Donnerstag, 4. April 2019

Giampietro, Nicoletta: Niemand weiß, dass du hier bist

Eine weitere Leserunde bei Whatchareadin ist absolviert - und wieder einmal haben wir ein besonderes Debüt lesen dürfen. Dafür einmal mehr meinen herzlichsten Dank!

Bücher gegen das Vergessen - dazu gibt es schon einige Beiträge in unserem Blog. Bislang ist dies aber meines Wissens nach der erste Roman, der dabei die Geschehnisse in Italien (und Nordafrika) beleuchtet. Bei dieser Lektüre habe ich jedenfalls einiges erfahren, was mir bislang nicht bekannt war. Was es ansonsten zu diesem Buch zu sagen gibt? Lest selbst:






 Inhalt: (Quelle: Piper Verlag)

Eine große, hoffnungsvolle Geschichte über Mut und Freundschaften, die größer sind als jede Ideologie. Atmosphärisch, warm und voller erzählerischer Kraft.

Siena, 1942. Der zwölfjährige Lorenzo soll den Krieg bei seinem Großvater und seiner Tante überstehen. Noch ist es in der Toskana friedlich. Auf den weiten Plätzen der verwinkelten Stadt freundet er sich mit Franco an, der seine glühende Verehrung für den Duce teilt. Die Begeisterung bekommt erste Risse, als er Daniele kennenlernt. Daniele ist Jude. Als die Deutschen die Stadt besetzen und beginnen, jüdische Familien zu deportieren, kann Lorenzo nicht zusehen. Doch seine Entscheidung bringt nicht nur seine Freundschaft mit Franco in Gefahr, sondern auch seine Familie und ihn selbst.










DER ZWEITE WELTKRIEG IN SIENA...

 
© Anne Parden - Siena 2013
Wie der Klappentext bereits verrät, werden die Ereignisse in Siena aus der Sicht des anfangs zwölfjährigen Lorenzo geschildert. Seine Welt ist schon aus den Fugen geraten, noch bevor die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs in Siena wirklich spürbar sind. Sein Vater, obwohl eigentlich nicht kriegstauglich, wird 1942 an die Front in Ägypten versetzt, wo er - nach Lorenzos Meinung - Seite an Seite mit dem Helden Rommel kämpft. Lorenzos Mutter ist nach Tripolis in Libyen zurückgekehrt, in die Kolonie Italiens, um dort vor Ort zu versuchen, ihren Mann vom Militärdienst befreien zu lassen. Lorenzo bleibt ohne Eltern zurück in Siena, fern der Unruhen in Nordafrika - bei seinem Großvater, dem Nonno, und seiner Tante Chiara.

Während Lorenzo versucht, sich in Siena ein neues Leben aufzubauen, rückt der Krieg allmählich näher, auch wenn zunächst außer einer Lebensmittelknappheit nichts davon zu spüren ist. In der Schule wird der Ton der Lehrer allmählich rauer, jüdische Kinder tauchen im Unterricht nicht mehr auf, der Faschismus als Ideologie zeigt allmählich seine Zähne. Lorenzo selbst ist begeisterter Balilla - gemeinsam mit dem Nachbarssohn Franco verpasst er kein einziges Treffen der Jugendorganisation der Nationalen Faschistischen Partei, und beide wären gerne auf einen Schlag älter, damit sie ihrem Land wirklich dienen könnten - an der Front.

Als Lorenzo bei seinen Streifzügen durch die Stadt noch einen anderen Jungen kennenlernt, ändert sich seine Sichtweise ganz allmählich. Denn Danile Neri ist Jude. Lorenzo bekommt die Angst der Eltern vor Repressalien mit, doch vor allem der Vater von Daniele ist gleichzeitig der festen Überzeugung, dass er ein angesehener Bürger der Stadt ist und dass auf die Bewohner Sienas Verlass ist. Als Lorenzo zufällig entdeckt, dass die Familie mit den anderen jüdischen Bürgern der Stadt zusammengetrieben wird und deportiert werden soll, versucht er das Schlimmste zu verhindern. Tatsächlich gelingt Daniele die Flucht - und Lorenzo nimmt es auf sich, ihn im Haus von Zia Chiara und Nonno zu verstecken. Doch damit fangen die Probleme erst an...

In 3 Teilen wird der Roman erzählt, unterteilt in 34 Kapitel, die die Jahre 1942 bis 1945 umfassen. Abgerundet wird die Erzählung durch einen Epilog, der 21 Jahre später datiert ist. Es schließt sich noch ein kurzer Absatz mit Notizen der Autorin an, der erläutert, wie sie dazu kam, diesen Roman zu schreiben und welche realen Bezüge zu historischen Fakten und Pesonen es hier gibt. Die Familie der Autorin stammt aus Siena, und das Haus, in dem Lorenzo ab 1942 wohnt, entspricht dem Haus, das der Familie der Autorin bis 2002 gehörte.

Der Roman lässt sich flüssig lesen, wobei der Schreibstil recht einfach gehalten ist. Allerdings wirkten für mich angesichts der Ich-Erzählung des anfangs 12jährigen Lorenzo manche Schilderungen doch zu malerisch - beispielsweise die Beschreibung der Wüste in Libyen:


"Und dann war da der Sand, überall, glitzernd in der Sonne, in allen tausend Gelbschattierungen, von Silber bis Tiefgold. (...) Aus ihm wuchsen, zerklüftet und runzelig, schwarze Felsen, in denen man die Silhouetten von Riesen und Monstern aus anderen Zeiten zu erkennen meinte. Sie mochten noch so hart und mächtig aussehen, der Sand war hier der Herrscher über alles. Er meißelte und schleifte und umspülte sie, bis er sie eines Tages verschlungen haben würde. Und doch war der Wüstensand so fein, dass er sich wie Seide anfühlte..." (S. 229)


Bei der Zeichnung der Charaktere hat mir vor allem gefallen, dass die Autorin weitestgehend auf eine Schwarz-Weiß-Zeichnung verzichtet hat. Hier gibt es nicht einfach die Guten und die Bösen, sondern es ergeben sich Grauschattierungen - auf beiden Seiten. Damit charakterisiert Nicoletta Giampietro recht gelungen das Menschsein an sich - in unmenschlichen Zeiten.

Lorenzo ist hier eindeutig der Hauptcharakter, der im Laufe der Ereignisse eine große Entwicklung durchlebt und seine Kindheit letztlich hinter sich lässt. Manche Handlungsweisen, Reaktionen und Entscheidungen wirkten auf mich zwar viel zu reif und über sein Alter hinaus, aber letztlich ist er ein sympathischer Charakter, der versucht, nach Möglichkeit das Richtige zu tun - auch wenn eben nicht immer deutlich ist, was denn nun das Richtige ist. Dieses Dilemma des Jungen hat die Autorin phasenweise gut herausgearbeitet.

Lorenzo steht zwischen seinen Freunden Franco (einem glühenden Anhänger Mussolinis, der bis zum Schluss für die Ehre Italiens kämpfen will) und Daniele (dem jüdischen Jungen, der ohne seine Hilfe zum Tode verurteilt ist). Auch Lorenzos Tante Chiara scheint etwas zu verbergen - sie geht jedenfalls keineswegs konform mit den faschistischen Parolen, und zu Nonnos großem Leidwesen hält sie mit ihrer Meinung darüber auch nicht hinterm Berg. Nicht ungefährlich, wie sich letztlich herausstellt - doch sind das nicht die größten Gefahren, denen Lorenzo begegnen wird.

Nicoletta Giampietro hat hier eine fiktive Geschichte erzählt, diese aber in sorgsam recherchierte historische Gegebenheiten eingebunden. Gerade die Gegebenheiten in Italien sowie in Nordafrika zur Zeit des Zweiten Weltkrieges waren mir zuvor kaum bekannt, und so bekam ich hier sozusagen nebenbei noch eine anschauliche Geschichtsstunde. Sehr interessant fand ich auch die authentischen Schilderungen der Handlung in und um Siena - einige der geschilderten Örtlichkeiten waren mir aus einem Urlaub wohl bekannt.

Teil 1 und 2 des Romans haben mir vom Handlungsaufbau her gut gefallen. Zwar gab es zwischendurch ein paar Längen, aber die eingestreuten historischen Informationen sowie die Entwicklung der Charaktere gestalteten das Lesen trotzdem interessant. Ab Teil 3 gingen dann aber irgendwie die Gäule mit der Autorin durch. Das Bemühen, möglichst viele kriegsrelevante Themen mit einzubinden, ging hier leider zu Lasten der Handlung und ihrer Glaubwürdigkeit.

Dadurch, dass hier ein 13jähriger Junge als Hauptcharakter fungiert, wirken manche Verhaltensweisen und Entscheidungen in Extremsituationen einfach nicht vorstellbar. Und während die Autorin der Handlung in den ersten beiden Teilen viel Zeit für die Entwicklung ließ, wurde in Teil 3 alles sehr verdichtet und war letztlich in der Summe zu viel. Hier ging es nicht mehr 'nur' um den Faschismus und die Juden sowie um die Besetzung der Stadt durch die Deutschen - hier mussten noch Kriegsgräuel jeder Art Einzug finden: in Brand gesetzte Dörfer als Vergeltungsmaßnahme - mit fehlender Warnung der Bevölkerung aus 'politischem Kalkül', überambitionierte Partisanen sowie deren gnadenlose Jagd durch die faschistische Miliz, Vergewaltigungen, Folterungen...

Der alte Grundsatz: 'weniger ist mehr' hätte dieser Geschichte in jedem Fall gut getan. So entglitt mir der Charakter Lorenzos ein wenig und ich staunte nur noch, was da wohl noch alles kommen mochte. Um all diese Themen noch in die Geschichte einbringen zu können, musste der Erzählfluss entsprechend angepasst werden, so dass die Handlung letztlich sehr konstruiert und weniger glaubhaft wirkte, was ich schade fand.


"Alle behaupten, für die richtige Sache zu kämpfen. Für Italien. Für die Ehre. Für die Freiheit. Gegen die Deutschen. Was auch immer! Aber wie kann ein Verbrechen richtig sein?" - "Es ist Krieg, Lorenzo." - "Das ist zu einfach! Dann sag mir bitte, was die richtige Sache ist? Auf dem Weg der Ehre Danieles Eltern an die Deutschen ausliefern? (...) Sant' Ansano und seine Bewohner verbrennen? Oder ganze Städte bombardieren? Sag's mir, ich weiß es nicht! (...) Alles, was man uns beigebracht hat (...), all diese Werte und Wahrheiten und Ideen, alles für die Katz!" (S. 391)


Alles in allem ist dieser Roman ein vielleicht etwas überambitioniertes aber letztlich doch gelungenes Debüt, das die Gräuel und Unmenschlichkeit des Krieges herausstellt und auch den Leser mit Gedanken zu Krieg, Moral, Werten und Menschlichkeit zurücklässt, die nicht unbedingt bequem sind. Selbst Mut und Freundschaft können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es manchmal kein 'Richtig' gibt. Aber sie machen die Welt menschlicher.


"Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt." (S. 396)


Dem kann ich nichts hinzufügen...


© Parden














 Produktinformation: (Quelle: Amazon.de)
  • Gebundene Ausgabe: 416 Seiten
  • Verlag: Piper (1. März 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 349205918X
  • ISBN-13: 978-3492059183




Informationen zur Autorin: (Quelle: Piper Verlag)

Nicoletta Giampietro, geboren 1960, wuchs in Mailand in einer italienisch-französischen Familie auf. Sie studierte Politikwissenschaften und Geschichte in Mailand und Tübingen und zog 1986 endgültig nach Deutschland. Nach längeren Aufenthalten in Köln und Rotterdam lebt sie seit 1995 in Mainz. Sie spricht fünf Sprachen, ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. „Niemand weiß, dass du hier bist“ ist ihr erster Roman.


6 Kommentare:

  1. Ein Dreizehnjähriger im Krieg kann Junge und Erwachsener zugleich sein. Die Wüstenbeschreibung glaubt auch die Leserin nur dem, der dort war. Der Lorenzo blieb doch in Siena?
    FReut mich, dass wieder ein Buch "gegen das Vergessen" hier besprochen wurde.

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    1. Lorenzo blieb in Siena. Aber er ist in Libyen aufgewachsen - sein Vater hatte in der italienischen Kolonie einen wichtigen Posten inne... Deshalb kennt er die Wüste schon.

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  2. Huhu du,
    danke für deine schöne und detaillierte Rezension. Ich habe das Buch auch hier und bin schon sehr neugierig auf die Geschichte.
    Liebe Grüße, Petra

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  3. Mira hatte mir von diesem Buch erzählt und ich war bereits da Feuer und Flamme! Deine Rezi ist super und macht mir noch größere Lust, das Buch gleich zu kaufen und zu lesen! Noch dümpelt es auf meiner Wunschliste.
    GlG, monerl

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