SRI LANKA IN DEN 90ER JAHREN...
Maali Almeida ist ein 35jähriger Laberkopf, ein trinkfreudiger Spielsüchtiger, ein promiskuitiver Schwuler, ein Kriegsfotograf für wechselnde Parteien, ein Sohn, ein Freund - und vor allem ist er tot. Das begreift er jedoch erst allmählich, als er am Empfangstresen der Verwaltung für gerade Verstorbene über die nun anstehenden Formalitäten aufgeklärt wird. Doch Maali ist noch nicht bereit für das Licht, das Vergessen und die Wiedergeburt. Er will zum einen herausfinden, wer ihn umgebracht hat und weshalb - und zum anderen will er, dass seine heimlich geschossenen und hochbrisanten Aufnahmen aus den Kriegsgebieten in einer Ausstellung veröffentlicht werden, damit die Welt erwacht und der langjährige Bürgerkrieg in Sri Lanka (u.a. zwischen der singhalesischen Regierungspartei und tamilischen Seperatisten) womöglich endlich ein Ende findet. Wie Maali erfährt, bleiben ihm für diese Aufgaben genau sieben Monde - dauert seine Mission länger, muss er als Geist für immer im Zwischenreich verbleiben.
Eines gleich vorweg: der Versuch, bei diesem Roman im Detail den Überblick zu behalten, ist gnadenlos zum Scheitern verurteilt - da hilft auch das angehängte Glossar nur bedingt. Zahllose Personen und Geister bevölkern die Erzählung, verschiedenste politische Organisationen und ihre Anführer bekriegen sich gegenseitig und jeweils mit genau den Mitteln, die sie den anderen vorwerfen, Fremdstaaten mischen sich ein:
"Die Forensiker der UN waren (...) eingeladen worden, um die örtlichen Behörden in der Identifikation von Leichen anhand von Vermisstenlisten zu schulen. Es hieß, dass gleichzeitig die CIA unsere Folterknechte ausbildete." (S. 285)
Shehan Karunatilaka schildert hier ein zerrissenes Land, einen Sumpf aus Korruption, Intrigen, Doppelmoral, Machtgier, Skrupellosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Hass - die Menschlichkeit und der moralische Kompass bleiben da komplett auf der Strecke. Dieses Verhalten spiegelt sich auch in der Geisterwelt, und Maali hat Mühe, sich da hindurch zu lavieren ohne in die Fänge einiger ganz übler Dämonen zu geraten. Ein verwirrender, unruhiger, dialoglastiger, aus ungewöhnlicher Perspektive geschriebener Roman über eine politisch haltlose Situation, in der Recht und Ordnung nichts gelten, jeder jedem misstraut und man nur versuchen kann, bei allen politischen Organisationen möglichst unterm Radar zu bleiben, weil man ansonsten womöglich schon sein Todesurteil unterschrieben hat.
All dies ist überaus bedrückend, gewaltvoll, unmenschlich - und im Gegensatz dazu agiert der Laberkopf Maali Almeida, der durch seine ungezwungene und sarkastische Art diese fürchterlichen Zustände halbwegs erträglich weden lässt. Tatsächlich mochte ich das das Schräge, Skurrile, Zynische und Sarkasitische hier sehr. Ohne diesen zynisch-sarkastischen Ton wäre die Lektüre stellenweise wohl auch kaum erträglich - immer wieder geht der Autor in seinen drastischen Schilderungen auch deutlich über Ekelgrenzen hinaus. Massaker hüben wie drüben, sinnloses Töten, alles im Namen von irgendwelchen vorgeschobenen Zielen und Werten. Abschlachten, Foltern, Verschwindenlassen. Never ending... Unfassbar und sinnlos. Dabei zeigt der Autor wie nebenher auch auf, dass beispielsweise die Weltreligionen auch keine Antwort bieten auf die drängenden Fragen oder auch nur zu einer moralischen Orietierung beitragen...
Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord. Das ist die Regel des Universums. (...) die Reichen versklaven die Mittellosen. Die Starken zermalmen die Schwachen. (S. 199)
Mir gelingt es in der Rezension irgendwie nicht so richtig rüberzubringen, dass hier im Roman bei aller Schwere der Themen doch eher eine gewisse Leichtigkeit dominiert. Maali fungiert als Erzähler, wählt dafür jedoch die Du-Perspektive (redet sich selbst als du an) und schafft damit schon einmal Distanz zum Geschehen. Gerade gegen Ende konnten mich dann jedoch trotz aller Dinstanz doch auch einige Szenen berühren. Das Verweben der realen Welt mit der Geisterwelt war für mich nur anfangs etwas befremdlich, aber vermutlich spiegelt dies den Glauben der Bevölkerung Sri Lankas wider und wirkt daher doch passend. Maali bewegt sich in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, und er kann als Geist zu jedem Ort gelangen, an dem sein Name genannt wird. Dies sorgt immer wieder für abrupte Szenenwechsel, treibt jedoch die Handlung voran.
.Für mich stellte der Roman eine große Herausforderung dar. Aber: ich habe noch nie Vergleichbares gelesen, ein verwirrendes Potpourri aus fremd klingenden Namen, Gruppierungen, Handlungen, Welten, Kriegen, Gräueltaten, präsentiert in einem zynisch-sarkastischen Ton und aus einer außergewöhnichen Perspektive. Auch wenn ich nicht behaupte, immer den Durchblick behalten zu haben, hatte ich ausreichend Vertrauen zum Autor und ließ mich einfach durch die Handlung treiben. Sicher würde man bei einem zweiten Lesen noch viel mehr Details erkennen und zuordnen können, aber auch so kann ich sagen: hier gab es für mich gleich zu Jahresbeginn ein Highlight.
Shehan Karunatilaka präsentiert hier einen außergewöhnlichen Roman, in dem sich magischer Realismus mit einer Kriminalgeschichte und einer hochpolitischen Erzählung über den Bürgerkrieg in Sri Lanka verbindet. Hierfür erhielt er 2022 den Booker Prize. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!
© Parden
Rezension mit Hindernissen. Das lasse ich demnächst eine folgen.
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