Freitag, 25. März 2022

Schley, Fridolin: Die Verteidigung

„Länger betrachtete Richard die zu dem Artikel abgedruckte Fotografie. Darauf stützt sich ein vornehmer älterer Mann sitzend auf eine Holzbarriere und sieht lächelnd zu einem Jüngeren auf, der in Anwaltsrobe vor ihm steht und den Kopf ein wenig gesenkt hält, die Augen geschlossen, wie etwas verlegen, als wüsste er nicht, ob er dem anderen die Hand reichen soll, weil auch der zögere zu ihm aufzustehen, würden sie sich einem Moment lang winden in angedeuteten wieder zurückweichenden Bewegungen. Aus ihrer Haltung  und ihren Blicken versuchte Richard zu lesen, was in ihnen lag: Erwartung oder Stolz, Fürsorge oder Zweifel und ob der Abstand zwischen ihnen Nähe anzeigte oder Distanz. Oder ob sich in ihm statt ihrer etwas kurz berührte, das, woher sie kamen und das, wohin sie gingen. Und er wartete darauf, dass sich eine Erinnerung in ihm einstellte. Unmöglich konnte ein Fotograf sie in diesem persönlichen Moment überrascht haben und sein Zeugnis nun alles sei, was davon blieb. Als Richard sich auf den Hintergrund des Bildes konzentrierte, auf die Schraffur einer Marmortür und wiederum dahinter verlaufende Kabelstränge entlang der Flurwände, verschwammen der Vater und er und schienen leicht zu verrücken. Doch gleich darauf erstarrten sie wieder, ohne dass er darauf kam, was sie in diesem Augenblick zueinander gesagt hatten und schließlich stellte er sich einfach vor, sie hätten sich dort im Gerichtssaal schon über die spätere Bildunterschrift amüsiert, auf die Richard auf dem Foto herab schielt und deshalb den Vater nicht ansieht. „Weizsäcker Junior hilft Weizsäcker Senior zur Freiheit.““ 


In den letzten zwei Wochen sah ich zwei Filme, die indirekt mit dem Fall zu tun haben, in dem ein Sohn hilft, seinen Vater zu verteidigen. Da war einmal der neueste Film über die Wannseekonferenz von Matti Geschonneck und später fiel mir bei einem der bekanntesten Streaminganbieter der Film München – im Angesicht des Krieges auf, ebenso von einem deutschen Regisseur, Christian Schwochow. Letzterer ist eine Literaturverfilmung nach dem Roman München von Robert Harris.

In beiden Filmen spielen Vater und Sohn keine Rolle, obwohl der Vater als Staatssekretär im Auswärtigen Amt des Dritten Reiches beim Münchener Abkommen natürlich eine nicht unbedeutende Rolle im Hintergrund spielte. An der Wannseekonferenz, in der Reinhard Heydrich die Massendeportation europäischer Juden in die Vernichtungslager erst richtig anschob, nahm ein Mitarbeiter des Vater teil.

Wir wissen schon, von wem die Rede ist: Ernst Heinrich Freiherr von Weizsäcker (1882 – 1951) ist der Vater, er ist als Kriegsverbrecher angeklagt in Nürnberg, das Foto, welches auf dem Buchdeckel angedruckt ist stammt aus den Jahren 1948 oder 1949.

Fridolin Schley erzählt aus der Sicht des Sohnes Richard (1920 bis 2015) von diesem Prozess. Richard, Student der Jurisprudenz, assistierte dem Verteidiger Hellmut Becker im sogenannten Wilhemstraßen-Prozess, dem letzten Nachfolgeprozess der Nürnberger Prozesse.

Richard Karl von Weizsäcker ist den heute lebenden meisten Deutschen eher bekannt, er war von 1984 bis 1994 der sechste  Bundespräsident.

Abb 1
Der ehemalige Marineoffizier Ernst Heinrich Weizsäcker, seit 1916 Freiherr von Weizsäcker beruft sich im Prozess darauf, dass er versucht haben will, Krieg mit diplomatischen Mitteln zu verhindern, indem er mittels diplomatischer Verbindungen Frankreich und England zu energischen Protesten bringen wollte, damit die Tschechoslowakei nicht annektiert wird, vor dem Kriegsbeginn am 01. September 1939 will der dies betreffend Polen ebenso probiert haben. 

Ein zweiter Aspekt, der in den Kriegsverbrecherprozessen Hauptanklagepunkt war, ist der Holocaust. Als Staatssekretär unter Außenminister Ribbentrop dürfte er von den Deportationen und deren schrecklichem Ende mehr gewusst haben, als er zugab.

Der dritte Sohn, Richard, ehemaliger Oberleutnant, wird im Prozess mit den Auffassungen des Vaters und den Beweisen konfrontiert, oft unschlüssig, was er von Einzelheiten halten soll. Die eigene Kindheitsgeschichte scheint bei den Gedanken über den Vater nicht immer hilfreich zu sein, nicht jeder gedankliche Konflikt erklärbar.

Sieben Jahre Haft erhält von Weizsäcker unter anderem wegen der Kenntnis und bestätigenden Abzeichnung der Deportation französischer Juden, der Urteil wird in einem Berichtigungsprozess auf fünf Jahre gesenkt, im Rahmen einer Amnestie wird er 1950 bereits entlassen.

* * *

Abb 2
Durch den Sohn lässt uns der Autor auf einen Staatssekretär im nationalsozialistischen Deutschland blicken, einen bürgerlichen Diplomaten, der meinte, oder sich auch einredete, mit seinem Dableiben, seinem Ausharren „Schlimmeres“ verhüten zu können und dabei scheiterte. Es ist ein altes Problem: Wie weit geht man in Diktatur „einfach“ mit? Hat man Verbrechen nicht nur nicht gewollt, abgelehnt, aber auch nichts dagegen getan? Der Richter argumentiert genau damit um trotzdem zu konstatieren, dass der Angeklagte nicht für Verbrechen verantwortlich zu  machen ist, auf die er letztlich keinerlei Einfluss ausüben konnte.

Es ist ein langsames Buch voller langer Sätze und ebenso langer Überlegungen, welches auf ungewohnte Art und Weise bereits Gelerntes hervorruft, manchmal neu einordnet, neue Blickwinkel eröffnet.

Wobei am Ende deutlich wird, dass der beginnende Kalte Krieg, die Nachkriegsentwicklung, die Aufarbeitung dieser schrecklichen zwölf Jahre ziemlich vezögern, ja behindern wird. Es dauert bis zum 8. Mai 1985, als Richard von Weizsäcker den 8. Mai als einen „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bezeichnen wird. Dafür zollt die Welt dem Bundespräsidenten Achtung und Anerkennung. 

Acht Stunden und 43 Minuten hat Devid Striesow gelesen, dem Text zu folgen war nicht immer einfach. Vielleicht kann man das den abgehörten Sätzen zu Beginn dieses Posts entnehmen. Bei mir allerdings entstand auch das Gefühl, dass „dieses“ Deutsch zu den bürgerlichen, hochgebildeten Weizsäckers passte. Der grüblerische, eigene Schuld abwiegelnde, Umgang des Vaters mit seiner Rolle im Dritten Reich, aber auch die Schwierigkeiten des Sohnes, den Vater im Prozess und in der Familie und im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu begreifen, wird im Hörbuch und durch die Leseweise deutlich. 

"Eine historische Konstellation, die man kaum erfinden könnte: Hier stoßen - verkörpert in Vater und Sohn - das alte, schuldbeladene Deutschland und die gerade entstehende Bundesrepublik aufeinander. Mit literarischem Gespür nähert sich Fridolin Schley den historischen Figuren und umkreist dabei die grundlegenden Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Unschuld, emotionaler und moralischer Verpflichtung." (Verlag)

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„Gegen das Vergessen“ heißt eine regelmäßig verwendete Rubrik nicht nur in unserem Blog und dazu gehört, dass Richard von Weizsäckers Hinweis auf den 8. Mai 1945 in Angesicht des von Russland begonnenen Krieges gegen die Ukraine, nicht relativiert werden darf. Klar muss aber auch sein, dass sich in Russland, beginnend beim Präsidenten, Menschen Verbrechen schuldig machen oder diese gutheißen oder zumindest hinnehmen, wofür es Parallelen gibt, für die Ernst Heinrich Freiherr von Weizsäcker Beispiel ist.


  • DNB / audible / Hanser / München 2021 / ISBN: 978-3-8371-5166-4 / 272 Seiten

© Bücherjunge


2 Kommentare:

  1. Du schaffst einen schönen Bogen zur aktuellen Weltlage, das gefällt mir. Das Hörbuch selbst werde ich wohl nicht hören, aber deine Ausführungen dazu fand ich sehr interessant.

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    1. Ansich wollte ich nur ausdrücken, dass "gegen das Vergessen" in viele Richtung zeigt, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Völkerrecht und natürlich Kriegsverbrechen begangen werden.
      Das Buch war nicht einfach zu hören.

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