Entdeckungsreise zu einer Welt, die zum Schweigen verurteilt, aber mitten unter uns ist...
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
(Klappentext Knaus Verlag)
- Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
- Verlag: Albrecht Knaus Verlag (31. August 2015)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3813503704
- ISBN-13: 978-3813503708
BERÜHRUNGEN...
Richard ist seit kurzem emeritierter Professor für Altphilologie und bewohnt seit dem Tod seiner Frau am Rand von Ostberlin allein ein Haus an einem See. Richard hat eine Menge Zeit, und stellt sich zunehmend Fragen über das Vergehen derselben sowie über den Verlust von geliebten Menschen. Als er zufällig Asylsuchenden auf dem Berliner Oranienplatz begegnet, kommt ihm die Idee, bei genau ihnen nach Antworten zu suchen - bei jungen, afrikanischen Flüchtlingen. Immer häufiger und entschlossener nimmt er Kontakt zu ihnen auf, mischt sich unter die Asylbewerber, lässt sich auf die Afrikaner und ihre Schicksale ein, lädt einige zu sich nach Hause ein, kümmert sich, gibt Deutschunterricht – ein Pionier der 'Willkommenskultur'.
"Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will."
Je intensiver Richard Einblick in die Welt der Flüchtlinge erhält, aus deren Alltag jede Selbstverständlichkeit gekippt ist, desto aktiver wird er: Einerseits versorgt er die Flüchtlinge mit Notwendigkeiten wie Kleidung und Nahrungsmitteln und begleitet sie zu anstehenden Behördenterminen; andererseits arbeitet er sich, zunehmend fassungslos, durch den europäischen Paragrafendschungel:
"Es geht in dieser Verordnung gar nicht darum zu klären, ob diese Männer Kriegsopfer sind. Zuständig für den Inhalt ihrer Geschichte ist einzig das Land, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Nur dort dürfen sie um Asyl bitten, nirgends sonst ... Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen. Ein sogenannter Asylbetrüger ist also auch jemand, der eine wahre Geschichte dort erzählt, wo man sie nicht anhören muss."
Neben dem bürokratischen Hindernisparcours, der letztlich oftmals auf ein großes 'Nein' hinausläuft, versucht Jenny Erpenbeck, der Masse von Flüchtlingen hier ein Gesicht zu geben. Stark ist das Buch in den dialogischen Passagen, wenn Richards Begegnungen und Unterhaltungen mit den Flüchtlingen dargestellt werden, das Berühren und Aufeinanderprallen der Kulturen, dieses Crossover von Freundlichkeit und Befremden. Die Gedankengänge Richards dagegen zu den verschiedensten Themen geraten oft ein wenig langatmig und wirken angesichts der dringlichen Problematik oft eher nebensächlich. Überhaupt ist Richard keine besonders tief herausgearbeitete Romanfigur. Er bleibt weitestgehend blass, hat jedoch die Aufgabe, in oftmals kindlich anmutender Naivität nachzufragen, damit der Leser an seiner Stelle die Antworten bekommt.
„Ist nun der schon so lange andauernde Frieden daran schuld, dass eine neue Generation von Politikern offenbar glaubt, am Ender der Geschichte angekommen zu sein, glaubt, es sei möglich, all das, was auf Bewegung hinausläuft, mit Gewalt zu unterbinden? Oder hat die weite räumliche Entfernung von den Kriegen der anderen bei den unbehelligt Bleibenden zu Erfahrungsarmut geführt, so wie andere Menschen an Blutarmut leiden? Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?“
Die Autorin konnte beim Schreiben noch nicht wissen, dass all diese Dinge nun in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr bereits in ihrem Buch genau jene Vorurteile zum Tragen kommen, die auch jetzt immer wieder zu hören sind - z. B. jenes, dass es ein widersinnig sei, dass arme Flüchtlinge sich teure Smartphones leisen können. Durch die Zuspitzung der Flüchtlingsproblematik in Europa gerät 'Gehen, ging, gegangen' zu einem überaus dokumentarischen Roman dieser Zeit und dieser Tage. Kein flammender Aufruf zur Weltverbesserung, kein vordergründiger Appell an das Mitleid des Lesers. Sondern ein literarischer Versuch des Verstehens, dass das Eigene und das Fremde zwei Seiten eines Zusammenhangs sind. Beeindruckende Berührungen.
© Parden
Der Knaus Verlag schreibt über die Autorin:
Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr zuletzt erschienener Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichsam gefeiert und vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Joseph-Breitbach-Preis und 2015 mit dem Independent Foreign Fiction Prize.
► übernommen vom Knaus Verlag
Stark. Und hervorragend beschrieben. Besonders sticht das erste Zitat heraus.
AntwortenLöschen"Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen. Ein sogenannter Asylbetrüger ist also auch jemand, der eine wahre Geschichte dort erzählt, wo man sie nicht anhören muss"
AntwortenLöschenDas meinte ich eigentlich.