Mittwoch, 13. September 2023

Edvardson, Cordelia Marie: Gebranntes Kind sucht das Feuer

Vor einigen Wochen stieß ich auf ein Hörbuch, welches in Kürze und vor allem ungekürzt herauskommen sollte. Der Begleittext zu GEBRANNTES KIND SUCHT DAS FEUER wies auf die Deportation eines 14jährigen Mädchen über Theresienstadt nach Auschwitz hin. Der Roman, den das Mädchen als erwachsene Frau schrieb, würde eine „schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter“ sein. 

Cordelia heißt das Mädchen und ihre Mutter ist die bekannte Schriftstellerin Elisabeth Langgässer

Eindeutig ein Buch gegen das Vergessen, von denen so einige hier im Blog bereits besprochen wurden. Doch mit der Nennung des Namens Langgässer wurde mein Interesse vor allem geweckt, hatte ich doch vor einem knappen Jahr deren Roman PROSERPINA – EINE KINDHEITSMYTHE aus der Reihe Perlen der Literatur gelesen und auch darüber geschrieben. Grob kannte ich also deren Geschichte. „Christlich orientiert, der Tradition christlicher Mystikerinnen nahestehend“ so steht es zu Beginn des Wikipedia-Artikels. 

Im Vorwort zu PROSERPINA schreibt Charlotte Ückert, dass die mystisch, dunkle Sprache, teilweise voller unterschwelliger Erotik den belesenen Menschen im Jahre der Veröffentlichung, 1932, besser bekannt war: an den bürgerlich-humanistischen Gymnasien und Lyzeen wurden lateinische und griechische Originale im Original gelesen. Proserpina (Persephone – Tochter von Zeus und Demeter) ist ein Mädchen, welches in einem unheimlichen Garten lebt...

Den Link zur Tochter Cordelia im Wikipedia-Artikel hatte ich nicht beachtet...

Und nun dieser Hinweis in einem Facebook-Post...

Cordelia Marie wurde als uneheliche Tochter der Elisabeth Langgässer und des deutschen Staatsrechtlers Hermann Heller, welcher jüdischer Abstammung war, im Jahr 1929 in München geboren. Es war nur eine kurze Beziehung. Da die Mutter selbst als Halbjüdin galt, der Großvater Cordelias, der katholische Baurat Langgässer war ebenfalls jüdischer Herkunft, galt Cordelia unter den Nationalsozialisten als „Volljüdin“. 

Was das bedeutete, erzählt die spätere schwedisch-israelische Journalistin in ihrem Buch. Es stimmt, ein großer Teil des 147 Seiten starken Buches behandelt die Beziehung von Mutter und Tochter und hier wird es durchaus etwas kompliziert.

Elisabeth Langgässer war eine tief religiöse Christin, die jüdische Herkunft, geschweige denn die jüdische Religion spielte im Leben der inzwischen erfolgreichen Schriftstellerin eher keine Rolle. Sie soll im März 33 auch Hitler gewählt haben, wie so manche Menschen, die ihre Herkunft vor allem als „preussisch-deutsch“ definierten: Beamtenfamilien, Offiziere des Weltkrieges, Juristen, Ärzte...

Die Ernüchterung dürfte spätestens eingetreten sein, als sie 1936 aus der Reichsschrifttumskammer  ausgeschlossen wurde und ihr Ehemann, der Redakteur Wilhelm Hoffmann, seine Arbeit verlor, weil er an der Ehe mit der „Halbjüdin“ fest hielt. Schon eine solche Entscheidung bedurfte bestimmt einigen Mutes. Zu diesem Zeitpunkt war Cordelia, sieben Jahre alt und kam in die Schule.

In ihrem Buch erzählt sie, dass sie wie die anderen Mädchen auch zu den Jungmädel wollte, in den Bund Deutscher Mädchen (BDM), aber natürlich nicht konnte. Verstanden hat sie das zu Beginn nicht, ihre Erziehung war eine ohne jüdische Traditionen, christlich und deutsch geprägt.


Die Beziehung zur Mutter dürfte eng gewesen sein und Proserpina war ihr wohl bekannt. Das Mädchen, das in einem dunklen, mystischen aber auch bunten Garten lebt und wandelt: Die Mutter, so die Autorin, las ihr häufig aus diesem schweren Werk vor. Proserpina ist in den Gedanken der Tochter an die Mutter vermutlich tief verankert gewesen.

"Um keinen Preis wollte sie eine der leuchtenden Gelegenheiten verpassen, wenn die Mutter sich offenbarte, in ihr Leben vordrang. Im Zauberkreis der Mutter wurden die Welt und das Kind wirklich und lebendig. Das Wort wurde Fleisch in den von der Mutter erzählten Märchen, in den Versen, die sie manchmal zusammen dichteten, selbst in den Auszügen aus dem nächsten Roman der Mutter, die sie der Vier- oder Fünfjährigen vorlas. Das Kind öffnete sich, wurde überströmt, erfüllt und berauscht vom Geschmack und Duft, von der Farbe und Form der Worte. Und im späteren Leben des Mädchens wurde seine Erfahrung bestätigt, dass man von den Worten der Dichtung buchstäblich leben und sich ernähren kann." (C. Edvardson - Seite 15)

Diese "schauerliche Parallele" - Cordelia wird in Auschwitz mit einem realen Totenreich konfrontiert, Proserpina mit einem fiktionalen (Charlotte Ückert), wird mit ihrer Darstellung im Buch eindrücklich bestätigt. 

 

Die immer schärfer werdenden Regeln nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze werden im Roman von 1986 der Cordelia Edvardson fast chronologisch erzählt.
Zuerst lebt Cordelia erst bei Großmutter, Mutter und Onkel in Berlin, dann ab 1935 bei der Mutter und Stiefvater. Als uneheliche Tochter hatte sie es schon mit der Großmutter nicht leicht und das Leben wurde immer schwerer.
Der Verweis von der Schule, die Kennzeichnung von Häusern, in den Juden lebten, das Tragen des gelben Sterns später... Cordelia muss zu Hause ausziehen, sie schläft woanders, damit die Wohnung des Stiefvaters nicht gekennzeichnet wird. 

Die Eltern wussten im Jahre 1943 natürlich, was den Juden bevorstand, die Vernichtungsmaschinerie, beschlossen auf der (geheimen) Wannseekonferenz im Januar 1942 als „Endlösung der Judenfrage“, lief an und die Deportationen wurden allgegenwärtig. Daher versuchte die Mutter, die Tochter von Spaniern adoptieren zu lassen, in der Hoffnung, dass die doppelte Staatsbürgerschaft, zudem die eines „befreundeten“ Staates, sie rettet. Und das klappte ja fast, den gelben Stern kann die kleine „Spanierin“ erst einmal ablegen. 

Doch dann kommt das Ereignis, welches vor allem in der Rezeption des Buches der Cordelia Edwardson sehr stark hervorsticht: Die Geheime Staatspolizei lädt die Vierzehnjährige und die Mutter vor. Das Mädchen soll unterschreiben, dass sie nicht ausreist, dass sie sich als Jüdin bekennt, andernfalls würde auch die Mutter verfolgt werden. So schildert es Cordelia in ihrem Buch dreiundvierzig Jahre später. Mutter und Tochter sind sprachlos... Und das Mädchen unterschreibt...

Hat Elisabeth Langgässer ihre Tochter verraten? Was hätte sie tun sollen? Die Möglichkeit, sich, statt der Tochter deportieren zu lassen, hätte die der Tochter geholfen? Ich denke, ganz sicher nicht. Hätte sich das Mädchen gewünscht, dass die Mutter sich dem Beamten verzweifelt vor die Füße wirft? Der Eindruck, dass sie verstand, was diese Unterschrift bedeutet, entsteht beim Lesen und Hören durchaus. Auch bestätigt die Tochter in ihrem Buch das Entsetzen, das aus den Augen der Mutter spricht. Für Elisabeth Langgässer, war Cordelia der Proserpina sehr ähnlich geworden.

Im Nachwort schreibt Daniel Kehlmann im Zusammenhang mit der Verleihung des Elisabeth-Langgässer-Preises an ihn dann in Bezug auf die Vorladung zur Gestapo:

„Was dann passiert liest man mit einem Grauen, was schwer in Worte zu fassen ist.“

Würde das Mädchen nicht unterschreiben, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft behält, sich den Gesetzen unterwirft, einschließlich Deportation, würde die Mutter strafrechtlich zur Verantwortung wegen einer illegaler arrangierten Adoption gezogen werden. Cordelia / Proserpina schützt nun die Mutter...

Warum erwähne ich das noch einmal? Weil das Nachwort, gelesen von Ullrich Noethen, eindringlich noch einmal unterstreicht, was wir gerade gelesen oder gehört haben. Einerseits. Andererseits ist die Frage, welche Sanktionen die Mutter getroffen hätten, wenn sie dem Vorgang nicht zustimmte, meines Erachtens überflüssig. Es kann nicht angenommen werden, dass beide ohne Deportation und Konzentrationslager wieder nach Hause hätten gehen können. Außerdem, wir wissen es nicht. 

Wer sind wir heute, die Mutter zu verurteilen, die inzwischen verstanden haben dürfte, dass ihr Katholizismus, ihre schriftstellerischen Erfolge, keinen Wert mehr hatten, die ihre Tochter versucht hatte zu retten, so wie andere ihre Kinder schon lange vorher nach Dänemark oder Großbritannien hatten reisen lassen? Können wir sie wirklich als narzistisch, als egoistisch bezeichnen, wie Daniel Kehlmann?

Cordelia Edwardson wurde später bei Lesungen immer mal wieder gefragt, ob sie ihre Mutter hasst. Sie verneinte dies stets unter Hinweis, dass das System das Hassenswerte gewesen sei. Im bereits erwähnten Vorwort zur Neuauflage von PROSERPINA aus dem INPUT-Verlag wird erwähnt, dass sich die Mutter durchaus gefragt hat, ob sie ihre Tochter begleiten soll, aber sie hatte ja auch noch jüngere Töchter.

Die Autorin berichtet vom „Überleben um jeden Preis“, dies beginnt schon im jüdischen Krankenhaus in Berlin, indem sie arbeitet bis zur Deportation nach Theresienstadt und weiter nach Auschwitz. Als Überlebende ist ihr Bericht der einer eindringlichen Augenzeugin, auch wenn er „nur“ noch ein Jahr beinhaltet.

Das Jahr aber trennt sie von der Mutter. Nach Ankunft in Auschwitz „weint sie noch einmal, wie sie nie wieder weinen würde“: Ein Bild der Mutter versteckt unter der Kleidung kommt ihr noch einmal vor die Augen.

Und so kann ich dem Text des Hanser-Verlages, "Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter", die sich ihrer Tochter selber rettete, nicht zustimmen

Cordelia wird mit den weißen Bussen nach der Befreiung nach Schweden gebracht. Sie wird heiraten, arbeitet Jahre als Journalistin in Israel. Sie hat den Roman drei Müttern gewidmet, der deutschen, einer schwedischen und einer israelischen.

Nina Kunzendorf hat diesen Text sehr eindringlich gelesen. Besonders die vermeintlich langen Pausen zwischen den Absätzen erhöhen die Wirkung. Die Sätze gehen gleich weiter „hinter die Ohren“. Eine Erschütterung folgt der nächsten. Erst, weil die Leserin und der Leser ahnen, was kommen wird, und dann, wenn die Geschehnisse im Vernichtungslager so wie Schüsse fallen. Einer nach dem anderen. 

Elisabeth Langgässer stirbt bereits 1950. Im Jahr 1949 und  haben sich Tochter und Mutter noch einmal getroffen. Die Mutter dachte, sie könnte aus den Erlebnissen der Tochter noch einen Roman machen. Cordelia verweigert sich der Mitarbeit. 


War es den beiden nicht vergönnt, sich wieder anzunähern? Die wenigen Jahre bis zum Tode der Mutter, die an Multipler Sklerose litt, waren sicher zu kurz für die nun zwanzigjährige Cordelia, und Elisabeth flüchtete sich in das Schreiben in der Nachkriegszeit, durchaus erfolgreich und geehrt. 

Erfolgreich schreibt auch die Tochter, sie schreibt sich das eigene Erleben wohl von der Seele, wie man so sagt. Mit diesem Buch und DIE WELT ZUSAMMENFÜGEN (Hanser 1989) und JERUSALEMS LÄCHELN (Hanser, 1993). 

Im Jahre 2012 stirbt sie in Stockholm im Alter von dreiundachtzig Jahren. Ein Stolperstein findet sich vor dem Haus in der Berliner Eichkamp-Siedlung, indem sie mit Mutter und Stiefvater wohnte. Für DAS GEBRANNTE KIND... erhielt sie den Geschwister-Scholl-Preis.

Ein Hörerlebnis? Ja. Gespickt mit Grauen. Durchaus. Gegen das Vergessen. Natürlich.

* * *

PS: Der schwedische Regisseur Stefan Jarl hat einen Dokumentarfilm über Cordelia Edwardson geschaffen. Auf Deutsch und überhaupt war der nicht zu finden. Eine Reihe YouTube-Beiträge gibt es mit der Autorin, auf Deutsch ist nichts dabei. Schade.

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PPS: Verlagstext - Hanser:

Cordelia Edvardsons Roman ist „eines der großen Werke der Holocaust-Zeugenschaft“. (Daniel Kehlmann) – Eine literarische Wiederentdeckung

"Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte."

Cordelia, unehelich geboren, ist eine "Dreivierteljüdin", ihre Mutter eine berühmte Schriftstellerin und glühende Katholikin. Im entscheidenden Moment schützt diese nicht ihre Tochter, sondern rettet sich selbst. Mit 14 Jahren wird Cordelia Edvardson nach Auschwitz deportiert.

Ihr Roman ist die schmerzhafte Annäherung an den Verrat durch die eigene Mutter, die tastende Suche nach einer Identität, der Versuch, dem Grauen der Vergangenheit ungeschützt ins Gesicht zu sehen.

©2023 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. Übersetzung von Ursel Allenstein. (P)2023 Argon Verlag AVE GmbH

  • DNB / Argon - Verlag / ISBN: 978-3-7324-0923-5 / 3 h 52 Minuten
  • DNB / Hanser - Verlag / 978-3-446-27756-4 / 144 Seiten
  • Die Übersetzung aus dem Schwedischen besorgte Ursel Allenstein

©️ Der Bücherjunge (14.09.2023)



2 Kommentare:

  1. Auf den Roman bin ich schon aufmerksam geworden, er rückt auf der Wunschliste nun ein wenig höher. Eine sehr aussagekräftige Buchbesprechung!

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