Detektivarbeit ist kein Kinderspiel. Der neunjährige Jai schaut zu viele
Polizei-Dokus, denkt, er sei klüger als seine Freundin Pari (obwohl sie
immer die besten Noten bekommt) und hält sich für einen besseren
Anführer als Faiz (obwohl Faiz derjenige mit zwei älteren Brüdern und
einem echten Job ist). Als ein Junge aus ihrer Klasse verschwindet,
beschließt Jai, sein Fernsehwissen zu nutzen, um ihn zu finden. Mit Pari
und Faiz an seiner Seite wagt er sich in den verwinkelten Bhoot-Basar
und dann weiter hinaus in die verbotenen Viertel der Stadt. Doch mehr
und mehr Kinder verschwinden, und die Dinge in der Nachbarschaft werden
kompliziert …
- Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
- Verlag: Rowohlt Buchverlag; Auflage: 1. (10. März 2020)
- Sprache: Deutsch
- Übersetzung:
- ISBN-10: 3498001183
- ISBN-13: 978-3498001186
- Originaltitel: DJINN PATROL ON THE PURPLE LINE
Dieser Roman ist keine leichte Kost. Haltlose Zustände erzählt aus der noch hoffnungsvollen Sicht von Kindern - eindrucksvoll, bildgewaltig, nachhallend... Schön war es, diesen Roman im Rahmen einer Leserunde bei Lovelybooks zu lesen und die Eindrücke der anderen Leser*innen mit den eigenen zu vergleichen. Dem Rowohlt Verlag danke ich an dieser Stelle für die Bereitstellung eines Leseexemplars!
DAS GEGENTEIL VON BOLLYWOOD...
Der neunjährige Jai lebt mit seiner Familie in einer Einraumhütte in
einem Elendsviertel einer nicht näher bezeichneten indischen Stadt. Er
hat Träume wie andere Kinder auch, und derzeit hat er dank TV-Vorbildern
den Wunsch, der weltbeste Detektiv zu werden und Kriminalfälle
aufzuklären. Als im Bhoot-Basar ein Kind verschwindet, sieht Jai seine
Chance gekommen. Obwohl seine Freundin Pari in der Schule deutlich
besser ist als er, glaubt der Neunjährige, dass sie sowie sein Freund
Faiz ihn höchstens als Assistenten bei seinen Ermittlungen unterstützen
können. Jais Rolle als Anführer wird nicht wirklich akzeptiert, aber die
drei Freunde machen sich alsbald auf die Suche nach dem verschwundenen
Kind.
Was wie ein Kinderspiel beginnt, erhält zunächst schleichend und dann
immer rasanter eine ernstere Note. Immer mehr Kinder verschwinden in
dem Elendsviertel, die Familien verzweifelt, die Polizei untätig,
korrupt und desinteressiert, ganz im Stile eine Schutzgeld-Mafia. Die
Lage in der Nachbarschaft spitzt sich zu, neben Angst hält Misstrauen
Einzug, und schnell ist eine schuldige Partei gefunden: die im Viertel
lebenden Muslime. Jai und seine Freunde sind entsetzt, um so mehr, da
Faiz und seine Familie ebenfalls muslimischen Glaubens sind. Aber wer
oder was steckt denn nun hinter dem Verschwinden der Kinder? Sklaven-
oder Organhändler? Oder doch Geister und Dämonen?
Deepa Anappara lebt heute in England, wuchs aber in Indien auf, wo
sie jahrelang als Journalistin arbeitete. Im Rahmen ihrer zahlreichen
Recherchen in den Elendsvierteln indischer Großstädte sammelte sie
Begegnungen und Erzählungen, gerade auch die Schicksale vieler Kinder.
In diesem Roman wollte Deepa Anappara nicht nur den widrigen
Lebensumständen dieser ärmsten aller armen Kinder Rechnung tragen,
sondern vor allem auch demonstrieren, dass es diesen Kindern trotz allem
nicht an Hoffnung fehlt, dass sie sich oftmals nicht als Opfer sehen,
nicht resignieren, sondern im Gegenteil mit einer gehörigen Portion
Frechheit, Humor, Sarkasmus und Energie durchs Leben gehen. Dies verrät
sie im Nachwort zu diesem Roman, und tatsächlich ist dieses Vorhaben in
meinen Augen gelungen.
Für mich war es überhaupt ein gelungener Schachzug, die Geschehnisse
aus der Sicht eines Kindes zu schildern. Das Basti (das Armenviertel),
in dem Jai und seine Freunde leben, wird bildgewaltig als genau das
dargestellt, was es ist: eine kaputte Welt. Armut, Ungleichheit,
erschreckende hygienische Zustände, Chancenlosigkeit, Gewalt gegenüber
Kindern und Frauen, Korruption und Ungerechtigkeit, religiöse Spannungen
und Kämpfe - und über allem der immerwährende Smog, der, neben all den
anderen genannten Faktoren, ernsthaft gesundheitsgefährdend ist.
Durch die kindliche Perspektive wird alles ungefiltert gezeigt,
jedoch ohne anzuklagen oder zu moralisieren. Das Erkennen der
Unfassbarkeit und die Wertung eines Lebens unter solchen Umständen
findet dann allein im Kopf des Lesers statt, der zusehen muss, wie er
mit der Wucht der auf ihn einprasselnden Bilder klarkommt. Bei der
kindlichen Perspektive fehlt zudem die Resignation und
Hoffnungslosigkeit vieler Erwachsener - ganz im Gegenteil sprühen die
Kinder oftmals vor Viatalität, Einfällen, Witz und Wagemut. Dies bietet
einen wohltuenden Kontrast, ohne den das Gelesene sicherlich nur schwer
zu ertragen gewesen wäre.
Trotz des kindlich-naiven Erzählstils und einigen humorvollen
Einschüben hat es Deepa Anappara vermieden, hier eine Feel-Good-Story zu
erzählen. Die Detektivspiele der Kinder bieten den Rahmen für die
Darstellung realer Lebensumstände vieler Slumbewohner Indiens - auch die
zahlreichen verschwundenen Kinder zählen dazu. Vor diesem Hintergrund
erscheint es nachvollziehbar, dass das Schicksal dieser Kinder im Roman
nicht wirklich aufgeklärt wird. Es gibt Anhaltspunkte, schreckliche
Umstände zu vermuten, aber Deepa Anappara lässt Jai und den Leser
zumindest mit einem winzigen Funken Hoffnung zurück.
Ein literarisches Debüt, das mich wider Erwarten mit einer
emotionalen Tiefe überrollt hat, die auch Tage nach der Lektüre noch
nachwirkt. Vordergründig ein Krimi, untergründig eine Milieuschilderung,
die betroffen macht, die durch die Einblicke, die Deepa Anappara
jahrelang in die Armenviertel indischer Großstädte erhielt, aber
unzweifelbar authentisch ist. Um so erschreckender...
Lesenswert, empfehlenswert, beeindruckend.
© Parden
Deepa Anappara wuchs im südindischen Kerala auf und
arbeitete in Delhi und Mumbai als Journalistin, bevor sie an der
University of East Anglia im englischen Norwich Creative Writing
studierte. Für ihre Arbeiten zu den Auswirkungen von Armut und
religiöser Gewalt auf die kindliche Entwicklung erhielt sie mehrere
Preise und Auszeichnungen. "Die Detektive vom Bhoot-Basar", ihr erster
Roman, wurde bislang in 16 Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem
Bridport/Peggy Chapman-Andrews Award, dem Lucy Cavendish Fiction Prize
und dem Deborah Rogers Foundation Writers Award ausgezeichnet. Deepa Anappara lebt in der englischen Grafschaft Essex. (Quelle: rowohlt)
Jeder von uns findet immer wieder eindringliche Bücher.
AntwortenLöschenJa, das ist wohl wahr - die Perlen eben...
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