FAMILIE IST NICHT IMMER LEICHT...
Karl ist mit seinen 12 Jahren ein ganz normaler Junge. Er liebt Fußball, findet Schule doof und mag es, mit seinem Bike durch die Gegend zu kurven. Und doch gibt es um Karl etwas Besonderes: er hat einen Zwillingsbruder, Moritz, genannt Mo. Nun kann man sagen, dass ein Zwillingsbruder an sich nichts Besonderes ist. Doch Mo hat eine geistige Behinderung, verursacht durch einen vorgeburtlichen Sauerstoffmangel.
Und Mo ist anstrengend. Er hat viele Ideen, die ihm durch den Kopf schießen, und die er dann meist auch sofort durchsetzen will. Mo ist stur und hartnäckig, und es ist nicht leicht, ihn an blödsinnigen oder auch gefährlichen Aktionen zu hindern. Oftmals kann Karl auch über den Quatsch lachen, den sein Bruder fabriziert, und die beiden mögen sich wirklich. Aber Karl ist derjenige, der oftmals auf Mo aufpassen muss, denn ihr Vater hält sich beruflich oft wochenlang im Ausland auf, und die Mutter geht ebenfalls arbeiten. Im Dorf, in das sie vor etwa einem Jahr gezogen sind, lässt sich keine geeignete Betreuung für Mo finden, und so bleibt eben häufig alles an Karl hängen.
"Die Sonne schien orange und warm durch meine Lider. Ich stellte mir vor, was ich alles machen würde, wenn Mo nicht bei mir wäre. (...) In mir gab es einen Wunsch-Stau, der mindestens so lang war wie die Autoschlange vor der Stadt, wenn Mama mal nur mit mir zum Einkaufen reinfuhr und genau dann nichts mehr vor- und zurückging."
Karl fungiert hier als Ich-Erzähler, und so ist der Leser / die Leserin seiner Perspektive auch ganz nah. Glaubhaft werden hier die widersprüchlichen Gedanken und Gefühle von Karl dargestellt, die er gegenüber seinem Zwillingsbruder hegt. Je nach Situation sind das
Liebe und Kameradschaft,
die gemeinsame Freude am Quatschmachen,
aber eben auch die große Bürde der Verantwortung,
der Ärger darüber, seine Freizeit nicht so verbringen zu können wie er möchte,
die häufige Hilflosigkeit gegenüber Mos Verhalten,
der Neid auf Mos Fähigkeit, seine Gefühle und Zuneigung ganz offen zeigen zu können,
die Traurigkeit, dass häufig nur Mo gesehen wird und Karl selbst keine Rolle zu spielen scheint,
die Wut darüber, wenn sein Bruder aufgrund seines Verhaltens ausgelacht wird,
der gelegentliche Wunsch, sein Bruder möge nicht existieren und das damit verbundene schlechte Gewissen,
die Gemeinheit, sich selbst über seinen Bruder lustig zu machen oder ihn gar zu verleugnen
eine wachsende Überforderung und verbunden damit auch eine zunehmende Verweigerungshaltung gegenüber der ihm aufgebürdeten Aufgabe...
Flüssig und der Zielgruppe entsprechend (Altersempfehlung 11-14 Jahre) einfach geschrieben, lässt sich das Buch zügig lesen. Aus der Erwachsenensicht heraus empfand ich es als unmöglich, was die Mutter da von ihrem 12jährigen Sohn Karl forderte. Das war nicht mal gelegentlich eine Stunde aufpassen auf den impulsiven geistig behinderten Bruder mit fehlender Gefahreneinschätzung, sondern vier Nachtmittage pro Woche. Wäre da etwas passiert, wären die Eltern in Teufels Küche gekommen und Karl seines Lebens nicht mehr froh geworden – es wurde schon wegen weniger das Jugendamt eingeschaltet. Gerade die aufmerksame ältere Nachbarin hätte da gut einmal zum Telefon greifen können.
Trotzdem halte ich das Buch für gelungen, um auf die Problematik von Geschwistern behinderter Kinder aufmerksam zu machen und die Leser:innen dementsprechend zu sensibilisieren. Karl bietet für selbst betroffene Kinder zudem einiges an Identifikationspotenzial, selbst wenn die "Aufpasserfunktion" in der Realität (hoffentlich) übertrieben sein mag. Ich könnte mir das Buch auch gut als Schullektüre mit entsprechender Diskussion im Klassenverband vorstellen.
Alles in allem ein interessantes Kinderbuch mit einer ganz besonderen Thematik...
© Parden
Das ist ja förmlich ein Fachkommentar...
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