Montag, 9. Oktober 2023

Öziri, Necati: Vatermal (Hörbuch)

Arda weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Er liegt mit Organversagen im Krankenhaus seiner Heimatstadt im Ruhrgebiet;  an seinem Bett sitzen abwechselnd seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin. Seit zehn Jahren haben die beiden kein Wort miteinander gesprochen. Zum Abschied wendet er sich an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat. Arda erzählt dem Unbekannten von Geburtstagen im Ausländeramt und vom letzten Sommer auf dem Bahnhofsplatz, bevor alle seine Freunde verschwinden: Bojan wird abgeschoben. Danny wird zu früh Vater. Savaș geht zurück in die Türkei, nachdem er seine Mutter verliert. Aber Arda erzählt auch von Schwester und Mutter: von Aylin, die von zuhause wegrennt. Und von Ümran, die sich ihr Leben ganz sicher anders vorgestellt hat. Necati Öziri schreibt eine Familiengeschichte über einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester, deren Leben und Körper gezeichnet sind von sozialen und politischen Umständen. Ein Roman von radikaler Wahrheit, Wut, Kraft, Liebe und Sehnsucht – und das dringlichste Debüt des Jahres. (Verlagsbeschreibung)


DNB / Hörbuch Hamburg / 2023 / ISBN: 978-3-8449-3623-0 / 384 Minuten

 

 

 

Erst nach einigem Zögern habe ich zu diesem Hörbuch gegriffen. Von den Titeln auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises sprach mich "Vatermal" nicht wirklich an. Ich wollte eigentlich keine weitere Geschichte lesen oder hören, in der sich ein Sohn oder eine Tochter mit einem seiner Elternteile auseinandersetzt. Nun ist "Vatermal" auf der Shortlist gelandet, befindet sich also unter den sechs Titeln, die noch die Chance haben, den diesjährigen Buchpreis zu gewinnen (Preisverleihung: 16.10.). Daher habe ich mich für die Hörbuchvariante entschieden, weil mein Lesestapel für diesen Monat bereits so hoch ist, dass ich das Buch wohl nicht mehr hätte dazwischen schieben können. Ob sich das Hörbuch jetzt gelohnt hat? Lest selbst:












GRANDIOSES DEBÜT...


Unter Verwendung von Quelle Pixabay


Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie der letzte Sommer meiner Jugend war, bevor fast alle meine Freunde verschwunden sind. Du sollst wissen, wie es war, als deine alten Freunde mir auf die Schulter klopften und sagten, ich würde irgendwann werden wie du: Held einer gescheiterten Revolution. Ich werde diese Geschichten aufschreiben.


Der Student Arda liegt im Krankenhaus, die Lage ist ernst. Wenn die Therapie nicht anschlägt, wird er sterben, niemand weiß, wie lange ihm noch bleibt. In dieser Phase der Ungewissheit denkt Arda nach über sein Leben, seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie und seiner Freunde. Und über seinen Vater, den er nie kennengelernt hat, weil dieser vor seiner Geburt zurückging in die Türkei. Arda wächst bei seiner Mutter und seiner älteren Schwester im Ruhrgebiet auf, passlos bis zu seinem 18. Lebensjahr. Arda beschließt, im Krankenhaus einen Brief an seinen Vater zu schreiben, nicht wissend, ob dieser ihn jemals lesen wird, aber notwendig, um mit sich ins Reine zu kommen.

Der Ich-Erzähler Arda beleuchtet viele Aspekte - sein eigenes Aufwachsen im grauen Ruhrgebiet, sein enges Verhältnis zu seiner Schwester, die jedoch, als der Streit mit ihrer Mutter eskalierte, eines Tages einfach ging und nicht wiederkehrte. Die Geschichte seiner Großeltern, seiner Eltern, seiner Freunde. Die Zeit als Jugendlicher, wo sowieso alles unsicher ist, wo vielleicht die Freunde den Halt bieten, den man braucht, Gewalterfahrungen, verstörende Erlebnisse, Vorurteile, Verluste, fehlende Perspektiven. Arda reiht Erinnerungen aneinander - die eigenen ebenso wie die Versatzstücke, die ihm seine Mutter und seine Schwester erzählen, die ihn nun regelmäßig im Krankenhaus besuchen.


Aber wenn es eine Sache gibt, die ich (...) begriffen habe, dann, dass wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind. Und das Einzige, was du tun kannst, ist aufstehen und das Leben suchen, solange du noch kannst. 


Die Aneinanderreihung von Erinnerungen wirkt dabei nicht konstruiert oder störend, sondern stimmig, auch wenn es immer wieder Themensprünge gibt und wechselnde Perspektiven. Ein Roman, der deutschtürkische Realitäten abbildet, ohne dass sie das zentrale Thema wären, vermeintlich leicht in der Sprache, dabei meist eher nüchtern und distanziert und trotzdem gefühlvoll und ja, auch berührend, dann wieder urkomisch. 

Eray von Egilmez liest die ungekürzte Hörbuchfassung (6 Stunden und 24 Minuten) dem Schreibstil entsprechend unaufgeregt und lässt dem Erzählfluss den notwendigen Raum. Mich hat die Lesung überzeugt.

Ein Roman über Fremdsein und Identitätssuche, über die Geschichte einer Familie, über Ereignisse und Entscheidungen, die generationenübergreifende Folgen nach sich ziehen, über Sinnsuche und Freundschaft, über Männlichkeit und Rollenerwartungen. Am Ende - ein offenes Ende, alles andere wäre unpassend - dann das Gefühl, dass Arda mit sich selbst im Reinen ist. Komme, was da wolle...

Ob der Roman den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewinnt? Vermutlich nicht, er lässt sich zu gefällig lesen, ist wohl nicht überspannt genug. Aber die Herzen der Leser:innen kann er offenbar erobern. Meines auf jeden Fall...


© Parden









Necati Öziri, geboren in einer der vielen grauen Ecken des Ruhrgebiets (»Hölle Hölle Hölle!«), hat Philosophie, Germanistik und Neue Deutsche Literatur in Bochum, Istanbul und Berlin studiert. Er lebt in Berlin sein drittes Leben, schreibt, macht Theater und manchmal einen auf Intelelli, wofür ihm sein sechzehnjähriges Ich wahrscheinlich eine Schelle verpassen würde. In seinen Texten ist natürlich alles wahr. Öziri war Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und unterrichtete an der Ruhr-Universität Bochum formale Logik, bis er feststellte, dass Logik die Welt nicht besonders gut beschreibt. Seitdem versucht er zu schreiben, nicht wie die Welt ist, sondern wie sie sich anfühlt. Er ist erbitterterer Feind von Kälte, Lactose und Kurz-Biographien. Als Theaterautor schreibt er für das Maxim Gorki Theater, das Nationaltheater Mannheim und das Schauspielhaus Zürich. Öziri trifft sich regelmäßig mit alten Versionen seiner selbst, sie sitzen in Schulheften voller Kaffeeflecken herumblätternd auf dem Boden von Ämtern und warten (worauf eigentlich?) oder sie chillen auf Bänken am Bahnhof und bieten ihm einen Joint  an.  Bei  den  45.  Tagen  der  deutschsprachigen  Literatur  (Ingeborg-Bachmann-Preis) gewann er den Kelag-Preis  und  den  Publikumspreis.  Als  Kurator  leitet  er  zudem  das Internationale  Forum  des  Theatertreffens  der Berliner  Festspiele.  Bei  Wut  und  anderer Erregung dunkelrote Färbung der Ohren. (Quelle: Hörbuch Hamburg)



Eray von Egilmez, geboren 1976 in Aydın/Türkei, ist ein Berliner Schauspieler türkischer Herkunft. Nach seinem Studium an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg stand er u. a. am Berliner Ensemble und am Schauspiel Frankfurt auf der Bühne. Im Fernsehen trat er in bekannten TV-Produktionen wie »Tatort«, der Showtime Serie »Homeland« oder der Netflix Serie »Dogs of Berlin« auf. Außerdem war Eray von Egilmez vier Jahre lang Teil der »Blue Man Group« in New York und Berlin, wofür er eigens trommeln lernte. (Quelle: Hörbuch Hamburg)


1 Kommentar:

  1. Da bin ich ja nun gespannt, ob der Roman berücksichtigt wird. Grüße aus NZ...

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