Dienstag, 20. Februar 2024

Valencak, Hannelore: Das Fenster zum Sommer

Was passiert, wenn man eines Morgens aufwacht und stellt fest, man ist Monate in der Zeit zurück geworfen? In den letzten Monaten war so viel geschehen: Ursula hat geheiratet, das Paar hat außerhalb der Stadt ein Haus gekauft, der Garten sieht auch schon ansehnlich aus. Ein bisschen viel für sieben Monate.

„Vor dem Fenster war jedoch Nebel – ein wässriges Grau. Auf dem Fensterglas sah ich deutlich ein Eisblumenmuster. Ein eisfreier Fleck in der Mitte einer Scheibe gab den Blick auf die Äste eines Baumes frei, auf Zweige, die einen Pelz von Raureif trugen. Vor unserem Schlafzimmerfenster wuchs kein Baum. Wir hatten einen freien Blick vom Hügel über den Fluss, hin zu den grasigen Lehnen am anderen Ufer. Jetzt schaute ich in einen Hof. Ich sah durch die Zweige des Baumes eine dunkelgraue Wand, erkannte sie und wehrte mich, sie zu erkennen. So eine Mauer und so ein Baum befanden sich nämlich vor Tante Priskas Fenster.
Je wacher ich wurde, desto deutlich wurde die Szenerie, desto weniger konnte ich gleuben, was ich sah. Und jetzt kam auch noch Tante Priska zur Tür herein und sagte: ‚Willst du nicht aufstehen, Ursula?‘
Ich fragte leicht benommen: ‚Was für ein Tag ist heute?‘
Sie gab zur Antwort: ‚Der siebente Februar.‘“ (Seite 10)

Und eben noch, gestern, ging es um Sommerurlaub. Auf dem für die Reihe charakteristischen Band findet sich im Verlagstext die Frage, ob denn ein Eingriff in eine Zeitschleife möglich ist. Das muss diese Ursula herausfinden, denn sie stellt in den nächsten Tagen fest, dass da eine Kollegin noch lebt, der (zukünftige) Ehemann in anderer Stadt noch eine andere Frau ausführt und dass das gekaufte Häuschen wieder den Vorbesitzern gehört.

Im Vorwort, welches der Herausgeber Ralf Plenz der Reihe Perlen der Literatur verfasste, verweist er auf den Roman einer anderen Österreicherin, Marlen Haushofer, die mit DIE WAND. Hier ist eine Frau letztlich allein ein der Welt (fast), die untergegangen zu sein scheint, zumindest die Menschen. Auf ein Zeitparadoxon geht Haushofer nicht ein; das tut Hannelore Valencak, die studierte Physikerin, auch nicht. Hier allerdings geht es zurück in der Zeit, in DIE WAND läuft sie einfach weiter.

Das Buch trug einst den Titel ZUFLUCHT HINTER DIE ZEIT (1967), der neuere Titel erscheint ab 1977 und ist der bessere, denn Ursula wartet nun auf den Sommer, zumindest auf den Tag, an dem sie diesem Joachim in der Straßenbahn begegnete.


Die Autorin muss nun dem Leser die Wartezeit wie der Buchheldin gleichermaßen vertreiben, was ihr scheinbar weniger mit den Schilderungen der Arbeitsstelle und Tätigkeit von Ursula und den Abenden mit Tante Priska und deren Nachbarin, Frau Wurm, gelingt. Umso mehr aber schafft sie dies auf den letzten Seiten, auf den Showdown zuschreibend. Ein Wort, welches Hannelore Valencak in den sechziger Jahren sicher nicht in den Sinn gekommen wäre. Hier baut sie eine Spannung auf, die einen fast zum Vorblättern zwingt. Selten muss man sich zwingen, ein Buch im letzten Drittel aus der Hand zu legen wie bei diesem. Im letzten Drittel sind die „toten Zeiten“ endgültig vorbei...

Der Lesegenuss entsteht durch einen Schreibstil, der mir sehr zusagt, die Autorinnen und Autoren haben in der Mitte des letzten Jahrhunderts noch auf eine Art und Weise geschrieben, die heute manchmal verloren gegangen zu sein scheint.

„Das Flusstal füllte sich langsam mit Dunkelheit. Als ich auf halber Höhe war, tauchte ich in einen Nebelsee, der scheinbar den Poren der Erde entquoll und unaufhaltsam in die Höhe stieg. Der Dunst strich feuchtkalt um mein Gesicht. Ich atmete wie durch Lappen von nassem Mull. Sobald ich stehen blieb und horchte, war vom Tal her das Tosen der Birke zu hören, die zu Kräften gekommen war, weil sie Schmelzwasser führte. Ich ... überquerte den Fluss und erkannte den Uferwald an seinem schwärzeren Grau an Zusammenballungen der Finsternis das Wasser rann schnell und mit kraftvollen Rauschen dahin. Alles Streulicht der nebelverhangenen Nacht sammelte sich in einem Schein von Gischt, einem schaumigen, sprudelnden Weiß an den Brückenpfeilern...

Zugleich rann weiter flussabwärts, in der Stadt, die Birke durch hässliche Tröge aus Beton, nahm Abwässer auf und wurde von Säuren versudelt, roch stechend, giftig und ekelhaft und ließ die Fische zugrunde gehen...“ (Seite 178, 179)

Heute würde das vielleicht so geschrieben: „Das Schmelzwasser der Birke toste durch die Dunkelheit, bis es in der Stadt vergiftet wurde und ekelhaft roch, die Fische dezimierend und unessbar machend.“

Die Zeitschleife, obwohl von einer Physikerin verwendet, dient im Roman ausschließlich dafür, das Leben der Romanheldin in einer breiten Rückschau in der Gegenwart zu erzählen. Während die Familie “nur“ aus der Tante besteht, die Mutter ist ausgewandert und ein schwieriges Zusammenleben Alltag ist, scheint das Arbeitsleben der Übersetzerin ein Kaleidoskop der 60er Jahre darzustellen. Grauer Alltag, wenig Beziehungen, gegenseitiges Desinteresse. Wir sehen schnell, warum Ursula darauf sinnt, die Zeit vor zu spulen, um wieder im Sommer anzukommen. Soll sie dies nun besser aktiv oder passiv tun?

Hier zeigt sich, dass die Autorin die jungen Frauen ihrer Zeit auffordert, das Heft selbst in die Hand zunehmen, was man „nicht an eine männliche Zentralgestalt delegieren kann.“ (Vorwort) Die Zeitschleife ist der Kunstgriff, mit dem Valencak ihre Heldin in diese Richtung führt, in einer Zeit in der Gleichheit von Männern und Frauen gegenüber der Gegenwart weit weniger gegeben war.

* * *

Orange-graue Sommerblumen zieren das für die Reihe charakteristische Vorsatzpapier, was den beschriebenen Inhalt gut wiedergibt. Farbe vs. Grau. Sommer und ausgehender Winter. Die Typografie und die kalligrafischen Hervorhebungen gefallen mir in diesem Band auffallend, wobei dies für die ganze Reihe nicht von Bedeutung ist.




Der Roman wurde mit Nina Hoss in der Hauptrolle im Jahr 2011 verfilmt.



Trailer zum Film


Elisabeth Langässer: Proserpina (1932) / Gorch Fock: Seefahrt ist not! (1912) / Walter Benjamin: Einbahnstraße (1928) / Robert L. Stevenson: Die Schatzinsel (1883) / George Orwell: 1984 (1948) / Felix Timmermans: Pallieter (1916) / Heinrich Mann: Die kleine Stadt (1909) / Christian Morgenstern: Palmström, Galgenlieder (1920) / Antje Tietz-Bertram: Die Weihnachtsuhr (1988) / Franz Kafka: Forschungen eines Hundes, Der Bau (1922) Hannelore Valencak: Das Fenster zum Sommer (1967)

Buch im Film: Perlen der Literatur


© Bücherjunge (23.02.2024)

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