Dienstag, 2. Februar 2016

MacGregor, Neil: Deutschland...

... Erinnerungen einer Nation.

Ein Buch macht sein Monaten die Runde, es ist ein Geschichtsbuch. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat den renommierten britischen Museumsexperten Neil MacGregor zum Leiter der Gründungsintendanz des Humboldt-Forums berufen. [1]

Ein  Geschichtsbuch über uns, geschrieben vom Direktor des Britischen Museums.

Erinnerungen der deutschen Nation, geschrieben von einem Briten? Vielleicht gerade darum schlug dieses Lesebuch in Lesekreisen so ein. Doch bin ich hier gar nicht der Erste, der darüber schrieb, denn TinSoldier verfasste bereits diesen Post hier. TinSoldier nähert sich dem Buch mit dem wohl eindringlichsten Erinnerungsthema, dem des Nationalsozialismus. Dies gibt mir die Gelegenheit, mit diesem Post auf ein Thema zu kommen, in dem das LITTERAE unseres Namens besonders deutlich wird. Es geht um BUCHSTABEN, es geht um SPRACHE und es geht um LITERATUR und LITERARISCHE WERKE.

Kurz es geht um Luther und um die Gebrüder Grimm in EIN DEUTSCHLAND DER IMAGINATIONEN. So heißt der zweite Teil im Buch des britischen Autors, der Kunstgeschichte, Rechtswissenschaften, Philosophie, Deutsch und Französisch studierte. Uns ein Deutschland der Imaginationen zu zeichnen, scheint er also genau der Richtige zu sein.

"Die Geschichten, die wir einander erzählen, und die Gerichte, die wir essen, halten unsere Nationen zusammen. Ein Land, das in sich so vielgestaltig ist wie Deutschland, wird von seinen Dichtern, Malern, Propheten und Geschichtenerzählern ebenso zusammengehalten wie von seinen Regierungen und Grenzen. Goethe, Caspar David Friedrich, Luther, die Gebrüder Grimm, sie alle haben beigetragen zu Deutschlands nationalem Fundus an Erzählungen, heiligen und säkularen, Mixturen aus Geschichte und aus Mythen, häufig gewürzt mit Phantasie und Humor..." [2]
Eine Buchvorstellung muss also nicht ganz von vorn beginnen, dieser Text leitet das schon genannte dritte Kapitel ein.




Eine Sprache für alle Deutschen

Was wissen wir gemeinhin von dem Augustiner-Mönch, der da Martin Luther hieß? Wir wissen von den 95 Thesen, die er an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug. Dass er die Reformation begründete, vielleicht, dass er "wider die räuberischen Horden der Bauern" geschrieben hatte, obwohl die Kirchenreformation ihren Beitrag zum sogenannten Bauernkrieg leistete. Wir wissen, dass er die Heilige Schrift übersetzte. Luther war verheiratet, sang als Knabe in der Thomas-Kirche zu Leipzig, war überhaupt ein sehr musischer Mensch. Sicher kann man dies alles in einer Luther-Biografie nachlesen,  MacGregor erwähnt das auch alles, aber hier wird das Thema der deutschen Sprache besonders behandelt, die Sprache, die einige Besonderheiten aufweist.

In den deutschen Reichen und Fürstentümern herrschte ein ziemliches Sprachgewimmel. Der Hamburger wird den Salzburger kaum verstanden haben. Es gab schon vor Luther Bibelübersetzungen, sogar eine im kölschen Dialekt. [3] Luther macht etwas ganz unübliches, er, "der dem Volk aus Maul schaute", erweckte die Bibel zum Leben, weil er das geschriebene Deutsch der gesprochenen Sprache nachbildete. 

"... denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden,... sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen, so verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihn´ redet." [4]

Was freut dabei einen sächsischen Blogger besonders? Der hat sächsisch geredet, der Luther. Genauer, "Wir wissen aus Luthers Briefen..., dass er seine Sprache dem Deutsch der Hofkanzlei Sachsens nachbildete...  Auf diese Art und Weise machte er die Sprache prägnant, kräftig und expressiv, mit einprägsamem Schwung und Rhytmus." [5]

So wird die deutsche Schriftsprache und damit die Sprache selbst die Deutschen im zersplitterten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation verbinden. Schwatzen sie auch gelegentlich unverständlich daher, schreiben werden sie zukünftig auf gleiche Art und Weise. Und wenn heute auch Deutsche, die nie eine Luther-Bibel in die Hand nehmen von Sündenböcken, Herzenslust und dem Land, wo Milch und Honig fließen, dann sprechen sie "Luther". 
"In den Händen der Geschichtenerzähler der nächsten Jahrhunderte, auf den Seiten eines Goethe wurde Luthers Deutsch zu einer der großen Literatursprachen der Welt." [6]




Schneewittchen gegen Napoleon?

Hab ich nie dran gedacht, ist mir nie aufgefallen: Gemeinsam ist den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, dass sie immer in den Wäldern spielen. "Dort in den dunklen und beängstigenden Wäldern, erweist sich Charakterstärke, dort wird das Böse überwunden." [7] Ob Rapunzel, Schneewittchen oder Hänsel und Gretel.

MacGregor schreibt, dass nicht nur das Schicksal von Rapunzel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel sondern auch vom Schicksal Deutschlands erzählt wird. Verblüfft war ich schon ein wenig, dass er dem Teutoburger Wald eine solche "Bedeutung" beimisst, hier, wo Hermann einst die römischen Invasoren schlug. Der Wald als Archetyp. Auch in der Malerei kann man diese Darstellung finden, zum Beispiel bei Caspar David Friedrich. Auf diesem Bild ist es die im Vordergrund stehende uralte Eiche, die ebenso einen Archetyp darstellt.



Die Gebrüder Grimm meinten, dass Sprache wie auch Gesellschaften eine jeweils eigene Form und Logik haben. "Veränderungen in der deutschen Gesellschaft können nur dann erfolgreich sein, wenn sie von innen heraus erfolgen, wenn sie also der deutschen Art, Dinge zu tun, entsprechen und nicht aus fremden Zwang erfolgen." Daher, so schlussfolgert MacGregor auf die Zeilen von Professort Steffen Martus, Humboldt-Universität, "[waren] die Grimmschen Hausmärchen ein Beleg dafür, dass die Deutschen in ihrer Sprache und in ihren Volksmärchen eine Identität besitzen, die kein fremder Eroberer auslöschen kann." [8]




Maler und Schriftsteller waren zu einer Zeit identitätsstiftend, als fast ganz Mitteleuropa von Napoleon Bonaparte beherrscht wurde. Sie wandten sich zurück und fragten: Wer sind wir denn jetzt? Hermann, oder Armin der Cherusker musste herhalten, unter anderem für ein wohl ziemlich scheußliches Schauspiel Heinrich von Kleists. Die Hermannschlacht. [9]

So wie Caspar David Friedrich als Maler trugen die Gebrüder Grimm als Schriftsteller zu dieser neuen auf diversen Tradition beruhenden neuen Identität bei.
Dass diese Identitätsstiftung 120 Jahr später gern ideologisch ausgenutzt wurde, ist ja nicht unbekannt. Friedrich und die Grimm-Brüder hatten es im Nachkriegsdeutschland schwer deswegen, schreibt der britische Wissenscaftler. Heute haben sie sich davon erholt.

Heute werden die Märchen, die eine zeitlang wegen ihren manchmal schon grausamen Begebenheiten, verpönt waren, wieder im Original gelesen, der patriotische Maler Friedrich als Bewahrer von Landschaft wahrgenommen.

Der folgende Text soll noch zeigen, dass die "britische" Sicht auf uns Deutsche und unsere, teilweise verschütteten Erinnerungen irgendwie von einer gewissen Zuneigung geprägt ist:

"Die Bindung der Deutschen an ihren Wald, so alt wie ihre Berge, zumindest wie die eichen, besteht noch immer, sie gehört weiterhin ganz zentral zum deutschen Nationalcharakter. Caspar David Friedrich und den Grimmbrüdern hätte dies gefallen. Etwa ein Drittel des Landes ist von Wald bedeckt, und der steht in immer mehr Regionen unter Schutz - die Grünen sind in Deutschland als politische Partei fester etabliert als in irgend einem anderen Land Europas. Die Zukunft der neuen Nation wird sich, wie ihre Vergangenheit, auch im Wald abspielen." [10]



Der Teil 2 des Buches ist damit noch nicht beendet. Es folgen noch Kapitel über Goethe, eine Heldenhalle und eins über Würste. Aha.

* * *


"Geschichte ist ja so langweilig". So? Dann sollte man es vielleicht mal mit diesem Buch versuchen. Die einzelnen Kapitel sind nicht lang. Sie sind nicht einfach Biografie, oder Beschreibung oder Interpretation von Schlachten, Kriegen, Epochen. Sie betrachten Erinnerungen, eigentlich rufen sie Erinnerungen zurück. Alte und jüngere, ernste, grausame, schöne, lustige (? - Bin noch nicht fertig) und viele mehr. - Einer Idee eines Bloggerfreundes folgend, investierte ich die Summe des Buchkaufes gleich noch einmal. Die Schachtel mit den 12 CD´s kam so dazu. Nun sitze ich ab und zu auf der Couch und höre die Kapitel, die gelegentlich ein wenig vom Text des Buches abweichen. Eher ist noch mehr drauf, eine Rede eines Politikers zum Beispiel, ein ausführlicheres Zitat. Die CD´s sind auch mal mit Musik hinterlegt, oder Schlachtenlärm wo es passt. So kann man schmökern und hören zugleich. Ein tolles Erlebnis.


Neil MacGregor hat das Britische Museum im letzten Herbst verlassen. Wie kommt ein britischer Wissenschaftler dazu, die Gründungsintendanz des sogenannten Humboldt-Forums zu übernehmen? Das kann man hier nachlesen. Auf jeden Fall hat er sich mit diesem Buch dafür förmlich prädestiniert.

Unbedingt lesenswert ist auch die Erklärung zur Vergabe des Deutschen Nationalpreises 2015 an Neil MacGregor. In dieser wird auch die Ausstellung "Germany – Memories of a Nation" im Britischen Museum erläutert. Eigentlich ein Grund mal nach London zu fahren.


Quellen & Abbildungen:

Abb 1: Cover von Beck-Verlag
Abb 2 - 11: Zusammengestellt von U.Rennicke, Abb 11 eigenes Foto
Abb 12: CC-BY-SA 4.0File:Neil MacGregor Frankfurter Buchmesse 2015.JPG; Erstellt: 16. Oktober 2015
[1] http://www.humboldt-forum.de/news/aktuelles-details/article/neil-macgregor-wechselt-zum-humboldt-forum/
[2] MacGregor, Neil: Deutschland - Erinnerungen einer Nation, Beck, München 2015, S. 131
[3] vgl. Ebenda, Seite 140 f
[4] vgl. Ebenda, Seite 146
[5] vgl. Ebenda, Seite 147
[6] vgl. Ebenda, Seite 151
[7] vgl. Ebenda, Seite 155
[8] vgl. Ebenda, Seite 159
[9] vgl. Ebenda, Seite 166
[10] vgl. Ebenda, Seite 170

© Bücherjunge (17.10.2024)

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