Dienstag, 24. Oktober 2023

Vinogradova, Laura: Wie ich lernte, den Fluss zu lieben

Es sind nicht viele Menschen, die wir in diesem Buch kennenlernen. Da ist Rute. Sie hat ihre Schwester vor zehn Jahren verloren. Keiner weiss, wo sie abgeblieben ist. Der Leser erfährt es, Rute erfährt es nicht. Dinas und Rutes Mutter sitzt im Gefängnis. Und ihr Mann Stefans stammt aus reichem Elternhaus. Im Gegensatz zu Rute und Dina.

Rute kennt ihren Vater nicht. Als dieser stirbt, fährt sie an diesen Fluss, da, wo das Haus steht. Einfach. Das Wasser holt sie vom Fluss. Nicht weit entfernt lebt Matilde mit Lūkaas. Matilde ist schwanger, bevor Niklāvs auf die Welt kommt, drückt sie Rute den kleinen Lūkaas in die Hand. Die beiden Jungs haben keinen Vater, dafür aber den bärenstarken Kristofs, den Bruder von Matilde. Der aber fährt zur See. Jetzt muss Rute lernen, wie man einem Knirps den Popo abwischt. Rute ist sechunddreißig und hat keine Kinder.

So ist Rute nicht so allein. Kristofs kannte den alten Jūle. Der hatte dem kleine Kristofs einst viel beigebracht. Im Haus gibt es Bücher...

Rute schreibt Briefe an ihre verschollene Schwester. Sie vermisst sie sehr. Sie schreibt auch vom Fluss, der „die große Schwester ihrer Verzweiflung ist.“

Der Fluss, der fließt. Zu den Menschen hin und von ihnen weg. Rute lernt ihn lieben.
„Rute steigt zum Fluss hinunter und setzt sich ans Ufer. Das Flussufer ist feucht. Es riecht nach Kalmus und Wasserpflanzen. Nach Rauch und nassem Moos. Ein wenig nach Herbst, obwohl Sommer ist. Rute zieht sich aus und steigt in den Fluss. Dann lässt sie sich treiben. Sie liegt auf dem Rücken im Wasser und schaut in den Himmel. Hin und wieder bewegt sie Arme und Beine, um nicht ans Ufer zu treiben...“ (Seite 62)

                                           * * *


Es fühlte sich an wie ein trauriges Buch. So still. So ruhig. Nur zweimal ist der Text schnell. Einmal im Prolog. Da geht es um Dina. Und dann noch einmal, als ein Ast der alten Weide auf das alte Haus am Fluss fällt und Rute ganz schnell wieder dorthin fährt. Doch diesmal ist es keine Flucht.

Die Menschen haben es nicht leicht gehabt. Als sie Kinder waren vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren. Das gilt für die beiden Geschwisterpaare gleichermaßen. Als Lettland wahrscheinlich weitaus ärmer war, aber vor allem auch wegen ihrer Eltern. Und doch, da ist immer Hoffnung und die Menschen finden zusammen. 

Das Ende ist traurig und Freude zugleich, es gibt Hoffnung, Liebe, Wege. Nur einer fährt am Ende wieder zurück auf des Meer, an Englands Küste. Zu schwer ist es, einen Menschen nicht mehr zu haben und den anderen nicht zu bekommen.

Es war ein langsames Lesen. Die Fragen des Lesers nach Dina, nach der Kindheit, in kleinen Teilen dargeboten ergaben auch eine Art Spannung. 



Fluss in Lettland / Bild von 
Ma_Frank auf Pixabay


* * *


L. Vinogradova
auf der FBM *
Das Büchlein der 1984 geborenen Laura Vinogradova stammt aus der „Schöne Bücher – Bibliothek“,
dies ist ihr erster Roman.Eigentlich ist es mehr eine Novelle, bereits 2021 wurde sie mit dem europäischen Literaturpreis ausgezeichnet. In diesem Jahr stellte sie den Roman - so steht es auf dem Deckel – auf der Frankfurter Buchmesse vor. Mit diesem Buch wurde nämlich auch diese Bibliothek vorgestellt, die auf eine Idee einiger (zehn) unabhängiger kleiner Verlage zurück geht. Völlig unterschiedliche Themen finden sich in dieser Reihe ausgewählter Titel zeitgenössischer Autoren.

„Mal mit Witz, mal ganz ernst. Mal mit Blick auf große Fragen unserer Zeit, mal auf das Kleine, ganz Private. Und stets absolut lesenswert. Zehn literarische Stimmen, zehn kuratierte Perlen für Buchfans - ob erfrischender Erstling oder preisgekröntes Werk. Vom historischen Roman über Krimi und Mystery bis zu Science-Fiction oder Satire: ein Literatur-Kanon, wie er im Buche steht. Die Schöne Bücher Bibliothek verspricht Highlights für alle, die gern lesen.“

 


Das Buch ist kein Zufallsfund, aber auf einer Buchmesse fand es den Weg zu mir. Auf Dresden (er)lesen begegnete ich nicht zum, ersten mal diesem Dreigespann: Katja Völkel, Jens Korch und Barbara Miklaw. Diese hielten stolz drei Exemplare dieser Reihe vor die Linse. Eines davon war dieses hier. Ich denke, die „Schönen Bücher“ werden hier noch öfter einen Platz bekommen. Daran hat Laura Vinogradova natürlich ihren Anteil. Bisher schrieb sie Kurzgeschichten und Kinderbücher.

Das Rezensionsexemplar ist ein schöner Auftakt für eine neue Reihe im Bücherregal. Vielen Dank.

  • DNB / Paperento / Chemnitz 2023 / ISBN: 978-3-947409-57-0 / 120 Seiten

© Bücherjunge



3 Kommentare:

  1. Ich habe Jens und Barbara auf der FBM getroffen und mir weitere Titel der Reihe angesehen. Natürlich sind auch drei davon mit nach Hause gekommen, so dass ich jetzt vier davon hier habe, was im Bücherregal schon richtig gut aussieht. Jetzt bin ich erstmal auf die drei neuen Titel gespannt, dein Buch ist jedoch nicht dabei ... noch nicht :-)

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  2. Ich habe Jens gebeten, mir eins herauszusuchen oder heraussuchen zu lassen. Will mich überraschen lassen. Der Bücherjunge

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