Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der
Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal.
Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky
vor allem den Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.
- Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
- Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (24. April 2020)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung: Sina de Malafosse
- ISBN-10: 3423282134
- ISBN-13: 978-3423282130
- Originaltitel: La Vraie Vie
Erneut ein Roman, den ich im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin
lesen durfte - hierauf war ich angesichts von zahllosen positiven Rezensionen sehr gespannt. Ob er mich begeistern konnte, könnt Ihr hier nachlesen:
GEWALTSPIRALE...
Dies ist wieder einer der Romane, denen man mit einer Rezension kaum
gerecht werden kann. Das beginnt schon damit, dass sich die Erzählung
kaum klar einem Genre zuordnen lässt.
Ein Jugendbuch ist es nur bedingt (höchstens für ältere Jugendliche,
vielleicht ab 15 Jahren). Ein Familienroman - nun ja, im weitesten Sinne
schon, aber es ist schon eine besondere Familie und weit entfernt von
'Wir haben uns alle lieb'. Eine Coming-Of-Age-Geschichte - joah, auch
das irgendwie, denn das Mädchen, um das sich die Handlung dreht, wird im
Verlauf der Erzählung älter und entwickelt sich vom Kind zur
puberierenden Jugendlichen. Ein Thriller - hm, einige Passagen, v.a.
gegen Ende des Romans, muten durchaus so an. Ein Märchen - tatsächlich
tauchen hier immer wieder Elemente dieser Erzählform auf. Ein Alptraum -
DAS in jedem Fall...
Denn tatsächlich muss hier eine klare Triggerwarnung ausgesprochen
werden. Wer mit Tierquälerei und Szenen von Gewalt und Misshandlung
nicht umgehen kann, dem sei von der Lektüre abgeraten.
Oh Mann, ich vergebe hier fünf Sterne, was sagt das jetzt über mich aus?!
"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen
euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure
Schultern, um euch am Flliegen zu hindern. Von solchen Leuten haltet
euch bloß fern." (S. 19)
Tatsächlich fällt es mir schwer in Worte zu fassen, was mich an dem
Roman so fasziniert hat. In erster Linie ist es wohl die Art des
Schreibens - der Aufbau der Erzählung, der Schreibstil, die verrückten
Metaphern, die Bildhaftigkeit, der stete Wechsel von heftigen Szenen und
unerwartetem Humor, die Verbindung von Animalischem und Zartem, der
Sog, dem man sich beim Lesen, warum auch immer, nicht entziehen kann...
Erzählt wird das Geschehen ausschließlich aus Sicht des bis zum Ende
namenlosen Mädchens, das zu Beginn gerade einmal zehn Jahre alt ist.
Verstörend, wie sie ihre Familie schildert: der Vater, Großwildjähger
und Trophäensammler, ein Riese mit breiten Schultern wie ein Abdecker,
die Mutter eine Amöbe. Bedrohung und Chancenlosigkeit, das wird gleich
zu Beginn klargestellt. Einziger Lichtblick ist der kleine Bruder Gilles
mit seinem Milchzahnlachen.
Doch das Lachen vergeht Gilles auf einen Schlag, als er und seine
Schwester Zeuge eines Unfalls werden. Gilles beginnt sich zu verändern,
und das Mädchen sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, um sein
Milchzahnlachen zurückzuholen. Eine Zeitmaschine soll es richten, wofür
das Mädchen zunächst viel Fantasie aufwendet und später noch mehr
Lerneifer. Wenn sie nur erst die physikalischen Zusammenhänge versteht,
so glaubt sie, kann sie den Unfall - und alles was danach passierte -
ungeschehen machen.
"Denn das Leben war nun einmal eine Ladung Fruchtpüree in
einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den
Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden." (S. 74)
Gewalt zieht sich durch die gesamte Erzählung, das Gefühl der
Bedrohung wächst mit jeder Seite. Der Vater ein Tyrann, der sich anfangs
mit seinen Gewaltausbrüchen auf die Mutter konzentriert, doch als das
Mädchen älter wird, gilt es auch ihr die Rolle als sich
unterzuordnendes weil weibliches Wesen zu verdeutlichen. Und auch der
Bruder sucht ein Ventil in gewalttätigem Verhalten. Jeder in der Familie
ist ein Einzelkämpfer, allein das Mädchen will an seinem
Verantwortungsgefühl Gilles gegenüber festhalten. Doch die Gewaltspirale
droht alles in den Abgrund zu ziehen...
"Ich hingegen wusste, dass der Anblick von Blut allein
ihm nicht genügen würde. Er musste es selbst zum Fließen gebracht haben.
Mit seiner Faust oder mit einer 22-Millimeter-Kugel." (S. 112)
Die Charaktere kommen durch die distanzierte Erzählweise nicht
wirklich nahe, und doch werden subtil Gefühle transportiert. Die
Einsamkeit des Mädchens, die Verzweiflung, Angst, Panik, Wut, aber auch
der Trotz und der unbedingte Wille, nicht auch zum Opfer zu werden - das
alles ist nahezu greifbar. Allein die nahezu sachliche Fesstellung des
Mädchens, als ihr plötzlich klar wird, dass auch sie nun zur Beute ihres
Vaters geworden ist - Gänsehaut...
Gewalt und Spannung nehmen mit jeder Seite zu, und weder das Mädchen
noch der Leser kann sich dem entziehen. Ein anwidernd-faszinierender Sog
ließ mich zunehmend atemlos durch die Seiten jagen bis zum Ende, das...
Nein, das wird natürlich nicht verraten.
Verstörend, ein Schlag in die Magengrube, ein Sog, der einen erst mit
der letzten Seite entlässt - gleichzeitig distanziert und aufwühlend.
Ein Romandebüt, das es in sich hat!
© Parden
Adeline Dieudonné, 1982 in Brüssel geboren, wo sie mit ihren beiden
Töchtern auch heute wieder lebt, ist von Beruf Schauspielerin. Nach
mehreren preisgekrönten Erzählungen und einem erfolgreichen
One-Woman-Theaterstück hat ›Das wirkliche Leben‹ die Herzen der
französischsprachigen Leser im Sturm erobert: Das grandiose Romandebüt
stand monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit 14 (!)
Literaturpreisen ausgezeichnet und wird in 20 Sprachen übersetzt.
Deine gute Rezension erzeugt eine gewaltige Spannung, liebe Anne. Worin das Finale der Geschichte besteht, ist völlig im Nebel verblieben. Aber ich werde das Buch wohl nicht meinem Stapel ungelesener Bücher hinzu fügen.
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