Mittwoch, 27. März 2024

Kowalczuk, Ilko-Sascha: Walter Ulbricht - Der deutsche Kommunist

Als Walter Ulbricht am 1. August 1973 starb, fanden in Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, die X. Weltfestspiele statt. Das Ereignis, also die vom Weltbund der demokratischen Jugend (WBDJ) veranstalteten Weltjugendspiele, drang natürlich bis das Klassenzimmer des damals neunjährigen Dresdner Jungen, der nun diese Zeilen hier schreibt. Sicherlich auch die Meldung, dass der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, der Genosse Walter Ulbricht (mittendrin) verstarb. Vielleicht wurde das auf einem Schulappell der Pionierfreundschaft bzw der FDJ-Grundorganisation der 35./54. POS in Dresden-Löbtau auf der Clara-Zetkin-Straße erwähnt, erinnern kann ich mich daran nicht. Ebenso nicht daran, dass das Stadion der Weltjugend, in dem diese Weltjugendspiele eröffnet wurden, bis vor kurzem noch Walter-Ulbricht-Stadion hieß.

Viel mehr im Gedächtnis dieser ersten Schuljahre des damaligen begeisterten Jungpioniers ist das Sammeln von Bleistiften und Schulheften für die nordvietnamesischen Bauernkinder, die Rosenkarten für US-Kommunistin Angela Davis, die als terrorverdächtig angeklagt war, die Niederschlagung der Unidad Popular von Salvador Allende durch den Putsch des Generals Pinochets und ein Lied: „Alle auf die Straße, rot ist der Mai, alle auf die Straße, Saigon ist frei“. Doch das war bereits 1975. Angela Davis und Luis Corvalan, der Vorsitzende der kommunistischen Partei Chiles, neben denen immer irgendwie Erich Honecker, Ulbrichts Nachfolger als Generalsekretär der SED stand, waren als Namen weit geläufiger als der des „erfolgreichsten deutschen Kommunisten“.

Walter Ulbrichts Name spielte vielleicht noch eine Rolle als Nebenfigur in den Ernst-Thälmann-Filmen, sonst erinnerte ich mich wahrscheinlich erst wieder an ihn, als ich das Erinnerungsbuch eines gewissen Obersts Wilhelm Adam las, der über den Schweren Entschluss seines Vorgesetzten, des Generalfeldmarschalls Friedrich Paulus schrieb. Im Kriegsgefangenenlager bei Moskau trafen Generäle und Truppenführer der deutschen Wehrmacht auch auf Walter Ulbricht... Auch das ist Thema in dieser Biografie...

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Die Biografie.   Während über Konrad Adenauer, den ersten Bundeskanzler viel geschrieben wurde, existiert wohl nicht Vergleichbares über den Mann, der lange Jahre an der Spitze des benachbarten deutschen Staates stand, obwohl Walter Ulbricht „für die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ein kaum weniger prägende Figur“ gewesen sei. Das und anderes veranlasste den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, endlich eine umfassende wissenschaftliche Biografie zu verfassen. Vor uns liegt, so der Verlag, „die Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen durch die Augen eines deutschen Kommunisten“.

Der Autor fand es zu Beginn nützlich darzustellen, was es bedeutet, eine Biografie zu verfassen, diese Biografie zu schreiben und was es vor allem für ihn bedeutet. Rund zehn Jahre beschäftigte er sich mit diesem Mann, der „ihm immer fremd war“, dabei entdeckter einen Ulbricht, den er bisher nicht kannte. Das heißt, er wurde sogar „zu seinem Ulbricht“. Entwickelte sich da etwa eine Art Sympathie für den Mann, den „Mauerbauer“? Oder für den, „der sich aus einem prekären sozialen Milieu herausarbeitete, sich als Autodidakt eine beachtliche Bildung aneignete, klug und schlau, gewitzt und auch witzig war, gern auf einem Berg saß und in die Weite schaute?“ (Seite 14)

Kowalczuk nähert sich seinem „Gegenstand“ an, der Leser hier tat das in Wochen des Lesens ebenfalls.  Der Rezensent sah in den deutschen Kommunisten der Gründerzeit zwar keine übermäßigen Lichtgestalten (sieht man vom Thälmann-Mythos meiner Jugendjahre einmal ab), aber auch keine Verbrecher. Auch jetzt ist der Begriff „Kommunismus“ für mich nicht gleichbedeutend mit einer menschenverachtenden Diktatur, wohl wissend, dass genau solche mehrfach unter seinem Namen entstanden. Für den Rezipienten war es viel wichtiger, einen tiefen Blick in die deutsche Arbeiterbewegung und die KPD-Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu werfen. Dass dies mit den vorliegenden siebenhundertfünfundsiebzig Seiten und zweihundertdreißig Seiten Fußnoten gelang ohne nun gleich noch hundert Werke mehr lesen zu „müssen“, schon dafür hat sich die etwas langwierige Lektüre unbedingt gelohnt. Ja es hat gedauert, das Lesen, auch hat der Rezensent eher selten nachrecherchiert.

Das Lesen der Biografie mit insgesamt eher seltenen "Recherchen" hat gedauert...

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Aufbau und Gliederung.   In dreizehn Kapitel mit fast schon unzähligen Unterkapiteln hat Kowalczuk seine Biografie eingeteilt. Knapp siebzig Seiten widmet der Autor der Kindheit und Jugend, der Bekanntschaft mit der Sozialdemokratie, dem Eintritt in die Arbeiter- und Arbeiterjugendbewegung. Schon hier wird betont, dass Ulbricht neben der Berufsausbildung immer lernte und las, Vorträge besuchte. Von der Mutter bekam er die Liebe zu den deutschen Klassikern mit. Dieser in der Jugend erlernte und geübte Fleiß bildet dann die Grundlage für einen „immerarbeitenden“ Funktionär.
Der Ausbruch des 1. Weltkrieges, die Rolle seiner Partei und deren Spaltung, die zu mehreren Splitter-„SPD´n“ führte und natürlich zur KPD-Gründung sind Gegenstand von Kapitel zwei und drei.


Kapitel vier beschreibt den Weg zum Parteifunktionär in Sachsen, Leipzig und Thüringen, wobei der Eisenbahnerstreik von 1922 eine Rolle spielte, in dessen Folge Beamte (Eisenbahner waren lange Zeit Beamte) nicht mehr streiken durften. Die ersten Auseinandersetzungen mit den aufkommenden Nationalsozialisten werden im fünften Kapitel dargestellt.

Auf dem Parkett der Weltrevolution, bewegen wir Leser uns im Anschluss und lesen, welche Rolle das EKKI, das Exekutivkomitee der kommunistischen Internationale spielte, eine Art Weltpolitbüro unter der Regie Stalins. Hier sehen wir in den Kapiteln sechs, sieben und acht Walter Ulbricht auch in Moskau und den Aufstieg bis in die Führungsetage der kommunistischen Weltbewegung. Kapitel zehn ist dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur gewidmet. Die beiden längsten Kapitel elf und zwölf mit je rund 130 Seiten beziehen sich auf den Versuch der Installation einer Volksfrontpolitik in der Emigration und auf den Aufstieg Walter Ulbrichts zum Führer der KPD, während Wilhelm Pieck als Ältester gesundheitlich nicht mehr sehr auf der Höhe und Ernst Thälmann, der Vorsitzende der Partei, im Gefängnis saß. Das letzte Kapitel beschäftigt sich dann mit den Überlegungen zu aufgaben nach dem Krieg und der Machtübernahme.

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Themenkreise.   Natürlich ist das Thema „Partei“ eines der wichtigsten. Deutlich führt der Autor den Leserinnen und Lesern vor Augen, dass einerseits die Gründung von USPD und KPD im Prinzip folgerichtig, ich würde sagen unvermeidbar war. Der leninsche Gedanke von der „Partei neuen Typus“, also der „Avantgarde der Arbeiterklasse“, das Verständnis als Berufsrevolutionär, gepaart mit der Vorstellung, man hätte die einzig wahre Weltanschauung, ist der Ausgangspunkt einer undemokratischen Parteientwicklung, deren Funktionäre auf den unterschiedlichen Ebenen sich in ihren Drang revolutionärer als der andere zu sein, ständig im Wege standen und auch mit intriganter Art und Weise gegeneinander auftraten.
 
Der wichtigste Aspekt ist die Spaltung der Arbeiterbewegung. Der vielleicht schlimmste Fehler der führenden Kommunisten um Thälmann ist der, dass man einerseits die Arbeiter, die dem aufkeimenden Nationalsozialismus zuliefen, als „verirrte Schafe“ mit Rückkehrpotential benannte, den Sozialdemokraten aber „Sozialfaschismus“ vorwarf und sie als „Steigbügelhalter“ der Faschismus bezeichnete. Kowalczuk zeigt hier seinen Leserinnen und Lesern, dass in diesem Konflikt eine mögliche Einheitsfront gegen den Faschismus schon im Ansatz zerbröckelte.

Er kennzeichnet des Weiteren Ulbricht als einen hervorragenden Fachmann in Fragen der Parteiorganisation und Gewerkschaftsfragen. Der Gedanke, die Basisorganisationsgruppen in den Betrieben (Betriebszellen) zu installieren und nicht nach Wohnorten wie die SPD, sollte Arbeitskämpfe besser ablaufen lassen und auch die Arbeit in der Illegalität, mit der die KPD immer rechnete, vereinfachen. Verblüffend dabei allerdings ist der Umstand, dass es dafür nie genügend kommunistisch organisierte Arbeiter gab.

Eines der schlimmsten Kapitel der Kommunismusgeschichte ist das auch hier breit dargestellte Thema der Überwachung kommunistischer Emigranten (Hotel Lux) durch den sowjetischen Geheimdienst, die Verhaftungen und Hinrichtungen unzähliger vermeintlicher Spione und Verräter. Die Uneinigkeit und das Gegeneinander kommunistischer Führungskräfte, mehr oder weniger durch Denunziationen von Genossen geprägt, trug dazu nicht unerheblich bei. Ulbricht reiht sich da ein, wenn es gilt, recht zu haben und andere zur kritisieren.

Die Rolle „Moskaus“, des EKKI, und dessen Einfluss auf die Führungen der kommunistischen Parteien Europas wird intensiv beleuchtet, eindrucksvoll wird vor Augen geführt, dass die Auslandsorganisationen letztlich kaum Einfluss auf den kommunistischen Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland hatten. Die kurzzeitige Lähmung nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt hielt dann aber nicht lange an.

Die Rolle Walter Ulbrichts in Bezug auf Propagandaaktionen an den sowjetischen Fronten und die Arbeit in den Kriegsgefangenenlagern, vor und nach Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und des Bundes deutscher Offizier (BDO) ist im Rahmen der umfangreichen Biografie eher eine Episode. Mir fiel dabei die Erwähnung des Erinnerungsbuches des Obersten Wilhelm Adam Der schwere Entschluss und die von Literaturprofessor Carsten Gansel wieder aufgefunden und veröffentlichten Originalmanuskripte der Bücher von Heinrich Gerlach. Damit verbunden eine Art Anekdote, nach der Ulbricht den Bruch Hindenburgs mit der Monarchie am Ende des 1. Weltkrieges in Gesprächen mit hohen Offizieren und Generälen erwähnte, eine Episode, den ich mehrfach in Memoiren las.



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Der Autor.  Ilko Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, hat zehn Jahre an dieser zweibändigen Biografie gearbeitet. Sein Schwerpunkt als Historiker ist Kommunismus- und DDR-Geschichte. Der in Printmedien oft interviewte und in den sozialen Medien sehr prominente Wissenschaftler zeigt mit seinen Büchern diesen Schwerpunkt deutlich an. Während er gelegentlich zum Beispiel auf Facebook sehr direkt und ablehnend auf Einlassungen reagiert, sind seine Veröffentlichungen von umfangreicher Recherche und Wissenschaftlichkeit geprägt.

Aufmerksam wurde ich auf Kowalczuk durch einen Dresdner Autor, der einen historischen Kriminalroman um den 17. Juni 1953 geschrieben hatte. Ich fragte Frank Goldammer damals, welche Quellen er benutze und er sprach von Kowalczuks 17. Juni 1953. Ähnliches läßt sich von DIE ÜBERNAHME sagen, ein Buch über den Umgang mit der „DDR-Wirtschaft“ nach der Wiedervereinigung.



Folgerichtig erscheint diese zweiteilige Biografie, die den Anspruch auf umfassend und differenziert dargestellte Kommunismusgeschichte unbedingt erfüllt. Der Nichthistoriker, welcher nicht gleich weiteres Quellenstudium betreiben will, und muss, ergibt sich hier ein weiter erhellender Blick in die letzten 130 Jahre.

Das Buch.   Der Leser hier hatte nie das Gefühl, an irgend einer Stelle zuviel oder zu wenig zu bekommen. Trotz dieses Umfanges scheint jedes Kapitel erschöpfend behandelt wurden zu sein. Wo der Autor meinte, das Erläuterungen von Grundsätzlichem nötig seien, hat er diese eingefügt. Wiederholungen erscheinen äußerst selten und wenn, dann beziehen sie sich auf die Person Ulbricht und unterstreichen Charakter oder Arbeitsweise oder Auffassungen.

Eigentümlich wirkt das gelegentliche Gender-Schreiben. Da finden sich die Nationalsozialist*innen und die Antifaschist*innen, seltsamerweise fand ich nie die Kommunist*innen. Es passt irgendwie nicht. Während heutzutage davon ausgegangen wird, dass eine Vielzahl von unterschiedlich empfindenden Menschen insgesamt durch diese  Schreibweise angesprochen oder abgeholt werden sollen, sind die Personen, die im Umfeld Walter Ulbrichts auftraten, in den allermeisten Fällen bereits tot. Zudem dachten sie überhaupt nicht in diesen Kategorien oder Zugehörigkeiten.


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Geschichtsrezeption.
  Als pro-DDR erzogener und überzeugter Offiziersbewerber stand ich dem unkritischen Geschichtsunterricht ziemlich widerspruchslos gegenüber. Eine gewisse Kritik dem Umstand gegenüber, dass der Marxismus-Leninismus ewig wäre, weil er wahr sei, wo doch die materialistische Dialektik darstellte, dass sich die Gesetzte in Natur, Gesellschaft und im Denken objektiven Charakter hätten, sich somit auch die Weltanschauung weiterentwickeln müsste, verlor sich immer wieder. Von den Problemen im sogenannten „Thälmanschen Zentralkomitee“ hatte ich in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung gelesen.  Ulbricht war übrigens der Herausgeber.  Der neuere Thälmann Film mit Helmut Schellhardt in der Hauptrolle deutete dies nur ganz sachte an. (Im übrigen sind die acht Bände zur Geschichtsrezeption eher nicht geeignet) 

Der Terror in Moskau gegenüber den Emigranten kam mir erstmals bewusst vor Augen durch das Buch Die Troika von Markus Wolf über seinen Bruder Konrad und dessen Freunde während der Emigration im Hotel Lux. Das Buch wurde aber auch erst 1989, vor dem Herbst, veröffentlicht.
Allerdings wurde ich bereits beim Lesen unzähliger Kriegsbücher im Dreiteiler Die Lebenden und die Toten von Konstantin Simonow auf den stalinschen Terror auch unter der Führung der Roten Armee in den Jahren 1936/37 aufmerksam.

Durch Filme wie Wehner – Die unerzählte Geschichte wurde in den letzten dreißig Jahren so manches Bild deutlicher und dieses Buch wirkt förmlich noch einmal augenöffnend, wenn die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts und die Gründung der KPD derart detailliert vor den lesenden Augen aufgeblättert wird.

Interessant ist auch der Aspekt, dass die KPD teilweise die Verfolgung der jüdischen deutschen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten nur ungenügend verurteilte, weil sie jüdische Fabrikanten Bankiers, Kaufhausbesitzer, Rechtsanwälte als dem Kapital zugehörig definierten. Findet sich hier ein Linie zu antisemitischen Tendenzen in linken Gruppen gegenüber Israel?

Ilko-Sascha Kowalczuks immer wieder vorgebrachten Forderung nach Lehrstühlen für Kommunismus und DDR-Geschichte hat ihre Berechtigung, das sehe ich an mir einerseits und andererseits an der meist unreflektierten Vermengung zweier totalitärer Regime, deren Methoden, wenn auch nicht im Umfang, vergleichbar, in der Ideologie aber diametral entgegengesetzt waren.

Im Begriff Kommunismus oder Kommunist finde ich trotzdem oder genau deswegen nichts immanent Verbrecherisches. Sowohl die Gründung der KPD wie auch die der DDR ist auch auf Menschen zurückzuführen, die damit soziale Gerechtigkeit, Frieden, Antifaschismus, Antikolonialismus, Antirassismus verbanden. In meinen Augen eine rechnerisch nicht zu definierende Gruppe, die im Rückblick gelegentlich negiert wird. 

Gleichwohl richtet sich das Buch auch an diese und würde von mir auch in dieser Richtung empfohlen werden, denn es ist eine Art Anfang in einer modernen Geschichtsrezeption. Insofern bin ich nun gespannt auf Teil zwei und danke dem CH. Beck Verlag für das Rezensionsexemplar.

Auf der Leipziger Buchmesse 2024 wurde inzwischen Teil 2 der Biografie vorgestellt.




  • Autoren Bild oben vom Verlag
  • DNB / CH Becks / München 2923 / ISBN: 978-3-406-80660-5 / 1006 Seiten

© Bücherjunge (19.08.2024)

3 Kommentare:

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