Sonntag, 26. Mai 2013

Zamoyski, Adam: 1812 Napoleons Feldzug in Russland


Eine Rezension von

TinSoldier


Eine Zeitreise in das Jahr 1812 

Napoleon fasste sich, und mit ruhigem Ton sagte er mir folgende Worte: Die Franzosen können sich nicht über mich beklagen; um sie zu schonen, habe ich die Polen und die Deutschen geopfert. Ich habe in dem Feldzug von Moskau 300.000 Mann verloren; es waren nicht einmal 30.000 Franzosen darunter.            Sie vergessen, Sire, dass Sie zu einem Deutschen sprechen!

(Gespräch zwischen Napoleon Bonaparte und dem österreichischen Kanzler Graf von Metternich vom 26. Juni 1813)

Das Jahr 1812 war ein Schicksalsjahr für Europa und für Napoleon Bonaparte gleichermassen: 

Es war das Jahr, welches auf dem Höhepunkt seiner Macht den Wendepunkt brachte und in dem sein Niedergang besiegelt wurde.
Das vorliegende Buch von Adam Zamoyski erzählt diese Geschichte und lässt uns teilhaben sowohl an den politischen als auch an den militärischen, vor allem aber an den erschütternden menschlichen Tragödien dieses Jahrhundertereignisses.
Ist es ein Geschichtsbuch? Ja es ist eines, und was für eines! Es ist ein Geschichtsbuch, dass uns bildet und fesselt zugleich, spannender als jeder Aktion-Schmöker und als jeder Krimi. Und, nebenbei gesagt, auch mit wesentlich mehr Leichen.
Dabei ist das Furchtbare, das Verstörende daran, dass die Dinge, die wir da lesen müssen, nicht erfunden sind, sondern wirklich geschahen! Woran liegt es nun, dass wir in diesem Buch so nah dabei sind, dass wir oft glauben, selbst die grimmige Kälte gnadenloser Frostnächte zu spüren und mitleiden, wenn die Verwundeten schreiend auf dem Schlachtfeld liegen? Liegt es daran, dass der Autor hunderte und aberhunderte authentische Quellen befragt hat, ja, dass die Akteure dieses Dramas in ihren erhaltenen Tagebüchern und schriftlichen Aufzeichnungen mit Texten und Zeichnungen selbst "zu Wort" kommen? Erkennen wir in diesen Schilderungen den eiskalten Hauch der Geschichte, der uns anbläst? Wir lesen, teils mit Grauen, teils mit Neugier, immer aber mit Spannung, und wir erkennen: 
Wir wissen so wenig, so verdammt wenig von der Welt, von der Geschichte und von der Natur des Menschen. 
Und davon, dass die Realität für die Menschen  vor 200 Jahren genauso Realität war, wie für uns heute.
Ist es nun ein Geschichtsbuch? 
Die Antwort ist: Ja! Und zwar eines der Besten, das ich kenne!
Und ein zutiefst menschliches zugleich.



Dieser Feldzug war ein gewaltiges Unternehmen.
Allein die "nackten" Zahlen lassen uns schwindeln:

Ca. 450.000 bis 650.000 Soldaten (je nachdem, ob man das Personal für die Logistik mitzählt), dazu zehntausende Zivilisten (Abenteurer, Kriegsgewinnler, Marketenderinnen, zahlreiche Familienangehörige von Offizieren und Mannschaften, darunter selbst schwangere Frauen   sowie tausende Entwurzelte jeglicher Couleur plus ca. 120.000 Pferde:
Die Wenigsten dieses menschlichen Sammelsuriums  und kaum eines der Pferde sollten die Heimat jemals wiedersehen.
Von einem westfälischen Grenadierregiment kehrte z.B. nur ein einziger, einsamer Sergeant in seine Garnison zurück!
Andere Einheiten schrieben ähnlich grausame Verlustzahlen. Wer nicht im Gefecht einer Kugel zum Opfer fiel, erstochen, erschlagen, von Kanonenkugeln und Kartätschengeschossen zerrissen wurde, erfror schließlich auf dem Rückmarsch, verhungerte in der  Gefangenschaft oder starb an Entkräftung, Ruhr oder Typhus.
Allein in der Schlacht von Borodino fielen am 26. August 1812 an einem einzigen Tage 75.000 Franzosen und Russen.
Nur wenige waren stark oder glücklich genug, um dies zu überleben.
Die gesamten Verluste des Feldzuges lassen sich heute kaum noch beziffern. Historiker schätzen die Zahl derjenigen, die zurückkehrten, zwischen 21.000 und ca. 81.000 Mann.
Da viele Dokumente verloren gingen, lässt sich die wirkliche Zahl nicht mehr herausfinden.
Einen Anhaltswert für die Verluste mögen folgende Zahlen bieten:

"Von 30.000 Mann des bayerischen VI. Korps traten am 13. Dezember noch 68 kampffähige Soldaten an. Von mehr als 27.000 Westphalen kehrten nur 800 zurück.
Von 15.800 Württembergern waren nach dem Rückzug noch 387 Mann vorhanden.
Die badische Division, anfangs etwa 7000 Mann, bestand am 30. Dezember noch aus 40 kampffähigen und 100 kranken Soldaten.
Die sächsische Kavalleriebrigade Thielmann wurde bei Borodino fast vollständig vernichtet, 55 Mann kehrten zurück. Von 2.000 Mecklenburgern kehrten 59 zurück..."[1]


Tausende, die sich von Moskau und über die zugefrorene Beresina durch grausigem Frost zurückgeschleppt hatten, starben vom 07. - 09. Dezember 1812 noch in Wilna, die Heimat und damit die Rettung in greifbarer Nähe, an Entkräftung, Hunger, Kälte und Typhus bei Temperaturen von bis zu  - 39 Grad Celsius. Als die französische Armee am 10. Dezember 1812 schließlich aus Wilna abrückte, ließ sie etwa 20.000 Verwundete zurück.

Der württembergische Leutnant Karl Kurz schrieb über das Schicksal der in Wilna zurückgebliebenen Soldaten:
"Säle und Zimmer ... lagen voll toter und Sterbender, die in der Hungerwut ihre toten Kameraden benagten... Unbeschreiblich war das Elend der armen Gefangenen in den Tagen des 11. - 15. Dezember, in welchen durch die Waffen des Feindes, durch Misshandlungen aller Art, durch Kälte und Hunger mehr als 1.000 Offiziere und 12.000 Gemeine aller Nationen zugrunde gingen. Das Massaker endete erst, als die reguläre russische Armee eintraf - die Kosaken zählten nicht zur regulären Armee..." [2]

Und welche Ironie des Schicksals:
Die Toten wurden nun in genau jenen Schützengräben begraben, die sie selbst oder ihre  Kameraden erst wenige Monate zuvor auf dem Vormarsch in Wilna ausgehoben hatten...[3]

Aber zunächst herrschte noch Jubel und Begeisterung, und selbst die rund 120.000 Deutschen aus den sog. Rheinbundstaaten, darunter etwa 30.000 Bayern, 27.000 Westfalen und 20.000 Sachsen sowie die Kontingente aus Österreich und Ungarn, aus Polen, aus Holland und Belgien - und woher auch immer sie stammen mochten, sie alle marschierten  mit dem Stolz in der Brust, dieser siegreichen, glanzvollen Armee anzugehören. Und sie opferten sich letztendlich für eine Sache, die nicht die ihre war.

Adam Zamoyski schildert diese Ereignisse in einer Weise, die präzise und spannend zugleich ist und bereichert die bloße Darstellung historischer Fakten immer wieder mit Schilderungen aus den überlieferten Aufzeichnungen namentlich bekannter Protagonisten des Geschehens. Gerade hierdurch gewinnt der Leser den Eindruck einer Unmittelbarkeit, die uns, wenn sie bei der Darstellung  historischer Ereignisse fehlt, Historie oft trocken und fade erleben lässt. Zamoyski lehrt uns, dass es auch ganz anders geht und dass man ein Geschichtsbuch wie einen Thriller lesen kann.
Es ist so, als erzählten uns unsere Eltern und Großeltern ihre Erlebnisse, und wir hören zu,  atemlos und gebannt ,  weil es nicht die unnahbaren Großen und Berühmten sind, die uns die Geschichte erzählen, sondern  normale Menschen, mit denen wir uns identifizieren können.
Und hier liegt das Geheimnis:
Adam Zamoyski erzählt uns die Geschichte aus beiden Blickwinkeln, lässt uns die Ereignisse durch die Augen der Offiziere und Generale, der Staatsmänner und Diplomaten und im nächsten Moment durch jene des einfachen Soldaten betrachten. So entsteht ein Kontrast, der sich in unserem Kopf zu einem stimmigen Gesamtbild fügt, und so ganz nebenbei erfahren wir viele aufschlussreiche Details aus dem Alltag und dem Gefühlsleben eines einfachen Soldaten in der napoleonischen Armee des Jahres 1812 und über den Wahnsinn des Krieges.

1812: Ein absolut empfehlenswertes Buch.
Verlag C.H.Beck,  München 2012



[1] Leuschner, Peter: Nur wenige kamen zurück. Ludwig, Pfaffenhofen 1980
[2] Kleßmann, Eckard: Napoleons Rußlandfeldzug in Augenzeugenberichten. dtv 1972,
Seite 376
[3] vgl. dazu die Links ganz unten: Napoleons verlorene Armee, DOKU 24, Teil 1-3


Sollte es mir gelungen sein, Dich, lieber Leser, neugierig zu machen, dann kann ich Dir als ergänzende Lektüre die folgenden Büchlein empfehlen, die allesamt u.a. bei Amazon erhältlich sind:















Förster Fleck:
Erzählung von seinenSchicksalen auf dem Zuge Napoleons nach Russland und von seiner Gefangenschaft 1812 - 1814. Von ihm selbst geschrieben















Joseph Schrafel:
Des Nürnberger Feldwebels Joseph Schrafel merkwürdige Schicksale














Jacob Meyer:
Erzählung der Schicksale und Kriegsabenteuer des westfälischen Artillerie Wachtmeisters Jacob Meyer aus Dransfeld



Links:

Napoleons verlorene Armee, DOKU 24, Teil 1:

Napoleons verlorene Armee, DOKU 24, Teil 2:

Napoleons verlorene Armee, DOKU 24, Teil 3:




Zum Autor

© TinSoldier


 

4 Kommentare:

  1. Der erste Beitrag von TinSoldier, manche sagen auch Rudi zu ihm. Ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit.
    Grüße vom KaratekaDD

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  2. Lieber Uwe,
    vielen Dank für die nette Begrüßung. Ich freue mich darauf, hier mitmachen zu dürfen!
    Grüße vom TinSoldier

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