Dienstag, 29. März 2022

Friedenstaube

 

Quelle kleines Bild / Ausschnitt Sächsische Zeitung vom 29.03.2022


Ein Bild in der Zeitung. Darauf eine alte Dame. Fünfundneunzig Jahre alt ist sie, lebt in einem Thüringer Seniorenheim und wird gerade wieder berühmt. Ihr Name ist Erika Schirmer und ihren Mädchennamen, Erika Mertke, las ich bestimmt vor Jahrzehnten als kleiner Schuljunge in einem Lesebuch. Die ehemalige Kindergärtnerin schrieb ein Lied, welches jedes Kind in der DDR kannte, ein Lied frei von jeglicher Ideologie... Auch dann, wenn wir beim Singen ein Pionierhalstuch trugen... Davon erzählt der Artikel, denn bereits im März 1949 ersinnt sie dieses Lied, es verbreitet sich schnell, wenn auch nur in der sowjetischen Besatzungszone, die Gründung der beiden deutschen Staaten ist aber schon in Arbeit.
Wann sang ich das letzte mal diese Zeilen? Ich saß auf einer Bühne am Rand, die Beine baumelten herunter wie die eines kleinen Jungen neben mir. Die Gitarre auf dem Schoß begleitete ich den Jungen Pionier zur kleinen weißen Friedenstaube. Nur, ich war inzwischen etwas über zwanzig Jahre alt und trug dabei eine graue Uniform, auf dem Weg zum Berufssoldaten mit der Überzeugung, dass dies der richtige Weg sei, um die Friedenstaube nicht abstürzen zu lassen. Politische Kulturprogramme in der Tradition der kommunistischen AgitProp-Gruppen der zwanziger und dreißiger Jahre, führten wir gemeinsam mit dem Chor einer Patenschule auf.  In diesem wurde ein weiteres Lied aufgeführt. Eins von Jewgenij Jewtuschenko mit dem Titel Meinst du die Russen wollen Krieg?



Seitdem sind weitere fünfunddreißig Jahre vergangen. Viel hat sich verändert. Der  Offizier des Jahres 1988 musste in den folgenden Jahren begreifen, dass so manche Überzeugungen nicht standgehalten hatten. Er konnte, er durfte in einer anderen Uniform, in einem anderen, einem freiheitlichen, einem demokratischen Staat weiter arbeiten und lernte so manches neu, auch Geschichte - ohne alles über Bord zu werfen - es blieb auch der Text von Erika Schirmer immer im Kopf.

Am 24. Februar des Jahres 2022, fast siebenundsiebzig Jahre nach dem Ende des letzten Weltkrieges überfallen ausgerechnet russische Soldaten den Nachbarstaat Ukraine, es fallen Bomben, Raketen, Artilleriegeschosse fliegen durch den Himmel, die Hafenstadt Mariupol sieht aus, wie so viele Städte nach dem Krieg, so wie auch meine Heimatstadt. Die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg geht in Richtung Zentraleuropa. Menschen sterben: Soldaten, Männer, Frauen, Kinder... Da braucht es keine Zeitung, keine der vielen Internetartikel, die eine "Wiedergeburt" der kleinen weißen Friedenstaube beschreiben und doch war es der Artikel in der Sächsischen Zeitung heute, der diese Gedanken mit inspirierte. 

"Auf einer Bahnstation, tausend Meilen hinter Brest, unser Zug hielt kurz, da sahen wir die zwei stehen. Einen Mann mit seinem Sohn, dessen Haar war kurz geschor’n und da ahnten wir wohin sein Sohn sollt‘ gehen.

Es ziehen die Söhne los, sind noch nicht mal richtig groß, sind lange nach dem letzten Krieg geboren. Doch der Mann weiß sicher noch, wie das Brot des Krieges roch vielleicht hat er seinen Vater da verloren."

So lauteten andere Liedzeilen aus der Zeit, der das obige Bild entstammt. Nicht das erste Mal ziehen russische Söhne in den letzten Jahren in den Krieg. Sie zogen nach Tschetschenien, nach Georgien, nach Syrien und in die Ukraine. Nur nicht im Sinne dieser weiteren Liedzeilen, die etwas meinten, was ich weiter oben schon erwähnte: ziehen, um den Frieden zu verteidigen. Es ist ein verbrecherischer Angriffskrieg, wie ihn viele noch vor wenigen Wochen nicht für möglich gehalten hätten. Auch ich hätte es nicht gedacht, dass Jewtuschenkos Gedicht einmal so an Gewicht verlieren wird. 

Ich wünsche mir und uns, dass der russische Soldat, dass Russland, das russische Volk sich darauf besinnt, dass es neben den Russen auch Georgier, Weißrussen, Grusinier, Kirgisen, Kasachen und den vielen anderen Völkern eben auch Ukrainer waren, die im Pappelhain am Wegesrand zu liegen kamen auf dem Weg von der Wolga bis Berlin. 


pixabay


Hab ich Verständnis für die Russen, für diesen Präsidenten Putin? Nein. Keineswegs. Doch es kommt auch eine Zeit nach Putin. Und eine Zeit für die Ukraine, die wir alle werden mit aufbauen müssen. Die Russen ebenso. Was denn sonst?




© Bücherjunge

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