Dienstag, 9. Juni 2020

Lisse, Matthias: Die geteilten Jahre

Marcus und ich. Viel gemeinsam haben wir nicht, dieser Marcus Leipold und ich. Sechseinhalb Jahre älter als ich, hätte ich ihn kaum kennengelernt. Und wenn ich ihn kennengelernt hätte, dann hätte er mir nicht von seinen Gedanken erzählt, Gedanken zu dem Land, in dem wir beide geboren waren. Und hätte ich seine Gedanken gekannt, ich hätte sie abgelehnt. 

Eigentlich hätte es die Geschichte des Marcus Leipold so gar nicht geben sollen. Aber Vater und Mutter Leipold sind schlichtweg einen Tag zu spät von der Ostsee wieder in Richtung Süden gefahren. Ihr Ziel war der Bahnhof Friedrichstraße. Doch plötzlich war die Richtung, in die sie umzusteigen anvisierten, gesperrt. Es war ein Sonntag im August des Jahres 1961. Es war der dreizehnte Tag des Monats...



Der kleine Marcus bekommt von seinem Onkel aus dem Westen einen Spielzeugcolt geschenkt, einen mit Zündplättchen. Und Levis. Ein ziemliches Ärgernis in der Schule in dieser Zeit. Er schreit dem Lehrer entgegen, dass die US-Soldaten, wenn sie damit noch bewaffnet wären, schon lange aus Südostasien gejagt worden wären. Und das er alle Indianerbücher von Liselotte Welskopf-Henrich gelesen habe.... Gibt es da doch ein paar Gemeinsamkeiten? Ja. Es sind nicht nur diese Bücher, die wir mochten und mögen (die anderen Hefte bekam ich nie in die Hände), der Junge lernt auch fechten, was ihn wegen der Musketiere fasziniert, genau wie bei mir. Schillers Wallenstein: Interpretation im Deutschunterricht ohne das Stück vollständig gelesen zu haben – kenn ich, brachte mir genauso ein sehr gut ein. Dass in der AULA von Kant der „große sächsische Lügenbold“ besungen wurde (Karl May) ist ebenso eine schöne "gemeinsame" Erinnerung. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auf, ich hätte zwar gern reiten gelernt, aber das stand nie zur Debatte.

Der Autor, Matthias Lisse, erzählt seine Lebensgeschichte. Er beginnt bei den Eltern und setzt mit seinem Leben fort. Marcus Leipold ist sein Alter Ego und beide entwickeln sie eine gewaltige Wut auf dieses Land, welches sich in Richtung Westen mit einem „antifaschistischem Schutzwall“ abgegrenzt hatte. Abertausende hatten das Land in diese Himmelsrichtung verlassen, dieser Wunsch setzt sich in dem Heranwachsenden fest, dem Vielseitigkeitsreiter, dem Studenten der Veterinärmedizin, dem Reitlehrer und Ausbildungsleiter in einem bekannten Gestüt.


Vielseitigkeitsreiter - pixabay

Eines Tages ist es soweit. Seit kurzem sind Besuchsreisen in wichtigen familiären Angelegenheiten in die BRD für Werktätige möglich und Marcus verlässt 1988 Frau und Tochter. Er bleibt in der Bundesrepublik. Keiner weiß genau, wann sie sich wiedersehen werden und doch geschieht dies im Einvernehmen. Das Jahr 1989 ist nicht weit und nun sind dreißig Jahre ins Land gegangen und es erscheint im Verlag Droemer dieses Buch...

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Botschaft in Prag (pixabay)

Erlebnisse. Als in Dresden vor dem Hauptbahnhof Straßenschlachten tobten und Menschen diese Züge zu erreichen begehrten, die von Prag über das Territorium der DDR in die BRD fuhren, war ich weit weg. Es war eine stille Gegend. In wenigen Kilometern endete die Welt. Westfernsehen wäre möglich gewesen, doch war es uns verboten, die Fernseher fest eingestellt und petschiert, die Radios hatten Klebestreifen auf der Skala, die die DDR – Rundfunksender markierten.

Dass Menschen sich in Dresden auf Gleise stellen, ihre Kinder dabei haben, sich und diese gefährden, nur um in die sogenannte „freie“ Welt zu kommen, war mir suspekt. Es machte mich wütend. Ebenso wie die Gewalteskalation, die sich in kommenden Wochen so glücklicherweise nicht wiederholte. 

Aber in den davor liegenden Monaten begann eine Art anderes Denken auch für mich. Sicher hatte dies etwas mit zwei Begriffen zu tun, die da „Perestrojka“ und „Glasnost“ hießen, sie gehörten zum Programm des Genossen Michail Sergejewitsch. Im Sommer 1989 saß ich mit einem Studienkameraden auf dessen Balkon in der Nähe der nördlichen Mauer um Berlin. Wir schauten die Bilder aus Peking und aus Ungarn in der ARD, im ZDF, und uns betreten an: Verdammt, was ist los in diesem Land? Als Dresdner übersetzte man ZDFARD mit „Zentrales Deutsches Fernsehen Außer Raum Dresden“. Allerdings hatte mich vorher das Westfernsehen nicht interessiert. Doch jetzt?

Dieser Marcus Leipold hatte und hat eine gänzlich andere Sicht auf dieses Land, welches sich sozialistisch nannte. Was er noch hatte, waren Erzählungen seiner Oma über den geliebten Opa, der einige Jahre nach 1945 in einem Lager namens Buchenwald saß. Wenn mir einer vor 1990 erzählt hätte, dass die Rote Armee, der NKWD, ein Konzentrationslager weiterbetrieb, ich hätte ihn im besten Falle stehen lassen und für verrückt erklärt oder als ausgemachten Feind angesehen. Was die Oma im Roman dem Jungen nicht erzählt, waren ihre „Erlebnisse“ mit den Siegern, die einen Roten Stern auf der Mütze trugen. Die Impulsivität des Dreizehnjährigen hätte diese tragischen Erlebnisse offen gelegt, die Folgen in Schule, Sport unabsehbar.
(Nicht, dass ich davon in den letzten Jahren der DDR nicht gehört hätte – jedoch habe ich Vergewaltigungen als durchaus verfolgungswürdige Ausnahme Einzelner angesehen.)

Ich hätte viele Fragen an meinen, viel zu früh verstorbenen (1991) Opa gehabt, auch über dessen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion.

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Personen. Außer der Kernfamilie, zu der Großeltern, Eltern und ein paar Onkel und Tanten gehören, kann man halbwegs positive Personen leicht mit den Fingern abzählen. Eine Klassenlehrerin hat zwar Verständnis für Gedanken und Auffassungen,  aber verteidigen tut sie den Jungen nicht. Freunde der Schulzeit oder aus dem Sport: keine Namen, keine Charaktere. Der Fechttrainer – Freund? Soldaten, die ähnliche Schwierigkeiten haben: Fehlanzeige. Ausnahme: ein Unterleutnant, ein Offizier (Zeitsoldat) - aber keiner aus den Mannschaften?. Einzig der Professor der veterinärmedizinischen Fachschule ist eine sympathische Figur, vielleicht noch der Direktor des Gestüts, in dem Marcus später arbeitet, übrigens die beiden einzigen Kommunisten (SED-Mitglieder), die eine positive Zeichnung erhalten.

Das ist der Punkt, der mich bei solchen Rückblicken nervt: Wie kommt man durch Abitur (bei Marcus spielt hier Glück und Zufall eine Rolle), Studium und Beruf, ziemlich erfolgreich, ohne Freunde, Kommilitonen, Lehrer? Überall vermutete IM´s der Stasi (kannte man die Abkürzung vor 1988?), bei Nachbarn, Kollegen... 

Ich behaupte, das Leben in der DDR war viel bunter und individueller, als dies in solchen Rückblicken dargestellt wird. 

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Collagen und Stil. Ich las durchaus berührende Szenen, die ich für wahrhaftig halte, es sind die besten Geschichten in diesem autobiografischen Roman. Dazu zähle ich die Erzählungen der Großmutter über den Großvater, dessen Lebensgeschichte und Rolle im Krieg. Ebenso berührend deren eigene Geschichte zum Kriegsende, die Flucht aus Schlesien, die Repressalien, mehrfachen Vergewaltigungen. Hier könnte Lisse vielleicht weniger autobiografisch gearbeitet haben, dies für seine Botschaft genutzt haben, denn Marcus sind diese Begebenheiten ja verschwiegen worden.

Die Geschichte der Familienzusammenführung gehört dazu. Eigenes Erleben, eigene Gefühle, die Liebe zu Frau und Tochter, ja, das glaube ich dem Autor sofort. Bewegende Seiten und Zeilen. Anderes nicht.

Matthias Lisse arbeitet mit Textcollagen. In der ersten Collage trifft Erich Honecker den Walter Ulbricht 1961 nach dessen bekanntem Satz: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“. Gute Idee, könnte so gewesen sein.
Gleich im dritten Kapitel, Collage 2, unterhalten sich Margot und Erich Honecker in Wandlitz über verschiedene Sachen, wobei sie Günther Mittag und Alexander Schalck-Golodkowski erwähnen.  Meines Erachtens ist diese Episode unwichtig, bringt dem Leser nichts, wenn er nur wenige Geschichtskenntnisse hat, außerdem ist diese Episode für den weiteren Verlauf des Romans überflüssig.
Dann befinden wir uns in Helsinki 1972 und Erich Honeckers äußert Bedenken über die Charta, die er da unterschreiben soll, obwohl er stolz zwischen Helmut Schmidt und Gerald Ford sitzt: Passt zum Thema.

Wikipedia*


Eine weitere Collage behandelt die Olympischen Spiele 1980 in Moskau, die von den westlichen Staaten boykottiert werden auf Grund des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan. Honecker, Verner und Ewald (Präsident des DTSB) diskutieren die Entsendung von Sportlern, die aus finanziellen Gründen und geringer Medaillenchancen nicht gefördert werden. Passt ebenfalls, denn Marcus Leipold arbeitet ja im Pferdesport mit durchaus maßgeblichen Erfolgen.
Ebenfalls passend, die Diskussion im Politbüro der SED zu Gorbatschow und ein Interview für das westdeutsche Magazin Der Stern. In der letzten Collage geht es um die Entscheidung, dass die oben bereits erwähnten Züge durch DDR-Gebiet fahren müssen. Genau an der richtigen Stelle eingefügt.

Hier hätte neben dem Glossar zu Begriffen aus dem DDR-Alltag eine Erläuterung zu diesen Episoden angefügt werden können. Ich denke da außerdem an die Gestaltung der Jahrhundert-Trilogie von Ken Follett, die grafische Collagen beinhaltete, die zum Beispiel Zeitungsausschnitte aufwiesen, Zeichnungen und mehr. Für die jüngeren Generationen ist dies fast schon ein historischer Roman. Daher hätte man ihn diesbezüglich so behandeln können, zumal Matthias Lisse genau solche ebenso schreibt.

Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR schleichen sich außerdem kleine Fehler ein. Wieso muss Marcus Leipold, der die Mitgliedschaft in der SED strikt und dauerhaft ablehnt zum Parteilehrjahr? Parteirügen für Nichtmitglieder gab es auch nicht – betriebliche Tadel allerdings. Das 2. Fernsehprogramm der DDR habe ich ganz anders in Erinnerung. SPUTNIK als Pflichtlektüre? Und diverse kleine, sicherlich zu vernachlässigende Dinge. 


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© Bücherjunge


An wen richtet sich dieses Buch? Der Roman „wendet sich an all diejenigen, die diese Zeit in Ost und West miterlebt haben, aber auch an die nachfolgenden Generationen, um ihnen zu erzählen, was sich so alles im Arbeiter- und Bauernparadies abgespielt hat.“ (Matthias Lisse)

Es ist die anscheinend vorherrschende Sicht auf die vierzig Jahre, die diese Deutsche Demokratische Republik existierte. Grau, schrecklich, die eine Hälfte der Bevölkerung gegen dieses Land, die andere irgendwie an die Staatssicherheit angebunden. Das im Rahmen der Bürgerrechtsdemonstrationen und -Vereinigungen so mancher an eine Veränderung des Sozialismus dachte, statt an einen Beitritt zur Bundesrepublik, wird nur gelegentlich erwähnt, bei Matthias Lisse nicht. Der erwähnt zwar die Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 04.11.1989 aber nur in Bezug auf die Pfiffe gegen Schabowski und Wolf, dessen „Troika“ er vermutlich nie gelesen hat.

Ich werde und ich kann damit leben. An mich, den ehemaligen Berufsoffizier, richtet sich das Buch eher nicht. Achtundzwanzig Jahre und ein paar Rückblicke umfasst das Buch, die Zeit zwischen Mauerbau und Mauerfall. Heute lebe ich länger ohne Mauer als mit. Der Unterschied besteht darin, dass ich mich nie über dieses Bauwerk aufgeregt habe, damals. Heute bin ich der Auffassung, dass spätestens nach der Konferenz von Helsinki ein derartiges Grenzregime nie ausgebaut hätte werden dürfen. Es hat nur Leid und Elend gebracht. Verhehlen kann ich andererseits nicht, dass diese DDR gleichermaßen von Menschen aufgebaut wurde, die nach dem Großen Krieg mit einem anschließenden verunglückten Demokratieversuch und dem nachfolgenden Nationalsozialismus samt 2. Weltkrieg an diese Gesellschaft glaubten, Menschen, an die keiner mehr denkt, geschweige denn über sie schreibt, oder sie wenigstens erwähnt. Dass es Biografien fleißiger Leute gab, die an diese Gesellschaftsordnung glaubten ohne direkt im Staats- oder Sicherheitsapparat zu arbeiten, Mitglied von Parteien oder nicht, das wird heute oftmals ausgeblendet. So mancher von diesen wendet sich heute deshalb extremen Gruppierungen zu.

"Nur durch solche Bücher, die wirklich authentisch erzählen, wie viel Unrecht "der Arbeiter und Bauerstaat" an seinen Bürgern begangen hat, können wir "Wessis" uns überhaupt ein Bild davon machen und hoffentlich manches besser verstehen." 
(Leser-Welt Blog auf Verlagsseite Droemer Knaur.)

Nein, könnt "ihr" nicht. "Ihr" bekommt einen Einblick. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist die authentische Darstellung eines der vielen DDR-Bürger, die letztlich sehr viel auf Spiel setzten, um diesen Staat zu verlassen. Zum Bild über die "Brüder und Schwestern" im Beitrittsgebiet, genannt die "neuen Bundesländer", und zum beiderseitigem Verstehen gehört mehr.

Trotzdem bin ich froh, dieses Buch gelesen zu haben. Über lange Strecken fieberte ich mir Marcus und Imke mit. So lernt man Menschen „kennen“, deren Denkweise mir lange Zeit unbekannt war, zumindest aber unverständlich. Dieser Mosaikstein erweitert meine Erfahrungen, nicht unerheblich beeinflusst durch dreißig Jahre Bundesgrenzschutz / Bundespolizei und die damit verbundene Zusammenarbeit und  Kollegialität mit Kolleginnen und Kollegen aus dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.

Ob Matthias Lisse ebenso differenzieren kann? Ob wir uns über so unterschiedliche Erfahrungen und Ansichten sachlich und auf Augenhöhe unterhalten könnten? Ich weiß es nicht.

Auf das Buch wurde ich aufmerksam, weil es auf einer Social-Media-Plattform eine geharnischte Diskussion zum Buch gab und dessen Autor scheinbar Schwierigkeiten mit harten Auffassungen in Kritiken und Rezensionen offenbart. Und nun bin ich gespannt...

Vielen Dank an den Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte, was hier zu einem weiteren Rückblick im dreißigsten Jahr des Mauerfalls führte.



© Bücherjunge

3 Kommentare:

  1. Matthias Lisse hat mir eine lange Mail geschrieben. Schon unter Facebook schrieb er auf die Frage nach direkter Unterhaltung: "Ich denke schon und würde mich darüber freuen. Wie machen wir's? Bei einem Kasten Bier, ein paar Flaschen Rotwein oder wechselseitig mit Kommentaren auf deiner Blog-Seite?"

    Ich bin sehr gespannt, was daraus wird. Wenn es wird, dann wird es auch eine Diskussion um die Wirkung von Romanen auf die Rezipienten. Und eine Diskussion darüber, wie sich einstige Feinde nun verständigen können.

    Doch haben wir ja auch ein paar Gemeinsamkeiten, wie Ihr gelesen habt. Historische Romane, Geschichte, gehören dazu. Das wird spannend.

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  2. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wenn du zu Büchern eine Verknüpfung zu deinen persönlichen Erfahrungen und Standpunkten herstellst - diese Buchbesprechung habe ich sehr gerne geleen. Und auch wenn du hier punktuell Kritik übst, kann der Autor dies nicht 'übel' nehmen, weil es so differenziert dargestellt wird. Ich bin gespannt auf euren Austausch!

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    1. Der ist ziemlich intensiv, eignet sich aber weniger zum veröffentlichen.
      Danke, Anne, für deine Zeilen.

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