In ihrem ersten Roman erzählt Jamaica Kincaid von einem Mädchenleben. Annie, die Heldin des Romans, ebenso liebebedürftig wie grausam, eine furchtlose Träumerin, die Lügen erfindet, um Wirklichkeit und Traumwelt in Einklang zu bringen, wächst auf einer kleinen Insel in der Karibik heran, bis sie mit siebzehn Jahren nach England geht. Überschattet und erleuchtet zugleich wird diese Zeit von einer über alles geliebten, königlich dominierenden Mutter. Ein Ablösungsprozess beginnt. Immer wieder umkreist Jamaica Kincaid das Verhältnis Mutter und Kind, diese Beziehung aus Nähe und Distanz, aus Vertrauen und Skepsis. Ein Roman wie eine Expedition zum Ursprung elementarer Gefühle. (Verlagsbeschreibung)
PUBERTÄT ALS DAS VERLORENE PARADIES...
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In acht lose miteinander verknüpften und chronologisch aufeinander aufbauenden Vignetten berichtet Jamaica Kincaid in ihrem ersten Roman (Ersterscheinung 1985) von dem Heranwachsen eines Kindes zur Jugendlichen, von der geliebten und stets gelobten Tochter hin zum rebellierenden und emotionsgeladenen Teenager, der um seine Ablösung v.a. von der Mutter vehement kämpft. Während viele Aspekte des Erlebens von Annie John ausreichend Allgemeingültigkeit haben, so dass pubertierende Jugendliche aus aller Welt sich darin wiederfinden könnten, bindet die Autorin das Geschehen zugleich eng in den kulturellen und traditionellen Kontext des Lebens auf dem postkolonialen Antigua ein, so dass man beim Lesen auch tiefe Einblicke in diese Details erhält.
Ein intelligentes Mädchen ist Annie, was ihr nicht nur die Bewunderung ihrer Lehrer:innen und Mitschülerinnen einbringt, sondern auch die ihrer Eltern. Gleichzeitig nutzt Annie ihren Einfluss auf andere Mädchen jedoch auch für Streiche, Heimlichkeiten und Regelwidrigkeiten, die sie einige Male in Schwierigkeiten bringen. Als Kind schließt sie rasche, intensive Freundschaften, die sie jedoch ebenso schnell wieder fallen lässt, wenn die Lebensbedingungen sich ändern. Annie entwickelt zudem durchaus einen Hang dazu, andere meist auf subtile Art zu quälen und oftmals verächtlich von ihnen zu denken.
Vor allem ihre Beziehung zu ihrer dominanten Mutter verändert sich im Verlauf auf eine radikale Weise. Fühlte sie sich als Kind einfach nur geliebt und umsorgt, vorbehaltlos angenommen und beschützt, wendet sich die Mutter plötzlich von ihr ab, als Annie ihre Kindheit abstreift. Nach einer anfänglichen Zeit der Verletzung entwickelt Annie ihrer Mutter gegenüber einen regelrechten Hass, den sie im Umgang miteinander nicht immer unterdrücken kann. Im Wesentlichen macht sie ihre widerstreitenden Gefühle jedoch in erster Linie mit sich selbst aus, was sie viel Kraft kostet - bis sie die Nervenkrise monatelang krank macht. Doch nicht nur ihre Position ihrer Mutter gegenüber gerät ins Wanken, auch ihr Weltbild mit den widersprüchlichen kulturellen und traditionellen Werten: Schwarze Magie vs. Wissenschaft, jahrhundertealter Vodoo Praktiken vs. moderner Medizin.
Um ihre eigene Identität entwickeln zu können, verlässt Annie John schließlich mit 17 Jahren die Insel und reist per Schiff nach England, um dort die Ausbildung als Krankenschwester anzutreten. Sie wählt die radikale Ablösung von ihren Eltern, um ihren eigenen Weg gehen zu können.
Annie John ist wahrlich keine sympathische Person. Auch wenn die Gedanken und Gefühle, die emotionale Aufgewühltheit, die verzweifelte Suche nach sich selbst sehr glaubhaft und authentisch präsentiert werden, blieb Annie für mich durch ihren Hang zu Grausamkeit und Überheblichkeit doch stets auf Distanz. Dennoch gibt es durchaus auch witzige Textstellen und interessante Einblicke in das Leben auf der kleinen karibischen Insel.
Mir gefällt auch, dass das Buch einen kulturpolitischen Subtext
entwickelt, der Annies wachsende Freiheit in den Kontext des kolonialen
Erbes Antiguas stellt. Als Annie beispielsweise in ihrem Geschichtsbuch
ein Bild von Kolumbus in Ketten sieht, verunstaltet sie es, indem sie
darunter unflätig schreibt: „Der große Mann kann nicht mehr scheißen.“
Columbus steht hier wohl als Pate des europäischen Kolonialismus, und
Annie wird in einer Schule unterrichtet, die nach englischem Vorbild
geführt wird (der Geburtstag von Königin Victoria wird gefeiert). Ihre
Verunstaltung kann also als Ausdruck der Ohnmacht dieser alten
Strukturen angesehen werden — eine Assoziation, die sich hier aufdrängt.
Kincaids
Geschichte über das Erwachsenwerden ist sicherlich nicht der erste
Roman, in dem es um eine Rivalität zwischen Mutter und Tochter geht,
aber was sie von den meisten anderen unterscheidet, ist ihre ruhige
Prosa und ihre unsentimentale Haltung. Annies aufwühlende Erlebnisse und
Empfindungen werden durch das reife Erinnern aus Erwachsenensicht
gemildert — durch eine Mischung aus Liebe, Bedauern, Melancholie und
Nostalgie.
Pubertät als das verlorene Paradies - hier stimmt es wortwörtlich, denn Annie verlässt schließlich Antigua. Nicht vertrieben, sondern geflüchtet - aber unumkehrbar. Dieser erste Roman von Jamaica Kincaid, die seit Jahren als Kandidation für den Nobelpreis für Literatur gilt, macht mich jedenfalls neugierig auf ihre anderen Werke. Ich werde berichten...
© Parden
Die Challenges bieten also vor allem Überraschungen für dich... Buchige Weltreise...
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