Samstag, 13. Juli 2024

Primor, Avi: Bedrohtes Israel... (Palästina und Israel 2023/24 - Part 4)

Einmal oder mehrfach in jedem Jahrzehnt sticht der seit 80 Jahren oder mehr schwelende Palästinakonflikt in den Nachrichten hervor. Wird auch das Jahr 2023/2024 im Bewusstsein der Welt so verankert werden wie andere? - Bedrohtes Israel - Ein Land im Ausnahmezustand.

Die Welt nahm am 07. Oktober 2023 den aus dem Gazastreifen heraus verübten terroristischen Überfall der HAMAS auf Israel zur Kenntnis, der mit über tausend getöteten Menschen und rund dreihundert entführten Geiseln einherging und der einen andauernden Krieg verursachte. Doch nicht nur das, weltweit sehen wir Proteste, die sich vordergründig gegen die militärischen Handlungen Israels wenden, sich für die Palästinenser einsetzen und antizionistisch, antijudaistisch sowie oft antisemitisch gekennzeichnet sind. Irgendwie scheint man dabei das Elend der betroffenen Gaza-Bevölkerung zur Begründung heranzuziehen und gleichzeitig wieder zu negieren, denn die Rolle der HAMAS diesbezüglich ist mehr als nur nebensächlich.

„From the river to the sea“ soll Palästina befreit werden und zwar von den Juden. „Free, Free Palätine!“-Rufe richten sich in der Regel gegen den Staat Israel und nicht gegen die terroristische HAMAS oder deren militärischen Arm, den Islamischen Dschihad. 

Es ist schon eine Weile her, denn bereits im November 2023 aktualisierte ich meinen Blick auf  DIE ERSTEN ISRAELIS mit Tom Segev, folgte Saul Friedländers BLICK IN DEN ABGRUND und las im Januar 24 bei Abdel-Hakim Ourghi über DIE JUDEN IM KORAN: Nun ist es Zeit, dass ich meine Palästina-Betrachtungen erweitere, dies beginnt mit Avi Primors Buch BEDROHTES ISRAEL – ein Land im Ausnahmezustand.

Inhalt:     Fangen wir bei diesem Autor an. Avi Primor, geboren 1935, war israelischer Botschafter in Deutschland. (1993-99). Der mittlerweile 89jährige Israeli leitet laut Verlag einen „trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien am Interdisciplinary Center Herzliya in Israel.“ Nach seiner Pensionierung stellte sich öfter in Opposition zu israelischen Regierungsentscheidungen. So vertritt er die Auffassung, dass die Siedlungspolitik im Westjordanland geändert werden, aufhören muss, die jüdischen Siedlungen geräumt werden müssen, damit ein palästinensischer Staat überhaupt entstehen kann. - Erwähnte ich oben bereits Friedländer und Segev, finden wir hier wiederum einen israelischen Autor, der bisherige und aktuelle Politik eher kritisch betrachtet und dabei trotzdem Patriot bleibt.

Vermutlich geht es nicht anders: Schreibt man über Israel, egal ob man über „das“ Land oder wie Ari Primor über „sein Land“ schreibt. Dann muss man weit zurück gehen in die Geschichte, auch vor die Staatsgründung. So schreibt Primor gleich im 3. Kapitel über den „Kampf um die Unabhängigkeitserklärung“, um im Anschluss gleich auf den zu kommen, der inzwischen zum sechsten Mal Ministerpräsident des Landes ist.


Aus BPB: Friedenschancen im Nahen Osten, 2007

Über „das jüdisch-arabische Problem“, „vom britischen Mandatsgebiet zur Gründung Israels“, von 1967 (Sechs-Tage-Krieg), dem Jom-Kippur-Krieg (1973) und dem anschließenden Friedensvertrag mit Ägypten wurde schon viel geschrieben. Das gilt ebenso für diesen Benjamin Netanjahu. Warum würde ich nun dieses Buch empfehlen?

Primor erklärt die derzeitige Regierungspolitik, diese Symbiose von Likud und rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien, deren Wirkung und den Grund, warum bis zu 100.000 Menschen gegen die geplante Justizreform demonstrieren. Gleichzeitig erfahren wir, die diese Demokratie gestrickt ist, die richtigerweise die einzige im Nahen Osten ist und sich von den europäischen Demokratien doch maßgeblich unterscheidet. 

Knesset (© 2009)
Diese Justizreform soll bezwecken, die Gewaltenteilung radikal zu verändern. Die uns bekannte Dreiteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, das System von zwei Kammern, ist in Israel insofern schon nicht vergleichbar, weil die Legislative (Knesset) die Exekutive nicht gleichermaßen kontrollieren kann. Da Netanjahus Regierung 64 Sitze von 120 in der Knesset aufweist, hat er die absolute Mehrheit, die eben nicht von einer zweiten Kammer (bei uns der Bundesrat) ggf. in die Schranken verwiesen wird. Zudem, und hierüber lesen wir höchst selten bei uns, befindet Israels Oberster Gerichtshof über die „Verfassungsmäßigkeit“ sogenannter Grundgesetzte, und das, obwohl es gar keine wirkliche Verfassung gibt. Hier liegt das Grundproblem, denn der Premier will nun die Möglichkeiten des Gerichts über Regierungshandeln zu urteilen, einschränken. Kann es das nicht mehr, dann besitzt er sinngemäß fast absolute Macht. Mit der Demokratie wäre es ziemlich vorbei.

In Bezug auf das „Gesetz zur Angemessenheitsbegründung“ (von ministeriellen und Regierungsentscheidungen) bedeutet dies, dass ein justizielles Eingreifen bei Gesetzen gegen Menschenrechte nicht mehr möglich wäre. Und die Regierungen Israels haben oft solche verletzt, denn eine Reihe von „Grundgesetzen“ bevorzugen augenscheinlich den jüdischen Bevölkerungsteil. 

Diese Justizreform soll zusätzlich dazu führen, dass Gesetze, die das oberste Gericht für ungültig erklärt hat, durch die Knesset, also die Abgeordneten der Regierungskoalition,  einfach erneut in Kraft gesetzt werden könnten. Außerdem mussten Minister bzw. Ministerien bisher auf Rechtsberater hören, die in den Ministerien angestellt sind und genau das machen sollen, ihre Behörde im Rechtsrahmen zu beraten. Dafür gibt es ein Grundgesetz. Nun sollen Minister auch Rechtsberater außerhalb der Behörden anhören können, die dann, man schaue sich die Regierung von heute an, vermutlich das schreiben, wofür sie bezahlt werden. Das alles, hier nur verkürzt benannt, beschreibt Avi Primor prägnant und verständlich. 

Es ist ja nicht so, als das man dies bei uns nicht nachlesen könnte, denn in Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung findet sich das noch genauer. Danach umfasst die Justizreform:


  1. Eine „Außerkraftsetzungsklausel“, die es einer einfachen Mehrheit in der Knesset ermöglichen würde, Gesetze zu verabschieden, die vom Gericht für verfassungswidrig erklärt wurden. (hier gegen bestimmte Grundgesetze verstoßen bzw Regeln einer Demokratie nicht entsprechen.)
  2. Der Oberste Gerichtshof soll sich nicht mit Änderungen der Grundgesetze befassen dürfen.
  3. Der oberste Gerichtshof wäre nicht mehr in der Lage, Regierungsentscheidungen auf ihre „Verhältnismäßigkeit“ zu prüfen.
  4. Die Rechtsberater der Ministerien würden von den Ministern ernannt.
  5. Die Zusammensetzung des Richterernennungsausschusses soll verändert werden, künftig sollen die Richter nur noch von Politikern ernannt werden.


So Suzie Navot (Professorin für Verfassungsrecht am Israel democrazy Institute in Jerusalem) in „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Israel – Ein Blick in Israels Verfassungsgeschichte

Wen erinnert das nicht an Polens oder Ungarns Versuche hinsichtlich Justiz und Medien? Oder an die Art und Weise, wie US-Präsidenten die Zusammensetzung des Supreme Courts zu beeinflussen suchen? (Und niemand da, keine „EU“, die den Geldhahn zudreht oder nur kaltes Wasser zulässt.)

Anschließend geht es um den 7. Oktober 2023. Avi Primor zeigt auf, warum die HAMAS im Prinzip erfolgreich war in ihrem Bestreben und warum der Staat Israel hier völlig versagt hat. Dabei erwähnt der Autor im 16. Kapitel den Umstand, dass Ministerpräsident Ariel Sharon im Jahre 2005 den Gaza-Streifen einfach verließ, seine Streit- und Sicherheitskräfte zurückzog, die Macht aber nicht an die palästinensische Autonomiebehörde gab, nicht einmal mit dieser über seine Absicht sprach. Das Versagen wiederholt sich demnach insofern, dass Israel die Tür weit auf für islamischen Dschihad und HAMAS weit aufmachte, nachdem es 2005 die Machtübernahme zuließ.

Primor behandelt am Ende seines aufschlussreichen Buches die Rolle Israels im Westjordanland.

 * * *

Fazit:   Deutschland hat sich auf die Fahnen geschrieben, dass Israels Sicherheit in seinem staatlichen Interesse liegt. Sie sei nicht verhandelbar. Sie sei Staatsräson. Und das sollte sie auch sein, wenn es um den Bestand des Staates geht, der sich, und in diesem Licht sollte man die „Demokratiemängel“, welche Primor und andere aufzeigen, sehen, ständig militärisch verteidigen musste. Seine Gründung fußt auf einer UN-Resolution, und das sollte auch achtzig Jahre später bedeutsam genug sein.


Foto: picture-alliance / dpa / Jüdische Allgemeine 2021

Jedoch unterstützen wir politisch und militärisch-materiell einen Staat, oder besser eine Regierung, deren innenpolitische Bestrebungen nicht gut geheißen werden können. Meine Gedanken sind dabei bei den Demonstranten mit den blau-weißen Fahnen, die um ihre Demokratie ringen. 

Das zu verstehen, dafür ist Avi Primors Buch sehr hilfreich, finde ich.

Wieder einmal zu kurz kommen dabei die, welche von der Art und Weise, Demokratie abzubauen besonders betroffen sein werden, nämlich die arabischen Israelis, Staatsbürger und jetzt schon nicht ganz gleich wie die jüdischen. Und die Palästinenser, die in der Zone C des palästinensischen Autonomiegebietes Angriffen rassistischer jüdischer Siedler ausgesetzt sind. Es ist nicht so, dass Avi Primor diesen Aspekt nicht erwähnt hätte, aber 221 Seiten können nicht alles umfassend darstellen. Umso ernster ist der Hinweis in Bezug auf David Grossman, dass Netanjahu und seine Verbündeten das Land „ohne Wenn und Aber in eine Diktatur verwandeln können.“

Primor erinnert an David Ben Gurion, der über den Staat Israel mal aussprach: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ – Da ist wohl was dran.

Für so manchen unter uns hier, der behauptet, dieses Deutschland wäre auf dem Weg in eine Diktatur, könnte ein solches Buch zeigen, was unsere Demokratie ausmacht. Vorausgesetzt, er liest vorher noch einmal nach, was wir in unserer Verfassung, unserem  GRUNDGESETZ,  zum Thema Gewaltenteilung stehen haben.

Ich konnte Avi Primors Erfahrung von 89 Jahren sehr viel entnehmen...


  • DNB / Bastei-Lübbe / Köln 2024 / ISBN: 978-3-86995-143-0 / 221 S.
  • Bilder sind zu den Quellen verlinkt
  • Bild Avi Primor © Olivier Favre / Verlag 

© Bücherjunge





1 Kommentar:

  1. Ein aufschlussreicher Text zu einem sehr komplexen Thema jenseits von Schwarz und Weiß...

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