Sonntag, 19. November 2023

Friedländer, Saul: Blick in den Abgrund... (Palästina und Israel 2023 - Part 2)



18.11.2023
Sämtliche Nachrichten aus Palästina, sämtliche Nachrichten aus Israel sind, durchaus verständlich, überschattet von den militärischen Auseinandersetzungen zwischen den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) und der HAMAS bzw. dem islamischen Dschihad, von dem aber weniger die Rede ist. Ausgangspunkt hierfür ist der Terroranschlag der HAMAS vom 07. Oktober 2023. Mehrere hundert Geiseln, über 1000 Tote, auch israelisch-arabische Staatsangehörige sind darunter. Gefilmt und verbreitet von den Terroristen selbst, die dafür nicht nur aus Staaten, die sie finanzieren (Iran und andere), Beifall erhalten, sondern auch auf Demonstrationen in den großen Städten der Staaten der Europäischen Union. Feuerpausen werden gefordert, Waffenstillstand. Das erscheint auch verständlich angesichts der sich ausbreitenden Trümmerwüste nicht nur in Gaza-Stadt. Die IDF kündigen regelmäßig und sicher nicht nur durch Druck von außen, namentlich der USA, solche Feuerpausen an und bezeichnen Korridore, auf denen die Bevölkerung in Richtung Süden flüchten kann oder soll. Zahal, Mossad und Shin Beth (IDF, Auslands- und Inlandsgeheimdienst) vermuten die Kommandozentralen der HAMAS und die Geiseln im Verzweigen Tunnelsystem unter der Stadt.

Dazu wäre viel zu schreiben, hier möchte ich einen Blick zurückwerfen auf das Jahr 2023, wobei mir das „israelische Tagebuch“ von Saul Friedländer helfen soll.


Saul Friedländer. Den Namen „nannte“ ich bereits in der Einleitung zum ersten Teil dieses Projektes, aber Saul Friedländer ist mit Margot Friedländer wohl nicht verwandt. Allerdings ist er auch nur 11 Jahre jünger als die über hundert Jahre alte Dame aus Berlin und es gibt in beider Leben Parallelen. Margot Friedländer wurde von Deutschen versteckt und versorgt, später von jüdischen Kollaboratoren (Greifern) verraten und überlebte den Holocaust im KZ Theresienstadt. Saul Friedländer versteckten seine Eltern ihn in einem katholischen Internat in Frankreich. Sowohl Margots Eltern als auch die von Saul wurden in Auschwitz ermordet.

Die zionistischen und teilweise kommunistischen Ideen, mit denen er sich als Jugendlicher beschäftigte, ließen ihn nach Palästina auswandern, kurz nach der Staatsgründung Israels kam er dort an, der Zionismus war seine politische Überzeugung. Saul Friedländer leistete seinen Militärdienst und studierte in Paris und Genf, promovierte 1963 in Geschichte und unterrichtete dann an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sein literarisches Hauptwerk beschäftigt sich mit dem Holocaust, das zweibändige Hauptwerk heißt „Das dritte Reich und die Juden“, herausgeben im deutschen Verlag C.H. Beck. Aus diesem Verlag kommt auch dieses hier, welches ich nun vorstellen möchte.

BLICK IN DEN ABGRUND
„Wenn man in Kalifornien lebt, ist es leicht, ‚es reicht‘ zu rufen. Aber es ist für mich, mit über neunzig Jahren, unmöglich geworden, aus meiner Heimat Los Angeles nach Tel Aviv zu fliegen. Und doch können meine Frau Orna und ich an nichts anderes denken.“ So beginnt er dieses Tagebuch a, 17. Januar des Jahres 2023. Woran sie denken, ist die aktuelle Politik des Benjamin „Bibi“ Netanjahu und die Massenproteste der Israelis „gegen eine Minderheit messianischer Fanatiker und politischer Protagonisten eines autokratischen Regimes...“ (Seite 9)

Ein autokratisches Regime? Überall hört und liest man, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten darstellt. Das ist sie auch, jedoch steht der Ministerpräsident in der Kritik und versucht, sich mit vielen Mitteln von diversen Anklagen wegen Betrugs und Bestechung zu befreien. Das hat er mit so manchem anderen westlichen Politiker oder Premierminister gemeinsam. Die Israelis gehen auf die Straße, weil es augenscheinlich das Ziel der Regierungskoalition ist, in die Gewaltenteilung und damit in die demokratische Grundordnung einzugreifen.

Die Möglichkeit, des Obersten Gerichts, Regierungsentscheidungen, die nicht verfassungsgemäß sind zu kassieren, soll (mindestens) beschnitten werden. Von den Kundgebungen ist im Tagebuch, welches bis zum 26. Juli 2023 reicht, regelmäßig die Rede. Bedenkt der Leser, dass Israel aktuell 9.720.000 Einwohner zählt und die Demonstrationen die 100.000er Marke oft überschreiten, dann ist das schon eine Größenordnung. Wobei der Autor auch Kundgebungen für das Vorhaben der Regierung erwähnt. Das völlig Unverständliche ist dabei, dass die Regierung in diesem Zusammenhang anscheinend auch auf Vorschläge der Opposition eingeht.



Friedländer geht mehrmals auf den Umstand ein, dass Gruppen von Offizieren, vor allem der Luftstreitkräfte, erklärt haben, den Reservistendienst bei Einberufung nicht antreten zu wollen, wenn die Justizreform durchgesetzt wird.

Gleichzeitig, und das gerät etwas in den Hintergrund angesichts des 7. Oktobers, der manchmal als der 11. September Israels bezeichnet wird, lesen wir im Tagebuch von Raketen, die auf Israel gefeuert werden, aus dem Gaza-Streifen und aus dem Libanon, von Mordserien in der „arabischen Gemeinschaft“ womit die arabischen Israelis gemeint sind, und immer wieder von Gesetzesvorlagen, die für uns hier in Deutschland absurd, mehr noch erschreckend wirken.

Wer kann sich denn so etwas wie „innerjüdischen Rassismus“ vorstellen? Der Begriff stammt jetzt von mir und bezieht sich auf einen Eintrag vom 24. Januar 2023 wonach die „ultrareligiösen Knessethmitglieder des Vereinigten Tora-Judentums“ es Krankenhäusern verbieten wollen, Chametz, (Lebensmittel aus gesäuertem Getreide), dass während Pessach religiös verboten ist, einzuführen. Damit beschäftigen die sich im Parlament?

Wenn man darüber den Kopf schüttelt, dann kommt es immer noch schlimmer: Die Koalition will die „Rückkehrergesetze“ verändern. Der Staat Israel verspricht ja Juden in aller Welt, dass sie in Israel ein zu Hause finden können, wenn sie wollen, oder es sein muss. Nun gibt im Parlament Stimmen, die dass dahingehend einschränken wollen, Nachkommen aus Mischehen dabei auszunehmen. Also, nur noch „Volljuden“ und keine „Vierteljuden“ zu berücksichtigen. So drückt dies der Autor aus, und nennt es eine natürlich eine Schande; er denkt dabei natürlich an Gesetze aus einer anderen Zeit...

Was ist also los in diesem Land? Hier bekommen wir einen aktuellen Einblick aus berufener Feder.

Mit dem Wahlsieg Menachem Begins rückte das Land, die Regierungspolitik nach rechts. Seit 1973 bildet sich eine „messianische Siedlerbewegung“ unter dem Namen Gusch Emunim (Block der Gläubigen). Dies geschah unmittelbar nach dem Jom-Kippur-Krieg. In dieser Bewegung, erklärt Friedländer, „kamen rechtsextreme und extrem orthodoxe Persönlichkeiten zusammen, die allesamt glaubten, das mit der Eroberung des gesamten Landes Israel im Juni 1967 die messianische Erlösung begonnen hätte.“ (Seite 25)

In diesem Zusammenhang verwendet Friedländer den Begriff „israelische Version des Faschismus“, lehnt aber andere Vergleiche wie den mit der Kolonialisierungspolitik der Nazis im Osten oder der NS-Politik der dreißiger Jahre ab.

Aus dem Buch herausgerissen würde dies bestenfalls als „starker Tobak“ bezeichnet werden, es macht aber hier schon deutlich, welch weites Diskussionsfeld daraus entsteht, nicht, sich daraus ergibt. Hier beginnt der Blick in den Abgrund, denn Regierungsmitglieder heute äußern sich durchaus auf eine unterstreichende Art und Weise:

Bezalel Joel Smotrich ist Finanzminister im Kabinet 4 von Netanjahu und Vorsitzender der rechts-religiösen Partei HaTzionut HaDatit („der Religiöse Zionismus“), bis Januar 2021 bekannt als Tkuma („Wiedergeburt“). Am 18. März 2023 erfuhr man von dessen Plänen für das Westjordanland:

„Unser Minister geht davon aus, dass westlich des Jordans kein palästinischer Staat zugelassen werden sollte. Auf der Basis dieser Maxime bietet er den Palästinensern drei Optionen an: Option eins:



...

Dies reicht hier, die Dimension zu unterstreichen.

Zwischenereignis: Im Jahr 2009 besuchte ich zum ersten Mal im Rahmen einer Gewerkschaftsreise Palästina. In der Akademie der israelischen Polizei besuchten wir deren Polizeimuseum. In diesem waren von der Bekleidung erster jüdischer Milizen, deren Bewaffnung bis hin zur Sprengstoffweste und einem zerstörten Entschärferroboter all das zu sehen, was es in einem Polizeimuseum so gibt. In einer Vitrine fanden sich Bilder folgender Beschreibung: Familie mit zwei Kindern, im Hintergrund halbfertige Häuser, begleitet von einer jungen blonden Frau in einem blauen Overall mit uniformähnlichen Abzeichen. Alle haben tränenüberströmte Geschichte. Die Majorin, die uns führte, erklärte, das seinen Fotos einer Räumung solcher Siedlungen in Folge der Oslo-Abkommen. Junge Leute waren mit Fortbildungsseminaren darauf vorbereitet wurden, die Siedlungen zu räumen und die jüdischen Familien zu ihren neuen Wohnorten zu bringen.
Sie waren auf dem Weg, den ein ehemaliger palästinensischer Terroristenführer und ein ehemaliger israelischer Generalstabschef im Beisein eines US-Präsidenten per Handschlag besiegelten. Wie schwer dieser Weg ist, zeigt die Ermordung Yizak Rabins einige Zeit später.

Zu dieser Zeit zurück scheint der Weg noch weiter zu sein.

* * *

Im diesem Feld bewegt sich ein Tagebuch über ein halbes Jahr: Demonstrationen gegen den Justizumbau, Durchsetzung rechtsnationaler Interessen, offen dargestellt gegen palästinensische und israelische Araber, durch Siedlungsankündigung und gleich wieder Stopps, Ankündigung von Dienstverweigerung israelischer Soldaten und weitergehenden Raketenangriffen aus dem Gaza-Streifen und gelegentlich aus dem Libanon. Einzelne Raketen schaffen es kaum in unsere Nachrichten, auch erschossene Palästinenser (und/oder israelische Soldaten) in bewaffneten Auseinandersetzungen in den durch die IDF kontrollierten Gebieten des Westjordanlandes.

Ein alter Mann, mit Erinnerungen an den Holocaust und an entscheidenden politischen Stellen beteiligt am Aufbau des demokratischen Israels konstatiert am Ende:

„Einer aktiven Minderheit ist es in Israel gelungen, die gefährlichste Realpolitik mit einer messianischen Ideologie aufzuladen. Zusammen mit der harten Rechten und den orthodoxen Parteien kann sie ihren Willen durchsetzen. ... Gegen diesen Drang muss mit allen legalen Mitteln vorgegangen werden. Das wird für lange Zeit das Hauptziel des vernünftigen Teils unserer Gesellschaft bleiben, des liberalen und demokratischen Teils, mag er anfangs noch so klein sein. Aber wird dieser Teil über die nötige Kraft und Standhaftigkeit verfügen, um seine Überzeugungen und Ideale auf Dauer zu verteidigen? Wird er weiter gegen die fortwährenden Versuche dieser oder einer ähnlichen Koalition ankämpfen, die Freiheit unserer Bürger und die Chance auf eine möglichst humane und gerechte Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zu untergraben?“ (Seite 236/237

Mit diesen Zeilen endet das Buch und lässt einen etwas ratlos zurück, wenn man es erst nach dem 7. Oktober 2023 zur Hand nimmt. Persönlich würde ich annehmen, dass die Offiziere der Luftstreitkräfte den Dienst nicht mehr verweigert haben. Und das der Unterschied zwischen aschkenasischen Offizieren und sephardischen Mechanikern und Mannschaften (auch davon schrieb Friedländer) momentan in den Hintergrund getreten ist.

Das ist auch so ein unverständlicher Punkt: Die Diskriminierungen unter den jüdischen Einwanderen. Unterschieden werden die Aschkenasim, hauptsächlich aus Osteuropa, die größte Gruppe, die Sephardim, das sind die vor langer Zeit aus Spanien vertriebenen Juden und die Mizrachim, die Juden aus dem mittleren Osten und Asien, Nordafrika und aus dem Jemen. So manche der Aschkenasim schauen auf die später eingewanderten herab. Ähnlich wie die Iren in den USA dominieren Sephardim in Berufen wieder Polizei und Feuerwehr.

Über die verschiedenen Gruppen in Israel schrieb Donna Rosenthal in DIE ISRAELIS.

* * *

Kommen wir hier zum Schluss. Bestimmte politische Strömungen in Israel stimmen eher besorgniserregend. Sie sind nicht geeignet, den jüdisch-arabischen Konflikt zu beseitigen. Äußerungen ultra-religiöser oder rechtsextremer Politiker geben Gegnern die Argumente förmlich in die Hand oder den Mund; dies äußert sich auch in den Demonstrationszügen in den Städten Europas. Der 7. Oktober führt in seiner Größenordnung den Konflikt fort, vielleicht haben HAMAS und islamischer Dschihad die Schwäche der Netanjahus und die Konzentration der Israelis auf Demokratie und Gewaltenteilung direkt ausgenutzt. 

In den Nachrichten von heute fordern die Angehörigen der Geiseln  Verhandlungen und Feuerpausen. In Tel Aviv demonstrieren Israelis auch gegen diesen Krieg. Für mich ist das ein Zeichen von Demokratie...

Im Jahre 1947 beschloss die Völkergemeinschaft die Zweistaatlichkeit in Palästina, dem etwas zusammengeschrumpften britischen Mandatsgebietes nach Bildung von Transjordanien und Syrien. Rings um das übriggebliebene Mandatsgebiet der britischen Empire rüsteten die arabischen Staaten zum Krieg. Ein anderes Land war den Juden nicht gegeben, es wurde ihnen sogar versprochen. Die arabischen Palästinenser erhielten ähnliche Verprechen, zum Beispiel hinsichtlich der Einwanderungsbegrenzung. Die Interessen der Araber verspielten diese aber auch selbst. Vergebene Möglichkeiten können auch die Israelis selber aufzählen. Die Menge an politischen Fehlschlägen, die Kriege und immer wieder aufflackernden militärischen Auseinandersetzungen ändern aber nichts am Umstand, dass der Terroranschlag vom 7. Oktober Organisationen wie der HAMAS und des islamischen Dschihad jedes Recht auf politisches Entgegenkommen nimmt. Wie schwierig sich der Kampf gegen die HAMAS darstellt, sehen wir täglich in den Nachrichten.

Der nächste Teil dieser Serie beschäftigt sich wieder mit einem Buch von Tom Segev. ES WAR EINMAL EIN PALÄSTINA. Das Buch öffnet ein wenig die Augen für das Leben in Palästina vor und während des Mandats.

Golda Meir verbot Saul Friedländer einst, sich in Chicago streng vertraulich mit palästinensischen Delegierten auf Einladung der amerikanischen Pugwash-Sektion zu treffen, an diesem Treffen sollten auch sowjetische und ägyptische Mitglieder der Gruppe teilnehmen. Sie tat es mit folgenden Worten:
„Saul,... ich verbiete dir, an diesem Treffen in Chicago teilzunehmen, wenn ein Palästinenser anwesend ist. Es gibt kein palästinensisches Volk. Wir waren alle Palästinenser unter dem britischen Mandat.; ich hatte einen palästinensischen Pass. Die sogenannten Palästinenser sind Araber aus Syrien, die während des Mandats hierher gekommen sind.“ (Seite 68/59)
Saul Friedländer erinnert sich daran am 18. Februar 1823.

Erkennen wir heute ein jüdisches Volk, die jüdische Religionsgemeinschaft und den jüdischen Staat an,  und das ist ist unbedingt richtig so,  an dann müssen wir das auch mit einem palästinensischen Volk tun. Beide jedoch müssen dies auch gegenseitig tun. 




© Bücherjunge


3 Kommentare:

  1. Eine sehr eindringliche Beschäftigung mit dem Thema - wieder ein Herzensprojekt?

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  2. Nun ja, Herzensprojekt... Eher ein, vielleicht notwendiger, Beitrag zur Problematik. Da kommen noch ein paar Sachbücher.

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