Sonntag, 24. März 2024

Köhlmeier, Michael: Das Philosophenschiff

 


DNB / Hanser / 2024 / ISBN: 978-3-446-27942-1 / 224 Seiten

 Michael Köhlmeier auf Litterae Artesque: 

 

 

 

Kurzmeinung:
 
Se non è vero, è molto ben trovato. - Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Fast wahre Einblicke in die russische Geschichte...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

SE NON È VERO, È MOLTO BEN TROVATO - WENN ES NICHT WAHR IST, IST ES DOCH GUT ERFUNDEN...

 

Quelle: Wikipedia
 

Ein Kammerspiel präsentiert Michael Köhlmeier hier als Rahmenhandlung der Erzählung. Ein Autor, eine Hundertjährige, viele Gespräche. Anouk Perleman-Jacob möchte vor ihrem Tod noch von Erlebnissen berichten, die bisher in keine der beiden bereits erschienenen Biografien über die berühmte Architektin eingeflossen sind. Der eingeladene Schriftsteller, der unschwer als Alter Ego von Köhlmeier selbst zu erkennen ist, erscheint regelmäßig zu den angesetzten Terminen und lauscht den Erinnerungen der Hundertjährigen.

Der Roman fordert seine Zeit. Zahlreiche Themen werden angerissen, die Erinnerungen von Anouk sind sprunghaft und verlieren sich immer wieder in (scheinbar) nebensächlichen Details. Eine ernsthafte Lektüre erfordert ein Nachforschen im Internet, nahezu genauso zeitintensiv wie das Lesen selbst. So erfährt man beispielsweise zum Titel des Romans: "Philosophenschiff wird eine Aktion der bolschewistischen Regierung Sowjetrusslands genannt, bei der missliebige Intellektuelle im September und November 1922 außer Landes gebracht wurden. Der Urheber der Ausweisung, Lenin, hat dies als «Langzeitige Säuberung Rußlands» bezeichnet." (Quelle: Wikipedia)

Anouk berichtet von einem Stück russischer Geschichte, die wie so oft von Gewalt geprägt war, von Hunger, Armut, Unterdrückung, Denunziation, Willkür, Eliminierung, Misstrauen und Angst. Was gerade noch als opportun galt, konnte im nächsten Moment schon ein Grund für eine Hinrichtung sein. Die Hundertjährige erzählt von ihrer Kindheit, aber auch von dem, was sie später als Erwachsene in Erfahrung bringen konnte. Sie war 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern auf eines der Philosophenschiffe verbracht wurde. Auf ein Schiff, das für viele hundert Passagiere konzipiert wurde, nun aber nur wenige Ausgewiesene an Bord hatte. Eine beängstigende Situation, vor allem als sie für mehrere Tage mitten auf dem Meer halt machten.


„Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, dass Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr. Jeder wisse das, hat man mir gesagt, aber immer wieder gelinge es Ihnen, Ihre Leser und Zuhörer hinters Licht zu führen. Deshalb glaube man ihnen oft nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaube Ihnen, wenn Sie schummeln. Das habe ich mir sagen lassen. Stimmt das?“ (S.11)


Se non è vero, è molto ben trovato. - Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Das finde ich hier unbedingt. Das Spiel mit Wahrheit und Fiktion betreibt Köhlmeier auf verschiedenen Ebenen: Anouk legt die Wahrheit ganz individuell aus und ändert sie auch schon mal während des Erzählens, und Köhlmeier selbst ist ein Meister des Verwebens von realen Fakten und Erdachtem. Dabei gelingt es ihm jedoch trotz (oder gerade wegen?) der distanzierten Erzählweise Anouks gerade die negativen Gefühle wie Entsetzen, Todesangst, grundlegendes Misstrauen gegenüber allen und jedem in kurzen bedrohlichen und entsetzlichen Szenen glaubhaft spürbar zu machen, was mich beeindruckt hat.  

Lose Enden, grob skizzierte Charaktere, ständige Zeitsprüngen, das verwirrende Spiel mit der Wahrheit - das fordert. Aber passt dieses Erzählknäuel denn nicht gerade zu den undurchsichtigen politischen Verhältnissen seinerzeit? Hier gibt es zahllose Möglichkeiten der Interpretation, der Gegenwartsbezüge, des Übertrags auf Diktaturen und totalitäre Grundhaltungen allgemein. Deshalb womöglich auch Köhlmeiers Anspielungen auf Gruppierungen wie die RAF oder den Weather Report. Allerdings sehe ich hier einen kleinen Kritikpunkt, da der Autor hier nur linksgerichtete Gruppierungen ins Spiel bringt. Dabei ließe sich das m.E. mindestens ebenso gut auf rechtsgerichtete Elemente ausweiten. Terror ist Terror, Diktatur ist Diktatur - und egal, wer im Namen des "Guten" den Tod von Menschen auf dem Gewissen hat (und sei es nur einer), der missbraucht das vermeintlich gute Ziel. Die Wahl der Mittel von totalitären Staaten oder politisch extrem ausgerichteten Gruppierungen ähnelt sich frappierend, egal für was sie stehen. Dies aber nur mal als kleiner Exkurs meinerseits.

Alles in allem jedoch ein kunstvoll arrangierter Roman, der verwoben mit einem individuellen Schicksal und der Erzählung einer vermeintlichen Zeitzeugin in aller Kürze eine wichtige Epoche Russlands beleuchtet ("Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder"), der zum eigenen Nachforschen und Nachdenken anregt, und der aus verschiedenen Gründen ein eher unbequemer Roman ist. Je länger ich die Erzählung sacken lasse, desto beeindruckter bin ich.


© Parden

 

 

 

 

 

 

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane "Abendland" (2007), "Madalyn" (2010), "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (2013), "Spielplatz der Helden" (2014, Erstausgabe 1988), "Zwei Herren am Strand" (2014), "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (2016), "Bruder und Schwester Lenobel" (2018), "Matou" (2021), "Frankie" (2023) und zuletzt "Das Philosophenschiff" (2024), außerdem die Gedichtbände "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück" (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und "Ein Vorbild für die Tiere" (Gedichte, 2017) sowie die Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" (2017), "Die Märchen" (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019) und "Das Schöne" (59 Begeisterungen, 2023). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. (Quelle: Hanser)

 

1 Kommentar:

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