Dienstag, 28. November 2023

Schulman, Alex: Endstation Malma

 

Ein Zug fährt durch eine Sommerlandschaft. An Bord sind ein Ehepaar in der Krise, ein Vater mit seiner kleinen Tochter sowie eine Frau, die das Rätsel ihres Lebens lösen will. Sie alle fahren nach Malma, einen kleinen Ort, wenige Stunden von Stockholm entfernt, umgeben von Wäldern. Und keiner von ihnen weiß, wie ihre Schicksale verwoben sind und ob das, was sie in Malma erwartet, ihrem Leben nicht eine neue Wendung geben wird. In bestechender Prosa baut Alex Schulman seine Erzählung auf: wie einen Zug, der durch die Zeit fährt und in dem jedes Kapitel ein eigener Waggon ist, der an den nächsten angehängt wird. Lässt sich die Zukunft frei gestalten, oder ist sie durch Vergangenes vorgezeichnet? (Verlagsbeschreibung)

DNB / dtv / 2023 / ISBN 978-3-423-28353-3 / 320 Seiten

Alex Schulman bei Litterae Artesque: Die Überlebenden (2021)

 

 

 

 

 

Alex Schulman ist kein Unbekannter hier im Blog. "Die Überlebenden" war für mich vor zwei Jahren ein Jahreshighlight, und so habe ich den Roman hier gerne vorgestellt. Den neuen Roman las ich im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin, und eine der Teilnehmerinnen berichtete, dass sie auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Autor hatte sprechen dürfen - auf Schwedisch. Hut ab! Zu dem aktuellen Titel kann ich nur sagen: Selten hat ein Roman bei mir so viel Unbehagen verursacht - düster, bedrückend, grausam. Generationenübergreifendes Schweigen, Einsamkeit... Und vieles wiederum autobiografisch geprägt. Mehr dazu erfahrt Ihr hier:











DREI GENERATIONEN, EINE FAMILIE - DYSFUNKTIONAL...




Drei Generationen, eine Familie - dysfunktional. Generationenübergreifendes Schweigen, Einsamkeit, fehlendes Urvertrauen. Klingt deprimierend? Ist deprimierend, vor allem für die Betroffenen. Und der Autor Alex Schulman macht auch in seinem neuesten Roman keinen Hehl daraus, dass er aus eigener Erfahrung weiß, wovon er da schreibt...

Das ist kein bequemer Roman, den der schwedische Autor da präsentiert, wobei die verzahnte Konstruktion der Zeitebenen, das Stilmittel des Zuges (Es bewegt sich etwas!) vs. das Bild der Endstation (oder doch nicht?), sowie seine atmosphärisch dichten, eindringlichen Schilderungen sein großartiges Können zeigen. Doch worum geht es jetzt eigentlich genau?

Zu Beginn herrscht beim Leser Verwirrung - drei verschiedenen Personen befinden sich im Zug nach Malma. Und es dauert etwas, bis man begreift, dass sie nicht im selben Zug sitzen, sondern zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Und dass alle drei mit ihrem ganz eigenen Gepäck behaftet sind. Die achtjährige Harriet sitzt mit ihrem Vater im Zug, ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu verärgern; was sie am Ziel erwartet, weiß sie noch nicht. Später befindet sich Oskar mit seiner Frau Harriet im Zug, auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, doch auch er ahnt noch nicht, was in Malma auf ihn wartet. Und zuletzt Yana, die Tochter von Harriet und Oskar, die sich selbst auf den Weg nach Malma macht, um dort nach Spuren aus der Vergangenheit zu suchen, die vielleicht erklären können, wie alles kam.

Manchmal verliert man beim Lesen aus den Augen, von wem da gerade die Rede ist, wessen Gedanken und Gefühle man da lesend verfolgt (was vermutlich vom Autor so gewollt ist), wer da mit dem Leben hadert. Denn genau das tun sie alle drei, mit dem Leben hadern, mit sich, mit denen, die einen doch lieben. Lieben sollten. Lieben könnten. Mit der Familie. Ohne hier ins Detail zu gehen: es gibt gute Gründe, damit zu hadern.

Was geschieht beispielsweise mit dem Mädchen, das sich von klein auf unerwünscht fühlt und dies auch immer wieder vermittelt bekommt? Was geschieht mit dem Mädchen, das von der Angst besessen ist, eines Tages ganz alleine dazustehen? Mit dem selten jemand redet, das sich niemandem anvertrauen kann, das im Leben nicht verankert ist? Was ist mit dem Jungen, der sich Berührungen seiner Mutter erschleichen muss, indem er sich absichtlich einen Sonnenbrand zuzieht, damit sie ihn hinterher eincremt? Der sich immer wieder in Konkurrenz zu seinen Geschwistern begibt, um von seinen Eltern überhaupt gesehen zu werden?

Was geschieht mit diesen Kindern, wenn sie groß werden, erwachsen, selbst Kinder bekommen? Werden sie etwas ändern, die Fehler und Verfehlungen ihrer Eltern vermeiden, ihre eigenen Kinder sicherer im Leben verankern? Können Menschen, die selbst keine Liebe erfahren haben, diese an ihre Kinder weitergeben? Ihnen zeigen, dass sie gewollt, geliebt, geachtet sind? Alex Schulman zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft überschatten kann. Gibt es also kein Entkommen?

Selten hat ein Roman beim mir so viel Unwohlsein ausgelöst, an den Grenzen des Erträglichen gekratzt. Denn Schulman schreibt nicht nur über dysfunktionale Familien, er macht sie fühlbar, lässt mehr als nur erahnen, was es bedeutet, so zu leben. Keine der genannten Personen kam mir wirklich nahe, aber die Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Einsamkeit, Wut und Angst war tatsächlich körperlich spürbar. Unglaublich atmosphärisch, auch wenn der Schreibstil selbst nicht pathetisch oder dramatisch geartet ist. Das ist ganz großes Kino, allerdings auch eine Herausforderung. Aber der Autor gibt so auch denen eine Stimme, die selbst in solchen Famlien groß geworden sind oder noch in solchen Verhältnissen leben. Er zeigt: sie werden gesehen. Insofern womöglich auch durchaus ein tröstlicher Aspekt.

Ein herausfordernder, leiser und klug konzipierter Roman, dessen düstere, bedrückende Komponenten zweilen durch eingestreute bildhafte Naturschilderungen ein wenig abgemildert werden. Wer wissen mag, was es bedeutet, in einem dysfunktionalen System (über-)leben zu müssen: Lesen!


© Parden






Alex Schulman, geboren 1976, ist einer der populärsten schwedischen Schriftsteller. Sein Roman ›Die Überlebenden‹, 2021 bei dtv erschienen, wurde in 30 Sprachen übersetzt. Mit ›Verbrenn all meine Briefe‹, bei dtv 2022, gelang ihm in Schweden 2018 der Durchbruch als literarischer Autor. (Quelle: dtv)

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