Den Gipfel schießt derzeit gerade ein gewisser Wolf Biermann im Tagesspiegel ab, der den „Ostdeutschen“, also mir, also uns oder wem auch immer „aggressives Selbstmitleid“ attestiert. Als Begründung führt er Folgendes an:
„Die Ostdeutschen sind nach zwei Diktaturen hintereinander doppelt geprägt. Kaputte Häuser und Straßen kann man in 30 Jahren wieder aufbauen, kaputte Menschen dauern etwas länger.“ – Diese Deformation (Feigheit, Schwanz einziehen...) mache seelenkrank und „wird unbewusst vererbt von Generation zu Generation.“ (Tagesspiegel)
Mit Verlaub, Herr Biermann, Sie spinnen.
Ohne Ilko-Sascha Kowalczuk hätte ich den Beitrag gar nicht gefunden. Von diesem Historiker wird noch zu schreiben sein.
Zwei Bücher sind es, die derzeit als Bestseller in den Feuilletons rauf und runter besprochen werden. Eines trägt den Titel DIESSEITS DER MAUER und wurde von Katja Hoyer, einer jungen deutschen Historikerin in Großbritannien geschrieben, dort herausgebracht und hier vom Verlag Hoffmann & Campe verlegt. Im Untertitel wird es als eine neue Geschichte der DDR von 1949 bis 1989 bezeichnet.
Während Katja Hoyer noch keine 40 Jahre zählt, wurde Dirk Oschmann bereits 1967 geboren. Oschmann ist Literaturprofessor in Leipzig und lehrt an der dortigen Universität neuere deutsche Literatur. Sein Buch DER OSTEN – eine westdeutsche Erfindung, Spiegel-Bestseller aus dem Ullstein-Verlag, schlug auch ein.
Stellen wir einmal die Klappentexte gegenüber:
»Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.«
„Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte.“
Bei Hoffmann & Campe findet sich folgende Buchbeschreibung zu DIESSEITS DER MAUER:
„Ein bahnbrechender neuer Blick auf das Leben in der DDR. War die DDR ein graues Land voller hoffnungsloser Existenzen? Die renommierte Historikerin Katja Hoyer zeigt in ihrem überraschenden Buch auf profunde und unterhaltsame Weise, dass das andere Deutschland mehr war als Mauer und Stasi.Die Geschichtsschreibung der DDR wird bis heute vom westlichen Blick dominiert. Mit dem Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur wird dabei oft übersehen, dass die meisten der 16 Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen. Die Mauer schränkte die Freiheit ein, aber andere gesellschaftliche Schranken waren gefallen. Katja Hoyer schildert jetzt vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus der Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben. Dafür führte sie zahlreiche Interviews mit ehemaligen Bürgern der DDR aus allen Schichten. Das Ergebnis ist eine neue Geschichte der DDR, die nichts beschönigt, aber den bisherigen Blick auf die DDR auf ebenso lebendige wie erstaunliche Weise erweitert, präzisiert und erhellt.“
Der Professor in Leipzig führt dabei eine scharfe Feder, die das Verhältnis des deutschen Westens zum deutschen Osten dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung beleuchtet. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Teilung Deutschlands in Folge des zweiten Weltkrieges zu der (westdeutschen) Auffassung führte, dass die BRD – Deutschland – das Normale, die DDR als Ostzone auch nur als solche angesehen wurde. Diese Sicht sei auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung insofern vorherrschend, da der (beigetretene) OSTEN immer noch „aufholen und sich normalisieren muss.“ Oschmann unterstreicht dies:
„Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt ‚Osten’ vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie – um nur die wichtigsten der vom Westen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen zu nennen […]“ (Deutschlandfunkkultur.de)
Vorherrschend sei auch in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern eine eher westdeutsche Elite, sowohl staatlicherseits, politisch als auch in der Wirtschaftsführung. Da die Bevölkerungsmehrheit in den alten Bundesländern zu finden ist, die zudem vermögender ist und deren Aufstiegschancen daher von jeher besser sind, ist dies eher logisch und wird noch ein Weile anhalten.
Dirk Oschmann: Universität Leipzig Katja Hoyer: Hoffmann & Campe |
Bei Hoyer lesen wir anderes. Sie beginnt ihre Erzählung bei den alten Kommunisten, die in Folge des Kriegsendes in die sowjetische Besatzungszone reisten und dort in der Verwaltung der noch vorhandenen Länder und Kommunen nach und nach die Führung übernahmen. In insgesamt zehn Artikeln erzählt sie die gesamte Geschichte der DDR und lässt an sich dabei nichts aus. Weder den Führungsanspruch der SED, nicht die Staatssicherheit, den 17. Juni, den Mauerbau, Grundlagenvertrag, Helsinki, Trassenbau, die Beziehungen zur BRD, bis zum Schluss. Jedes Kapitel oder Unterkapitel beginnt dabei mit einem Ausschnitt aus dem Leben einer Frau oder einem Mann, von Studenten, Lehrlingen bis zu Direktoren, Offizieren, Parteikadern. Das Leben von Angela Merkel spielt eine Rolle, wie auch das von Erich Honnecker. Ebenso die Umweltbewegung und die Entstehung der Bürgerrechtsgruppen.
Auch sie kommt zu dem Schluss, dass das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Ost und West immer noch stark wirkt, die Sozialpolitik der DDR (Berufstätigkeit der Frauen, Urlaub, Gesundheitswesen...) immer noch nachwirkt.
Die Vielfältigkeit der Schilderungen von Alltag, Freizeit, Beruf, Urlaub lässt den Eindruck zu, dass sich die meisten „Ostdeutschen“ in der Diktatur (sie lässt auch an dieser keinen Zweifel) einrichteten und ganz gut leben konnten.
Viele Dinge, die Hoyer erzählt, kommen einem wieder vor die Augen, immerhin war ich 1989 bereits 26 Jahre alt.
Gleichzeitig kommen aber die Zustände in Gefängnissen, Jugendwerkhöfen, der Ablauf von politischen Prozessen vor Gericht, die Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit, die politische Einflussnahme auf Kombinate und Betriebe, insgesamt zu kurz.
* * *
Ich halte beide Bücher für lesbar. Beide zeigen Dinge auf, die wir vielleicht verdrängt, vergessen oder bislang nicht gesehen haben. So wie Prof. Dr. Oschmann (Jahrgang 1967), der ja unbestritten zur „ostdeutschen Elite“ gehört, einer der wenigen, die einen eigenen Lehrstuhl aufweisen (mir fällt da aber noch Prof. Gansel, ein Kollege Oschmanns an der Uni Gießen), mit dieser erfolgreichen Karriere trotzdem über Ost/West – Unterschiede schreiben kann, darf die junge Historikerin über eine Zeit schreiben, welche sie sich anlesen oder erzählen lassen musste. Die kleinen Fehler, die festzustellen waren, sind vielleicht der Forschung außerhalb Deutschlands zuzuschreiben, in Bezug auf das ganze Buch sind sie eh marginaler Art.
Persönlich halte ich den Anspruch, dass die Geschichte der DDR förmlich neu geschrieben worden wäre, für nicht haltbar. Dies ist gelegentlich behauptet wurden, Hoffmann & Campe fragen allerdings, ob es ein "bahnbrechender Versuch" sei.
Dass Hoyer aber den Blick auf die DDR erhellt und präzisiert, für jüngere Leserinnen und Leser erweitert, das stimmt schon.
Über dreißig Jahre nach der deutschen Einheit scheint es, dass es für neue Literatur zum Thema Zeit ist. Solche Bücher wie das Dicke DDR BUCH hier sind da wenig hilfreich, dem dagegen ist Katja Hoyers Buch meilenweit voraus. Das andere hier, die „Ostausgabe“ von 1963, es gibt auch eine für West, ist nur ein spaßiges Geschenk für Geburtstage.
Es wäre meines Erachtens an der Zeit, eine Geschichte des deutschen Volkes von 1945 an zu schreiben. Eine Möglichkeit, erstens Zeitabschnitte gegenüberzustellen, zweites Themen wie Alltag, Lebensstandard, Freizeit, Bildung, Wehrdienst zu beschreiben. Dieses vermutlich mehrbändige Werk könnte einen dicken Zusatzband erhalten, in dem Menschen aus allen Teilen Deutschlands zu Wort kommen.
Lehrer, Professoren, Schülerinnen und Schüler, Arbeiter, Ingenieure, Bauern, Polizisten, Offiziere, Juristen, Politiker, Ärzte, aber auch vorbestrafte Menschen, solche, die den Gefängnisalltag in Ost und West schildern können, darunter auch Frauen und Männer, die aus politischen Gründen in Haft saßen, das wären dann Menschen die wegen „Republikflucht“ verurteilt wurden, ebenso wie Angehörige der RAF. Und natürlich die Geheimdienste.
* * *
Zurück zu Biermann. Diese Art und Weise, mit Begriffen wie „Ostdeutsche“ und „ostdeutsch“ alle über einen Kamm zu scheren, alles zu pauschalieren, in der Masse zu diffamieren, das ist es, was mich aufregt und was Dirk Oschmann wohl veranlasste, sein Buch in Form einer Art Anklage zu schreiben.
Neben denen, die sich bewusst und mutig, sei es wegen belasteter Umwelt oder Freiheitswünschen trotz drohender politischer Verfolgung, dem Staat friedlich entgegen stellten und damit den Prozess der letztlichen Einheit Deutschlands voran brachten, gibt es noch eine andere Gruppe von Menschen. Nein, damit meine ich nicht die, welche mit PEGIDA und Co auf die Straße gingen, oder diese Reichsbürger, Impfgegner, oder die aus Protest rechtsextreme oder rechtsnationale Parteien wählen.
Autoren - Bild: C.H. Becks |
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