Montag, 25. Mai 2020

Gerlach, Heinrich: Durchbruch bei Stalingrad


DURCHBRUCH BEI STALINGRAD nannte Heinrich Gerlach seinen Roman, geschrieben von 1943 bis Mai 1945 in sowjetischer Gefangenschaft. Als DIE VERRATENE ARMEE wurde der Roman später in der BRD sehr erfolgreich verlegt. Der DURCHBRUCH aber ist nun fast eine Erstauflage...

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Oberleutnant Breuer, Lehrer, dient als Chef der Abteilung Ic im Stab einer Division der Deutschen Wehrmacht. Als solcher ist er u.a. auch für die Befragung von Kriegsgefangenen zuständig, er hat also einen gewissen Einblick, eine etwas bessere Sicht als die Mannschaften auf den Gegner, die Rote Armee. Diese bereitet sich gerade auf die Einschließung der 6. Armee vor Stalingrad, der Stadt an der Wolga[1], vor. Zu seiner Abteilung gehört auch der Gefreite Lakosch, sein Fahrer. Noch sind die meisten Angehörigen des Stabes stramme Nationalsozialisten, wie sie sich gegenseitig beteuern. Auch Lakosch, dessen Eltern doch ganz anders dachten. 



Geführt wird der Stab von Oberleutnant (?)[2] Unold, dem Ersten Generalstabsoffizier (Ia), einem wohl talentierten Militär, einem Durchbeißer, einem Durchhalter, bis auch diesen das Unheil einholen wird. Der Divisionskommandeur, ein General, wird fortschreitend seiner Aufgabe nicht gerecht. Später wird er von Oberst v. Herrmann abgelöst, einem ganz anderen Typus militärischer Truppenführer. Zum Divisionsstab gehört auch der Feldwebel Harras, immer noch scharf darauf, Offizier zu werden. Unbedingt zu nennen wäre noch Pfarrer Peters, ein evangelischer Feldgeistlicher, der sich gelegentlich über den Befehl als Pfarrer keine Briefe an Hinterbliebene zu schreiben hinwegsetzt.




Ein Roman aus dem Blickwinkel eines Divisionsstabes also? Arbeitend hinter der HKL, der Hauptkampflinie, in geheizten Bunkern, Feldbetten, Ordonnanzen und Offiziersburschen, versorgt mit bester Verpflegung, Cognac und aus den Frankreichfeldzug herüber geretteten Rotweinresten? Nur gelegentlich von Granaten bestrichen und wenn gut getarnt selten von Bomben betroffen? (Soweit die Klischees)

Nein. Auch wenn der Leser genau dies lesen wird. Geheizte Bunker, fette Verpflegung und Versorgung – paradiesische Zustände gegenüber den Landsern, die in notdürftigen Unterständen, in Schützenlöchern, im blanken Schnee, ohne ausreichende Winterbekleidung, hungernd ausharren müssen – der Winter ist im Anmarsch und er kommt mit aller Gewalt.

Irgendwann ist der Divisionsstab ziemlich nutzlos geworden. Die Armee eingeschlossen. Die Regimenter aufgerieben, die Lazarette überfüllt, die Munition knapp, der Oberst zum General befördert und versetzt und Unold meint, so ein eingespielter, vollständiger Divisionsstab müsste doch aufgespart werden für zukünftige Aufgaben.


Manstein - Verlorene Siege
Breuer und andere Offiziere bilden auf Befehl kleine Kampfgruppen und plötzlich sind sie überhaupt nicht mehr so weit weg von den Landsern in den Gräben. Ihre persönlichen Sachen gehen genauso verlustig, so viel rumschleppen kann man ja gar nicht bei zunehmender Erschöpfung. Sie freuen sich über jedes verreckte Pferd, klauen Verpflegung, erfrieren sich Hände, Füße, Ohren und bekommen kaum ärztliche Hilfe. Sie schleppen sich durch den Kessel nach allen Himmelsrichtungen, immer noch hoffend: „Der Manstein kommt!“„Der Führer wird uns nicht sitzen lassen“.  

 Ausfliegen? Nur mit Genehmigung des Armeearztes. 300000 Mann! – Und dann sind irgendwann die Russen da.

Generalstäbler im Schützengrabenelend. Das ist neu in so einem Roman. Zumindest in dieser Dichte. Und Gerlach weiß dieses wirklich zu beschreiben, denn der Oberleutnant Breuer ist sein ALTER EGO. Der schleppt sich zuletzt, stark am Auge verletzt durch den Kessel, erhält sogar eine Transportgenehmigung und rutscht, literarischer Kunstgriff, auf der vereisten Leiter des letzten Fliegers, der von Gumrak startet aus und bleibt zurück. Er beschreibt, wie das letzte Fleisch von den Pferdegerippen geschabt wird, Brot ohne Rücksicht auf den Nebenmann gestohlen wird, die Rationen immer dünner werden.

Er erzählt von der Figur des Harras, der sich den Wunsch erfüllt, Leutnant (durch Betrug) zu werden, sich schlussendlich durch die Hand schießt und im letzten Chaos von schwerem Gerät überfahren wird. Von Lakosch, der am Ende begreift, warum ihn der verstorbene Vater warnte und die Mutter in ihren Briefen und dann, strammer Nationalsozialist bisher, überläuft.

Eine der aus meiner Sicht wichtigsten Personen ist der Feldgeistliche Peters. Anfangs spendet er voller Überzeugung Verwundeten und Sterbenden Trost und verfällt selbst immer mehr in diesem Elend, er schleppt sich durch von Verbandsplatz zu Verbandsplatz und fällt irgendwann dem Gegner in die Hände, er trifft auf russische Gläubige, die ihn (vermutlich) retten. Eine der menschlichsten und kraftvollsten Gestalten des Buches, im Gegensatz zu Unold, der am Ende wegen Absetzens von der Truppe erschossen wird.

Gerlach hat dies erlebt, er gehört zu den 91000, die da übrigblieben und von denen letztlich nur ca. 6500 die Heimat wiedersahen. Die meisten waren so erschöpft, dass sie die ersten Wochen der Gefangenschaft nicht überlebten.


Quelle

Breuer überlebt diese. Und Gerlach schreibt den Roman. Er beginnt schnell damit und bringt das Manuskript durch viele Gefangenenlager, allerdings letztlich nicht nach Deutschland. Die eigenen Anschauungen überwiegen im Roman, einige Dinge erfährt er von mitgefangenen Offizieren und Generälen. Da er die Stabsarbeit aus mehreren Kriegsjahren kennt, ist auch die Darstellung der Stäbe genauso authentisch wie die des unbeschreiblichen Elends im Kessel. Wobei er deren Inhalte nur manchmal erwähnt, den Menschen in den Stäben widmet er seine Aufmerksamkeit. Den Soldaten, Feldwebeln und den älteren, erneut rekrutierten Weltkriegsoffizieren wie auch den ganz jungen, kriegsbegeisterten Leutnanten.  Gelegentlich schiebt er erläuternd historisch bekannte Fakten ein. So die Besprechung zum Entsatz der Armee beim Heeresgruppenführer Generalfeldmarschall v. Mannstein oder die letzten Stunden der Armeeführung, die Kapitulation des am selben Morgen noch zum Generalfeldmarschall beförderten Oberbefehlshabers Paulus.[3]


Durchbruch bei Stalingrad. Dies ist auch eine Metapher. Einerseits geht es um den vom OKW verbotenen Durchbruch in rückwertige Stellungen. Und es bezeichnet auch den Durchbruch im Denken der Soldaten und Offizieren. Das Begreifen, dass dieses im Stich lassen von 300000 deutschen Wehrmachtsangehörigen eine verbrecherische Handlung ist, die in der Kriegsgeschichte ihres gleichen sucht und symptomatisch für das Regime, welches sie in den Krieg sendete, der in eben dieser Kriegsgeschichte der größte, der opferreichste und zerstörerischste  war.


Es ist eines der eindringlichsten Bücher über den Krieg. Mit intensiven Beschreibungen von Erfrierungen, Verletzungen, Chaos, Erschöpfung, Tod, Führungslosigkeit, Verzweiflung und vergeblicher Hoffnung.

* * *


Während Durchbruch bei Stalingrad auf der Grundlage des Originalmanuskripts gedruckt wurde, "schrieb" Heinrich Gerlach den oben bereits erwähnten Roman Die verratene Armee förmlich aus dem Gedächtnis. Die beiden Originalmanuskripte beschlagnahmte der sowjetische Geheimdienst. 

Die Erinnerungen Heinrich Gerlachs wurden sogar unter Anwendung von Hypnose rekonstruiert, der behandelnde Arzt erhielt dafür Teile der Tantiemen und führte dazu auch einen Rechtsstreit.




Wie kam der Roman nun in den Druck? Professor Carsten Gansel von der Universität Gießen recherchierte in Archiven der Sowjetunion, auch in denen des staatlichen Militärarchivs und fand die Manuskripte. Es ist ein besonderer Fund, denn so dicht und unmittelbar erlebt gibt es nur wenige Bücher und vor allem keine, die während der Kriegsgefangenschaft geschrieben wurden. Die Geschichte der Bücher ist in umfangreichen Anhängen dargelegt, ebenso wurden die Darstellungen von Heinrich Gerlach. Man spürt förmlich die Anspannung der Rechercheure, die tatsächlich das Manuskript finden.

Sowohl die Geschichte der Romane, wie auch den Verlauf der Gefangenschaft Gerlachs erzählt Gansel überaus spannend. Als Gerlach, inzwischen wieder in Deutschland, viel später als andere Mitglieder des Nationalkomitees Freies Deutschland und des Bundes der Offiziere, die Herausgabe des beschlagnahmten Manuskripts durch sowjetische Stellen fordert, beschäftigen sich plötzlich sogar Berija und Malenkow mit dem Text. Sie stufen ihn als "geschichtsrevisionistisch" und "verleumderisch" ein. Natürlich bekommt Heinrich Gerlach sein Manuskript nicht zurück.


Unzählige Streichungen, Überschreibungen,  überklebte Stellen waren zu sichten um einerseits das Original herzustellen und andererseits dem Willen des inzwischen verstorbenen Autors zu entsprechen, herauszufinden, welche Aussage die eigentlich gewollte ist.

Auf den ersten Blick, erzählt Gansel am Schluss, stimmten beide Romane überein. Doch während in Die verratene Armee mehr auf den Verrat abgestellt wurde, geht die Urfassung mehr auf die militärische Lage ein. Auch sei die Urfassung mit "Blick auf die militärischen Gegebenheiten zwischen Oktober 1942 und dem Ende der Kampfhandlungen in Stalingrad Anfang Februar 1943 durchweg präziser." (Seite 676 ff)*

* * *

Mit den Romanen von Heinrich Gerlach erhält die Literatur über die Schlacht in Stalingrad, dem Wendepunkt des Krieges im Osten, im Herzen der Sowjetunion an der Wolga, etwas Neues. Die Unmittelbarkeit des Schreibens in relativer Zeitnähe begegnete mir bisher nicht. Der grundsätzliche Ablauf der Schlacht ist mir bekannt, auch aus verschiedenen Blickwinkeln. Oberst Wilhelm Adam beschreibt ihn als Adjutant des Armeeeoberbefehlshabers, Generaloberst / Generalfeldmarschall Paulus´.  Tschuikow war Armeeführer der gegenüberliegenden 64. Gardearmee. Über Shukow, den Marschall des Vereinigten Oberkommandos, muss man nicht viel schreiben, Welz hat Verratene Grenadiere aus eigenem Erleben geschrieben und in In letzter Stunde den Kommandeur der 24. PzDiv, Generalmajor Arno von Lenski, vorgestellt. Nicht vergessen werden soll der Roman von Theodor Plievier, lange Zeit galt der als wichtigster Roman zum Thema - Professor Gansel streicht die Bedeutung Gerlachs Romans gegenüber diesem deutlich heraus.



In Büchern wie Der schwere Entschluss und In letzter Stunde, wird auch von der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und des Bundes der Offiziere (BDO) berichtet. Es wird interessant, in Odyssee in Rot Gerlachs romanhaften Aussagen dazu zu folgen. Carsten Gansel geht bereits in den Anhängen zu Durchbruch bei Stalingrad darauf ein. Für mich, der ich die Geschichte zu DDR - Zeiten kennen lernte, ist dieses durchaus erhellend, denn so Einiges wurde nicht erwähnt oder bewusst verschwiegen.

In diesem autobiografischen Bericht schreibt Gerlach, wieder als "Oltn. Breuer" von der Kriegsgefangenschaft, der Odyssee durch die verschiedenen Lager, das NKFD und den BDO.

Im Jahr 1966 wurde das Buch erstmals verlegt. Folgerichtig können wir nun eine Neuauflage als Fortsetzung des wiedergefundenen Romans Durchbruch bei Stalingrad lesen.**





Ich hätte nicht erwartet, so noch einmal in die Literatur zum Thema Stalingrad einzusteigen.

Spannender kann Literatur allerdings kaum sein. 

Inzwischen hat Gansel ein weiteres verschollenes Buch heraus gebracht: Die Rezension zu Gerard Sawatzkys Roman Wir selbst, ein "großer Gesellschaftsroman" über das Leben in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen findet sich hier.


* * *

  • * Die verratene Armee dürfte bald in meinem Fundus sein. Dann vergleiche ich stellenweise einfach mit.
  • ** Dazu später mehr in einem weiteren Post.

© Bücherjunge



[1] Stalin soll sich in Zaryzin, so hieß das heutige Wolgograd früher, während des Bürgerkrieges als Kriegskommissar    
     ausgezeichnet haben. Daher der Name.

[2] Hier liegt vermutlich ein Lektoratsfehler vor, denn der Ia, der die für diese Tätigkeit notwendige Kriegsakademie 
     besuchen musste, war sicherlich kaum ein Oberleutnant, der den Kommandeuren der Bataillone und Regimenter    
     operative Befehle erteilen konnte und musste. Später im Roman wird Unold dann zum Oberst befördert, was vermuten    
     lässt, dass er Oberstleutnant gewesen ist.


[3] Ebenso nachzulesen in den Memoiren Wilhelm Adams machlesen. Vgl. Adam, W.: Der Schwere Entschluss, Verlag der 
     Nation , Berlin 1965 (22.Auflage) Seite 306.

6 Kommentare:

  1. Und wieder eine Deiner besonderen Lesenischen. Mainstream kann man Dir ganz bestimmt nicht vorwerfen!

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    1. Lesenische hin, Lesenische her: Ich werde es auch lesen!

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  2. Wie gewohnt gute Rezension Uwe. Das Buch interessiert mich auch!

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    1. Danke. Da folgt demnächst noch was zum Thema "Stalingrad - Rezeption"

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  3. Die Charakterisierung des Oberstleutnants Unold, dessen Dienstgrad in der dtv-Ausgabe fehlerhaft erscheint, ist nicht nur an seinem Absetzen von der Truppe zu messen. Sein Charakter wird vor allem dadurch klar, daß er militärisch logisch denkt und sich frühzeitig sinnlosen Haltebefehlen entgegen stellt. Er steht fortlaufend in der direkten Verantwortung für Leben und und Auftrag.

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    1. Direkte Verantwortung für Leben und Auftrag? Wessen Leben? Wessen Auftrag? Die Disqualifikation ergibt sich aus der Auffassung, der Divisionsstab müsse extra geschützt werden, da kommt es auf die vereckenden Landser nicht an.
      Für mich ist der Führer ein wirklicher, der, wenn im Kessel verblieben, mit seinen Sodaten das Los der Gefangenschaft teilt.

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