Samstag, 6. April 2019

Teltschik, Horst: Russisches Roulette...

... vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden

1989 / 1990: Nach dem Mauerfall beginnt das DEUTSCHLANDSPIEL erst richtig. Helmut Kohl hat einen 10-Punkte-Plan. Doch was sagt die Sowjetunion dazu? (1)

2000: Hans-Christoph Blumenberg produziert einen Doku-Spielfilm namens DEUTSCHLANDSPIEL. Im ersten Teil geht es um den Herbst 1989, im zweiten Teil um die sogenannten 2+4 Verhandlungen. Hier hören wir die Protagonisten von Gorbatschow, Bush, Thatcher und Mitterand bis Kohl sowie Lothar de Maizere , Genscher, Schewardnadse, Baker, Condolezza Rice und Marschall Achomejew. (2)


Im SPIEGEL Nr. 11 / 2019 fand ich einen Artikel, ein Interview mit Horst Teltschik zu seinem soeben erschienenen Buch RUSSISCHES ROULETTE – vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden. Auf der Buchmesse in Leipzig finde ich das Buch beim C.H.Beck Verlag. (3)



Abb 3
Immer wieder, natürlich erst recht im Jahr des dreißigsten Jahrestages des Mauerfalls, wird an diese historischen Ereignisse erinnert. Hier nun schreibt einer, der äußerst eng mit Bundeskanzler Helmut Kohl zusammenarbeitete, über die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion bzw. Russland, über das Verhältnis von USA, EU, NATO zur UdSSR und aktuell zum Russland Präsident Putins sehr genaue Kenntnisse hat. Der Titel sagt es an sich schon: Das Verhältnis heute ist schwierig, es scheint, man, nein wir spielen mit dem Feuer, oder auch mit Panzern und Raketen.

Wenn einer der maßgeblichen Mitarchitekten der deutschen Einheit andeutet, dass in verschiedenen politischen Verhältnissen zum größten Land der Erde vieles nicht stimmt, wenn sich also in der Trommel des sprichwörtlichen Revolvers irgendwann mal die scharfe Kugel vor dem Lauf befindet, dann muss er das wohl begründen.

Quelle Wikipedia - Abb 4
Horst Teltschik geht weit zurück, bis zur Kuba-Krise und dem Umstand, dass sich zwei Staatschefs,  die bereits die Waffen aufeinander richteten, wieder zusammenfinden konnten. Chruschtschow und Kennedy nahmen die Stationierungen der Raketen in der Türkei und in Kuba wieder zurück. Das war im Jahr 1962, Grundlage für weitere Abrüstungs-verhandlungen. Genannt sei des Weiteren der Höhepunkt des Kalten Krieges, der sogenannte NATO-Doppelbeschluss zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. Das dagegen in Deutschland (West) viele Menschen auf die Straßen gingen, war äußeres Zeichen der gefährlichen Entwicklung des Wettrüstens, am Ende aber stand ein Vertrag namens INF. Ja, es stimmt dieser Vertrag über die Intermediate Range Nuclear Forces, die nuklearen Mittelstreckensysteme, ist der Vertrag, aus dem der heutige US-Präsident mit Ultimatum vor kurzem ausgestiegen ist. Inzwischen hat Putin den Vertrag ebenfalls ausgesetzt.

Die Politik der NATO bestand laut Horst Teltschik darin, trotz „gezeigter Stärke“ immer die Hand für Gespräche auszustrecken. Dies haben Politiker wie Brandt, Schmidt, Kohl, Reagen, Bush gegenüber Chruschtschow, Breschnew, Antropow und Gorbatschow, trotz aller Differenzen oft getan. Momentan scheint dies überhaupt nicht der Fall zu sein. Teltschik beschreibt, dass sowohl NATO wie EU, selbst Deutschland nicht mehr hinhören. Der sogenannte NATO-Russland-Rat, geschaffen für Konfliktbewältigung, wird ausgerechnet bei Konflikten durch die westliche Seite auf Eis gelegt.

In diesem Zusammenhang wird die Rolle der USA als eskalierend und die ihres Präsidenten als unberechenbar beschrieben. Dies kann man aktuell unterstreichen durch folgende Meldung im Zusammenhang mit dem G7-Gipfel in Kanada:

„Russland: Über den völlig überraschenden Vorstoß von Trump, Russland wieder in die Gruppe der großen Industrienationen aufzunehmen, gab es keine Einigung. Einzig der Neuling in der Runde, Italiens neuer Regierungschef Giuseppe Conte, unterstützte Trump grundsätzlich. Die anderen G7-Partner erwarten erst Fortschritte im Friedensprozess für die Ukraine."(4)

Abb 5
Teltschik stellt dar, dass die deutsche Bundeskanzlerin diejenige ist, die am ehesten auf Russland zugehen könnte und  begründet dies mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland seit Jahrzehnten. 

Im Jahr 1953 schrieb Bundeskanzler Adenauer  an dem us-amerikanischen Außenminister Dulles: „Eine europäische Verteidigungsgemeinschaft soll die Sicherheitsbedürfnisse aller europäischer Völker einschließlich des russischen Volkes berücksichtigen.“ (5)

Eine zweite Episode, die den Autor vor Jahren sehr beeindruckt haben muss, schildert er im genannten Spiegelartikel und im Buch:
Im Jahr 1990 ging Helmut Kohl mit Michail Gorbatschow über einen Platz einer russischen Stadt, als ihnen eine Gruppe russischer Veteranen in ordenbehangenen alten Uniformen gegenübertrat. „Sie hatten im Zweiten Weltkrieg im Kaukasus gegen deutsche Soldaten gekämpft. Sie bauten sich vor Helmut Kohl auf und ihr Wortführer sagte: ‚Deutsche und Russen müssen Freunde sein‘.“ (6)

Nur ist davon nichts zu spüren.

* * *

NATO im Osten - Abb 6
Gegenüber dem letzten Staatschef der Sowjetunion, Michail S. Gorbatschow wurde im Rahmen der 2plus4 – Verhandlungen (USA, UdSSR, Frankreich, Großbritannien – BRD und DDR) immer betont, dass es keine Osterweiterung der NATO geben soll. Auch wenn das nie vertraglich geregelt wurde und Russland nicht Rechtsnachfolger der UdSSR ist, ging auch Jelzin als erster russischer Präsident davon aus. Bezeichnend ist, dass US-Präsident Clinton Präsident Jelzin den NATO-Beitritt vorschlug. Präsident Putin dachte zu Beginn seiner ersten Amtszeit(en) ebenfalls darüber nach. Sieht man sich heute die Europakarte an, dann sieht die Weltlage anders aus.

Horst Teltschik, geboren 1940, weiß, wovon er erzählt. In entscheidenden Jahren arbeitete er mit Helmut Kohl eng zusammen. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchener Sicherheitskonferenz, eine jährlich stattfindende Tagung von Sicherheitspolitikern, hohen Militärführern und Vertretern der Rüstungsindustrie. (7) Auch wenn diese von Rüstungsgegnern und Friedensinitiativen sehr kritisch gesehen wird, ist dieses Format eines von denen, wo Politiker aufeinander zu gehen könnten. Die Rede Putins im Jahr 2007 wird immer noch als „Schlüsselmoment seiner Politik“ angesehen, aber auf der Konferenz sprach keiner den russischen Präsidenten auf seine Aussagen an. Man hat die Aussagen schlichtweg ignoriert. Es ist jetzt 12 Jahre her, seit der Russe dort erklärte:

Abb 7
„... dass man Russland und ihn ‚kaum dazu ermuntern oder drängen‘ müsse, eine aktivere Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Russland sei ‚ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können. Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern... Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbständigen Partnern zusammenarbeiten zum Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen... für alle gewährleistet ist.‘“ (8)

Sieben Jahre später annektiert er die Halbinsel Krim. Hätte das bei fortgesetzter Bereitschaft zu internationaler Zusammenarbeit mit Russland und unter diverser Berücksichtigung russischer Interessen in den Jahren davor vermieden wären können? Seit der Annexion, ist der Graben tiefer, die Sanktionen größer und, man kann es nicht genug betonen, die Aufrüstung inklusiver nuklearer Form in einem „Kalten Frieden“ (Boris Jelzin) wieder beängstigend angestiegen.

Teltschik erklärt, und das wird so manchem westlichen Politiker nicht gefallen, dass die „Interessen Moskaus im Kern defensiv“ wären. Der ehemalige russische Verteidigungsminister Sergej Ivanow hat in Bezug auf eine angebliche Bedrohung des Baltikums gegenüber dem Autor bemerkt: „Wir sind doch nicht lebensmüde. Wenn wir im Baltikum was machen würden, dann hätten wir es nicht mit den Balten zu tun, sondern mit der NATO.“ (9)

* * *

Es ist ein hoch aktuelles Sachbuch, welches Augen öffnend vor uns liegt, geschrieben von einem profunden Kenner der Politik und Weltgeschichte der letzten Jahrzehnte - selbst erlebte Geschichte. Jedoch bleiben noch zwei Dinge anzumerken:

Im Kalten Krieg gab es in Bezug auf die militärische und nukleare Hochrüstung gegenüber heute einen nicht unbeachtlichen Unterschied: Die Rüstungsbetriebe des Westens waren auf Gewinn und Verbrauch orientierte global agierende Konzerne. Profite und Rendite ergaben sich, wenn Waffen immer weiter produziert und verkauft werden konnten, an die eigene Regierung sowie an alle möglichen anderen Länder. Zwar war die Sowjetunion sicherlich auch ökonomisch an Waffenverkäufen an Länder außerhalb des Warschauer Vertrages interessiert, insgesamt aber verschluckte sich das System vor allem auch an der vorangetriebenen Hochrüstung, die immense Teile des Bruttoinlandsproduktes verschlang. Die Regierungen bekamen, anders als im Westen, schlichtweg keine Steuern von Rüstungsbetrieben, die dann für die modernen Waffen wieder ausgegeben werden konnten. Ein einziges Mal erscheint bei Teltschik das Wort „totgerüstet“ im Text. Dies war ebenso US- und NATO-Politik. Daran änderten auch die regelmäßigen Abrüstungsverhandlungen nichts. 

Abb 8
Heute, im "Kalten Frieden", sieht das anders aus. Auf beiden Seiten vollzieht sich das wieder einsetzende Wettrüsten auf ökonomisch annähernd gleichen Grundlagen. Daraus lässt sich vielleicht schließen, dass dies noch gefährlicher ist, zumal plötzlich ein NATO-Mitglied russische Waffen kaufen will. Siebzig Jahre nach Gründung der NATO beharrt die Türkei auf dem Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S 400. (10)



Dies unterstreicht einerseits die Aktualität dieses wichtigen Sachbuches und daraus erklärt sich auch dessen Titel: Russisches Roulette, wenn auch der Verfasser von dieser Entwicklung noch nichts hatte wissen können.

DNB / C.H.Beck Verlag / München 2019 / ISBN: 978-3-406-73229-4 / 233 S.

© Bücherjunge





Abbildungen:
Fußnoten


2 Kommentare:

  1. Schon beängstigend, derart hinter die Kulissen zu schauen.

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  2. Was stimmt noch, jetzt im Angesicht des Krieges in der Ukraine? Die oben angesprochene Rede des russischen Präsidenten wird jetzt vordergründig dahingehend interpretiert, dass er seine „Sicherheitsinteressen“ durchsetzen will. Da bleibt ja zu hoffen, dass S. Ivanov noch recht behält mit den baltischen Staaten, in denen wir nun wohl zeigen müssen, dass dort die NATO steht.

    Gestern lief auf Phoenix eine Dokumentation über den rasanten Aufstieg des ehemaligen Geheimdienstoffiziers zum Staatschef. Glaubt man der, dann müssten wir die damals mit Applaus im Bundestag bedachte Rede Putins im Jahr 2001, die doch etwas nach Gorbatschow klang, mit der Metapher „gemeinsames europäisches Haus“. Hätte man den Mann trotzdem abholen - können? Die politisch - wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland, die sich mit Putin ganz sicherlich nicht demokratisch-marktwirtschaftlich entwickelt haben, sprechen wohl dagegen.

    https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966

    Der Krieg wird nicht ewig andauern. Wie er wirklich ausgeht, kann wohl noch nicht eingeschätzt werden. Wie das Verhältnis zur an Rohstoffen und Atomwaffen reichen russischen Föderation aussehen wird, auch noch nicht.

    Wer spielt hier russisches Roulette? Momentan die Russen, vor allem der Präsident und seine Entourage, selbst. Und doch hoffe ich, dass Jewgenij Jewtuschenkos Хотят ли русские войны? bei den Russen nicht in völlige Vergessenheit geraten ist.

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