Sonntag, 20. Oktober 2024

Plenz, Ralf: Lebe wild und gefährlich, Arthur oder

 Großstadt-Oasen II

"Für keinen Buchtitel erhielten wir in den letzten 20 Jahren mehr Lob, als für dieses Hardcover: offener Rücken mit integriertem Text, Fadenheftung, weiße Heißfolienprägung der Schrift auf dem Cover und goldene Heißfolienprägung. Im Innenteil: Eine lesefreundliche Typographie auf einem hellen Fond, 24 Illustrationen und 27 Kalligraphien – durchgängig in Farbe.“ (Verlag)


Damit ist das Buch an sich hinlänglich beschrieben. Autor und Verleger sind eine Person. Im Jahr 2018 kam Großstadt-Oasen II heraus, nachdem er in Großstadt-Oasen I unter dem Titel Das kleine Märchenbuch – Wie ein Buch Leben verändert einen seltenen Blick auf Hamburg, einen Stadtteil, einen Verlag und eine Buchreihe ermöglichte.

Wieder lässt Ralf Plenz seine Leserinnen und Leser teilhaben an Stadt- und Stadtteilgeschichte am Beispiel von den bereits bekannten Leuten: Deco, Imelda, Jimmy, Rick, Victor und Yvonne, die er trotzdem in einer Vorgeschichte vorstellt. Dies verbindet er mit einem Verweis auf die nächste Generation, deren Abstammung sich als etwas verwirrend herausstellen wird. Aber wir sind noch nicht am Ende und außerdem dürfen wir hier nicht alles erzählen.

Diese sechs Hamburger beschließen, den Verein der Isokratiker zu gründen, benannt nach dem griechischen Philosophen Isokrates. Man will sich regelmäßig treffen und gescheite Gespräche führen, abseits von Familie und Alltag. Bei zwei Treffen im Monat bedeutet das 24 tiefsinnige Gespräche über wichtige Themen: Linksalternative Denk-, Wohn-, Arbeits-, Ernährungskultur und Lebensformen. Druck- und Verlagsszene und sonstige Erkenntnisse aller Art. Überalldas werden Leserinnen und Leser umfangreiche Kenntnisse gewinnen.

Soweit, sogut. Es wird im weiteren um Sperrmüllkultur, Klosterhandschriften, Müslimischung, Hausbesitz, Hausbesetzer und Wiesenbesetzer, Gratismöbel, Punkszene, vieles mehr UND Datenmaschinen gehen. Was haben dann noch Yoga, Drogen und ein Nordkaphuhn damit zu schaffen? Nun, das darf man alles nachlesen.

1984 ist das Jahr, indem die sowjetischen Nachrichtenagentur TASS mitteilt, dass in der DDR Nuklearraketen aufgestellt werden. Seit zwei Jahren regiert Helmut Kohl die Bundesrepublik und seit einem Jahr sitzen Grüne im Bundestag. Apple führt den Macintosh ein, das Beschaffungsprogramm der Bundeswehr findet man auf Computerlisten in einem Straßengraben, in Sarajevo finden die Olympischen Winterspiele statt. Bayern verankert Umweltschutz in der Landesverfassung (tatsächlich?) Richard Weizsäcker wird Bundespräsident. Nichtanschnallen kostet zukünftig 40 DM, Joschka Fischer wird für zwei Tage von den Sitzungen des Bundestages ausgeschlossen und an der innerdeutschen Grenze baut die DDR die Selbstschussanlagen ab. *

Vielleicht hab ich was überlesen, aber bis auf diesem Macintosh, kurz Mac genannt, kommt nichts davon im Buch von Ralf Plenz vor, nicht einmal, als das Jahr 1989 ein Rolle spielt. Verblüffend, wenn hier und da die sogenannten K-Gruppen erwähnt werden wobei das K für kommunistisch steht.

Das macht alles nichts, dafür ist mir plötzlich Ottensen, ein 2,9 km2 großer Stadtteil im Hamburger Bezirk Altona näher gekommen. Heute leben dort rund 35.000 Einwohner. (Der Input – Verlag, den ich hier besuchte, ist auf der anderen Seite des Bahnhofs Altona beheimatet). Mittendrin der Spritzenplatz, Zentrum für die Punks, aber wohl nur im Sommer. Fragt mal Decos Oma.





40.000 DM Schlepptop
Nicht nur über die Computergeschichten habe ich mich amüsiert, ein weiterer offensichtlich wichtiger Punkt sind ja die erwähnten Datenmaschinen. Besagte Datenmaschinen haben großen Einfluss auf das Grafik- und Verlagswesen. 40.000 DM für einen „Schlepptop“, Festplatten von 20 Megabyte und Textverarbeitungsprogramme, die Berufe aussterben lassen. Tragisch. Und höchst amüsant. Wir schreiben das Jahr 1984. Man hat einfach Angst, dass Book-on-Demand überhand nehmen könnte. Typographie ist demnach nicht nur die Kunst und Lehre von der Schrift, sondern förmlich Philosophie. Aber das ist kein Wunder für die, die den Ralf Plenz persönlich kennen.

Einigen der Isokratiker hätten die Haare bergauf gestanden, wenn sie diese Tätigkeitsbeschreibung gelesen hätten: „Typografen und Typografinnen für visuelle Kommunikation sind spezialisiert auf Schrift und Typografie. Am Bildschirm gestalten und bearbeiten sie Text und Bild für Print- und Online-Medien. Sie sind zuständig für die gestalterische Qualität sowie eine technisch und wirtschaftlich optimale Umsetzung.“ – AM BILDSCHIRM????

Im letzten Teil des Buches scheinen die Monatsgeschichten (Januar bis Dezember 1984 und die „Überführung“ in die Gegenwart) im ersten Moment teilweise unverständlich und man hofft auf die Auflösung. Die kommt dann auch und so wird die Rolle eines YOGA-Gurus und dessen Machwerk deutlich. Seitdem gibt es die „vier Tibeter“ überall, was ich hier nicht näher erläutern will.

Nebenbei gibt es Versuche Utopia-ähnlicher Unternehmensführung bei gleichem Gehalt für alle, von was die sechs eigentlich leben und ob sie eine auskömmliche Rente beziehen ist etwas schleierhaft. (Elterliche Geldanlagen? Erbschaften?...) Umwelt und soziale Wohnungsfragen spielen eine große Rolle, aber eben nicht die Probleme der Bundesrepublik, des geteilten Deutschlands und der Welt.

Die Konzentration liegt also auf den Erlebnissen von sechs Leuten in Hamburg-Altona-Ottensen und am Ende darauf, was deren Kinder und Patenkinder so rauskriegen über ihre Erzeuger, eben jene Isokratiker, von denen keiner mehr in diesem Stadtteil lebt.



Ansonsten ist es, wie eingangs vom Verlag beschrieben, ein sehr schönes Buch, in dem Typographie und Kalligraphie eine große Rolle spielen, ebenso wie Illustrationen und überhaupt Farbe. Obwohl den Büchern der Rücken fehlt, sind sie keineswegs rückgratlos. Im Gegenteil. Der Autor hat sich hier was von der Seele geschrieben und nun muss ich in Band drei nachlesen, warum Arthur gefährlich ist und ob Casablanca-Zitate und andere auf Videoabenden, als Videorecorder auch im Westen nicht selbstverständlich waren, weiter eine Rolle spielen. 



* * *

A propos Datenmaschine: Auf Seite 119 verlässt der Autor die Zeitebene, indem er darüber sinniert, was künstliche Intelligenz für IHN (noch nicht, aber fast schon für die Isokratiker) bedeuten wenn sich „Liebesromane mittlerweile durch Software generieren lassen, in der Tausende vergleichbarer Werke gespeichert sind.“

Dann lässt er den Rick diskutieren: „Von Redakteuren wissen wir aber, dass seit wenigen Jahren, doch rasant bemerkbar, die sprachliche und inhaltliche Qualität der Texte sinkt, weil sie nicht mehr immer wieder neu durchdacht und strukturiert werden. Das war bislang beim Abtippen der Fall. Text sollte möglichst mehrfach durchdacht werden, und jeder Korrekturprozess bringt Änderungen, die der Qualität meist zugute kommen.“ (Seite 187) (DAS muss der Plenz für mich geschrieben haben.)

Die Diskussion um eBooks ist noch nicht so alt, und entgegen jeglicher Bedenken sind die Bücherregale bis zum Bersten gefüllt, nicht nur mit den KI-Liebesromanen. Daher ist die Angst des Isokraten Victor unbegründet, wenn er darüber schreibt, dass Bücher und Vinyl weggeworfen werden könnten, weil alles auf kleine Karten passt. (Erst letztlich erwarb ich eine Langspielplatte...)



Datenmaschinen und elektronische Notizen


Vielen lieben Dank, lieber Ralf Plenz, diese Bücher stehen nun gleich den Perlen der Literatur in derselben Ebene.
© Bücherjunge




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