Montag, 23. Oktober 2023

Heinisch, Andrea: Henriette lächelt

Mit ihren 190 Kilo bleibt Henriette am liebsten zu Hause, während das Leben vor ihrem Fenster stattfindet. Ihre Mutter, die in der Wohnung über ihr lebt, möchte das Leben ihrer fünfzigjährigen Tochter kontrollieren, sie lässt sie nicht in Ruhe, kommentiert jede Essensbestellung, jede Kleiderwahl, die Henriette trifft. Aber zum Glück ist da Martin: Ihr Arbeitskollege, den sie nur vom Zoom-Bildschirm kennt und der so schöne Augen hat. Sie verliebt sich in ihn, auch wenn sie sich das selbst nicht zugesteht. Als sie eines Tages ihre junge Nachbarin kennenlernt, beginnt Henriette sich und ihre Welt zu öffnen. Gelingt es ihr, sich von ihrer Mutter zu lösen und einen Schritt in die Zukunft zu wagen? (Verlagsbeschreibung)


DNB / Picus Verlag/ 2023 / ISBN 978-3-7117-2142-6 / 208 Seiten







Dieser Roman sprang mich mit seinem freundlichen Cover bei NetGalley geradezu an. Der Klapptentext klang dann auch interessant, und schon griff ich zu. Herzlichen Dank für die Möglichkeit, dieses Buch lesen zu dürfen! Meine Kurzfassung zum Titel lautete schließlich: Henriettes stream of consciousness - Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, und über all dem ihr enormes Gewicht. Aber es bewegt sich was... Wie mir der Roman letztlich gefiel, könnt Ihr hier nachlesen:





















SCHWERGEWICHT...


Henriette hat ein Problem. Oder besser gesagt gleich zwei. Das eine ist ihr enormes Gewicht: 190 Kilo zeigt die Waage an, Tendenz steigend. Und das andere ist ihre Mutter, die über ihr wohnt, einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hat und sich jederzeit in ihr Leben einmischen kann und dies auch tut. Kilo um Kilo ist in den letzten Jahren hinzugekommen, und tatsächlich kann Henriette nur ans Essen denken - es ist, so sagt sie selbst, als habe sie zwei Mägen, und einer davon ist immer leer.


Henriette denkt vor, während und nach dem Essen ununterbrochen ans Essen. Henriette schämt sich sehr, dass sie immer viel, viel viel mehr als die anderen essen möchte. Wo doch ein Blick genügt und man weiß, dass sie am besten erstmal ein paar Jahre gar nichts essen sollte.


Die 50jährige Henriette lebt alleine in ihrer Wohnung und verlässt diese so gut wie gar nicht mehr. Corona sei Dank, kann sie per Homeoffice arbeiten, der einzige Kontakt zur Arbeit besteht aus regelmäßigen Zoom-Meetings mit ihrem Kollegen Martin - dem mit den grünen Augen. Für diese Meetings richtet sie sich her, so gut es geht, aber ansonsten lässt sich Henriette gehen. Überall Essensreste, ungespültes Geschirr, ungewaschene Klamotten - und auch sich selbst pflegt Henriette nicht mehr. Es gibt kaum noch passende Kleidung, aber außer den Essenslieferanten und ihrer Mutter bekommt sie eh niemand zu Gesicht. Und letztere meckert sowieso in einer Tour - was soll es also?


Die Mutter hat sich an Henriettes Fersen geheftet und redet wie üblich ohne Unterlass. Nicht einmal Richard Gere könnte diese Frau ertragen, und der ist Buddhist, denkt Henriette, während die Mutter vor sich hin klagt.


Kurze Kapitel und einfache Sätze folgen Henriettes stream of consciousness - Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Die Themen der Kapitel sprunghaft wie der Gedankenfluss der 50Jährigen. Man möchte Henriette schütteln, ihre Mutter hinauswerfen, ordentlich durchlüften und klar Schiff machen. Deutlich ist, dass Henriette nicht glücklich ist in ihrem Leben, dass sie irgendwie aufgegeben hat, ziellos von einem Fresskoma ins nächste taumelt. Dabei klagt sie nicht, sie schaut sich all die Fakten recht nüchtern an, kann sich aber zu nichts aufraffen, das dem Abgrund entgegenwirken würde, dem sie sich nähert.

Erst als Henriette den Mut findet, eine Nachbarin zu bitten, bei ihr zu putzen - denn sich bewegen geht kaum noch, geschweige denn sich zu bücken - driftet ihr Leben ganz langsam aber unaufhaltbar Veränderungen zu. Henriette trifft Entscheidungen, winzige zunächst, aber immerhin. Beginnt Anteil zu nehmen an ihrer Umwelt. Stellt sich dann ihren Erinnerungen und schließlich auch ihrer Mutter, deren Stimme längst schon die von Henriettes innerem Kritiker geworden ist. Und sie beginnt sich zu öffnen.

Zu Beginn hatte ich Mühe, Henriette näher zu kommen. Allerdings: hätte sie das überhaupt gewollt? Der Erzählstil hielt mich auf Distanz, mehr als oberflächliches Interesse für Henriettes eigenwilligen Lebensstil hatte ich anfangs nicht. Allerdings hoffte ich auf Hinweise, was das Essen für sie bedeutet, weshalb es solch einen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt. Und ob es möglich sein würde, diesen Prozess zu durchbrechen, oder auch ob Henriette überhaupt etwas an ihrer Situation verändern will. Depression schlug mir entgegen, Verwahrlosung und - ja, auch Gestank.

Begegnungen sind es, die Henriette schließlich zulässt, und die Veränderungen bewirken. Behutsame, allmähliche, glaubhafte Veränderungen, die mich zusehends freuten. Und die auch mir letztlich eine Annäherung erlaubten. Das offene Ende empfand ich als passend, dabei positiv gestimmt, so dass ich Henriette letztlich gut loslassen konnte. Schön fand ich, dass der Buchtitel dem des letzten Kapitels iim Roman entspricht, und dass sich auch das Cover durch den Text erklärt.

Ein schmaler, unaufgeregter Roman, der das kleine große Drama eines Lebens aufzeigt, und der ganz allmählich den Menschen hinter all den angefutterten Schichten herausschält, die das Innere wie einen Panzer vor der Welt abschirmen. Letztlich ein hoffnungsvoller Roman, den ich gerne gelesen habe...


© Parden

















Andrea Heinisch wurde 1959 in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs. Matura in Tirol, Studium der Germanistik und Geschichte in Salzburg. Einige Jahre Lehrtätigkeit am Lycée français de Vienne. Lebt und schreibt in Wien und im Waldviertel. 2023 erschien ihr Debütroman »Henriette lächelt«. (Quelle: Picus Verlag)





1 Kommentar:

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