenfassung von 3:48 Std
© Der Bücherjunge
Das klingt durchaus interessant!
AntwortenLöschenIst es auch und unbedingt zu empfehlen. - Der BJ
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