Samstag, 24. September 2022

Pfützner, Uta: Die Hölle misst 1000 Kilometer

Manchmal sind es die Geschichten hinter den Büchern, die einen aufhorchen lassen, so dass man unbedingt wissen will, wie die Geschichte ausgeht. Die Geschichte in diesem Fall hier ist eine Novelle und die hat einen realen Hintergrund. Doch war es zunächst das Cover, welches mich an einem Stand mit Fantasyliteratur der Dresden (er)erlesen am 11. September 2022, stutzen und halten ließ. Zwei gekreuzte Infanterie-Karabiner und ein Stahlhelm der Deutschen Wehrmacht.

Hinter dem Stand saß die Autorin, Uta Pfützner und erzählte vom Entstehen dieses schmalen Heftchens.

Ihr Großvater berichtete nie viel vom Krieg und viele Jahre hatte dies auch Gründe. Als er viel zu zeitig starb, fand sich im Haus unter den Dielen sein Kriegstagebuch. Der Vater der Autorin las ihr aus dem Tagebuch vor, denn wie so oft fällt es unserer Generation schwer, die Handschriften unserer Groß- und Urgroßeltern zu entziffern.

Uta Pfützner entschloss sich, die Erlebnisse ihres Großvaters in Form einer Novelle zu veröffentlichen. Der Titel ist bezeichnend und man ahnt, um was es geht. 


Die eintausend Kilometer lange Hölle des Majors Heinz Spoeck führt von Ostpreußen zurück in die Heimat. Jedoch ist es kein militärisch mehr oder weniger organisierter Rückzug im Bestand der deutschen Wehrmacht oder des Infanteriebataillons, in dem der Major diente.

Inhalt. Die Novelle beginnt in Stettin, wo das Infanterie-Ausbildungsbataillon stationiert ist. Hauptmann Spoeck trägt als Kompaniechef die Verantwortung für die Ausbildung mehrerer Züge eingezogener Soldaten im September 1943. Er steht in Konkurrenz zu einem weiteren überehrgeizigen und brutalen Ausbilder namens Wont. Die Unterschiede in der Art und Weise der Ausbildung werden schnell offensichtlich, der Hauptmann scheint bei Zugführern und Mannschaften einen guten Stand zu haben. Umsichtige Führung lässt Übungen zu Gunsten Spoecks ausgehen. Der etwas saloppe Umgang mit den Untergebenen wird von Wont dem Bataillonsführer hinterbracht.

Im September 1943 stockt der Vormarsch der Wehrmacht im Osten fest und so wird auch das pommersche Ausbildungsbataillon an die Front befohlen, allerdings wird es erst im April 1944 nach Königsberg in Ostpreußen verlegt. Während der Fahrt werden Gleise gesprengt und in der Nähe der weißrussischen Grenze treffen sie auf den Gegner, erleben Beschuss, Verwundung und Tod. Im nächsten Monat wird Spoeck wegen professioneller aber unkonventioneller Lagebeurteilung und effektivem Einsatz seiner Kompanie zum Major befördert. Der Protest (?) von Wont verhindert das nicht. 

Bei Kiddeln, in der Nähe des Packledimmener Moors, endet der Weg des Majors und eines seiner Züge, nachdem Wont eine polnische Frau mit Baby auf dem Arm, die ihm gegenüber nicht deutsch sprechen will, erschießt. Die lakonische Bemerkung, dass er sie ja vorher noch hätte f... können, legt bei Spoeck endgültig einen Schalter um: Wont wird von Spoeck erschossen. Ihm und die ihn umgebenen Soldaten ist klar, das bedeutet Kriegsgericht. Und so begibt sich der Zug unter Führung des Majors in Richtung Heimat. Von Kiddeln bis Brandenburg / Mecklenburg überwinden sie rund 1000 Kilometer. 



Kiddeln / Ostpreußen


Der Trupp umgeht Dörfer, vermeidet Truppenbegegnungen, verpflegt sich aus verlassenen Gehöften und Häusern, nur einmal können sie einem Verpflegungstrupp einen Kübel Suppe stibitzen. In der Nähe der heutigen deutsch-polnischen Grenze finden sie eine aktuelle Gefechtskarte, das hilft ihnen, weiterhin unentdeckt zu bleiben.

Sie schaffen es tatsächlich bis nach Hause und zehn Jahre später treffen sich die Männer in einer Kneipe am Stadtrand von Demmin.

* * *

Zur Novelle. Der Schwerpunkt liegt sicherlich auf dem zweiten Teil, dem die Novelle ihren Titel verdankt. Während die Monate in Ostpreußen an der Front ziemlich schnell verarbeitet werden, können wir den Marsch schon eher nach dem „Kalender“ verfolgen.  Die Strapazen, denen sich die Soldaten aussetzen, werden in der Beschreibung deutlich. Bilder über Lagerstätten, verlassene Dörfer, karges Essen entstehen vor den Augen des Lesers. Sie lassen keinen zurück, Verletzungen und Krankheiten, unvermeidlich im Winter unter diesen Bedingungen, werden nicht zum Hindernis. Die Soldaten sind gut ausgebildet und haben für diese Aktion den richtigen Führer und vor allem, sie vertrauen dem Major. 

Die „Übersetzung“ des Tagebuches dürfte an wenigen Stellen an örtliche und „militärische“ Grenzen gestoßen sein. So wird der Widersacher des Spoeck immer als Hauptfeldwebel bezeichnet, obwohl er Offizier gewesen sein müsste, hat er doch dieselben Aufgaben wie Hauptmann Spoeck. Zudem dürfte sich ein Hauptfeldwebel, in der Regel ein Portepee-Unteroffizier, kaum auf diese Art und Weise im Ton gegenüber Offizieren vergriffen haben. Auch als "Kriegsoffiziersanwärter" und Fahnenjunker (Offiziersanwärter) ist das kaum vorstellbar. Welche Funktion die höheren Offiziere hatten, wird ebenso nicht deutlich.

Die Marschstrecke am Ende nachzuvollziehen war etwas schwierig. Einmal in Forst Peelitz angekommen, brauchten die Soldaten, die sich inzwischen mit Zivilkleidung versehen hatten, nicht mehr über die Oder. Der Übergang über den Fluss wäre vielleicht interessant gewesen.


Der Marsch der Soldaten ist nur grob angegeben und orientiert sich an den genannten Orten.


Gewiss wollte die Autorin am vorliegenden Text inhaltlich wenig verändern. Da letztlich aber nicht das Tagebuch des Großvaters gedruckt, sondern eine Novelle darüber geschrieben wurde, hätten ein paar, (vielleicht) im Text unschlüssige erscheinende, militärische Begriffe angepasst werden können. Zusätzlich hätten die Orte, die die Männer passierten, in einer Art Glossar mit den heutigen Namen benannt werden können.

Trotz dieser Kritik werden Leserinnen und Leser unbedingt verstehen, warum die 1000 Kilometer die Hölle gewesen sind. 

* * *

Fazit Einen solchen Kriegsbericht hatte ich bisher noch nicht gelesen. Dass der Großvater der Autorin das Tagebuch versteckte, ist verständlich. Wäre die sowjetische Militäradministration auf den Fall gestoßen, hätten vermutlich umfangreiche Untersuchungen, Haft, Deportation oder Tod gedroht, denn dass sich ein Trupp Wehrmachtssoldaten auf diese Art und Weise bis in die Heimat „zurückzieht“, wäre auf Unglauben gestoßen. Soldaten, die sich einem verbrecherischen Krieg entziehen, konnten in der Heimat nicht auf Verständnis hoffen, außerhalb oder gar innerhalb der Familie. Dies galt auch noch Jahre nach Kriegsende; darum hat die Autorin die Namen der handelnden Personen verändert.

Es muss eine sehr vertraute Einheit gewesen sein, wenn des Majors Tat nicht verraten wurde. Und die Führung, das sei wiederholt, muss wirklich hervorragend gewesen sein, denn zu erwarten war doch, dass die Heeresgruppe diese Flucht verfolgen würde. Nicht auszudenken, die Soldaten wären einer Einheit Waffen-SS direkt in die Arme gelaufen, doch hätte auch die Wehrmacht für ein Feldgericht und anschließender standrechtlicher Erschießung gereicht. Zum Schluss gehört auch ein wenig Glück dazu und der Umstand, dass der Rückzug der Wehrmacht in Angesicht der sowjetischen Fronten reichlich ungeordnet war. Dass der Trupp nicht von der Front überholt wurde, lag wohl einzig und allein daran, dass die Rote Armee nach der langen Weichsel-Oder-Offensive erst den Nachschub für den Sturm auf Berlin neu organisieren musste.

Da waren Major Heinz Spoeck und seine Männer schon daheim und Spoeck nahm seinen noch nicht ein Jahr alten Sohn auf den Arm, für den er einen Wunsch im Tagebuch notierte:

"Ich bete zu Gott, dass mein Sohn niemals in einen Krieg ziehen muss!"

Mit Interesse und Spannung las ich das schmale Heft und bin froh, an einem Fantasy-Stand angehalten zu haben, was mir sonst eher selten passiert. 



  • DNB / Selbstverlag / 2022; 2016: ISBN 978-3-7418-1056-5 

© Der Bücherjunge

6 Kommentare:

  1. Danke, dass du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast. Man kann sich kaum vorstellen, was die Männer durchgemacht haben und wie viel Angst, entdeckt zu werden, auf der Flucht ihr Begleiter gewesen sein muss. Vom Cover her hätte ich vermutlich nicht zu dem Buch gegriffen. Umso wichtiger, dass über Rezensionen darauf aufmerksam gemacht wird. Ich merke mir das Buch auf jeden Fall mal.
    Viele Grüße und ein schönes Wochenende
    Yvonne

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    1. Freut mich. Für mich war der doch recht ausführliche Kontakt mit der Autorin zu "Detailfragen" sehr interessant. Grüße zurück und schönes Lesen.
      Uwe

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  2. Weshalb wurde das Buch an einem Fantasy-Stand angeboten? Das ist doch alles andere als Fantasy? Krieg ist immer immer Mist - und den Wunsch von Spoeck für seinen Sohn kann ich absolut nachvollziehen. Eine ganze Generation im kollektiven Trauma, länderübergreifend.

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    1. Die Autorin schreibt Fantasy-Bücher. Und dieses sehr persönliche Buch, lag dabei, weil sie auf der Dresden(er)lesen den Stand des Verlages mit betreute. Das Heft entstand im Selfpublishing. Im April kam der erste Roman heraus, inzwischen sind es vier. Den hier würde ich mir sogar "antun".
      Viele Grüße an den Niederrhein.

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  3. Gemeinsam mit Uta Pfützner habe ich nun unter Nutzung von Wikipedia und alten Kartenbildern den Weg der Truppe noch etwas besser nachvollziehen können. In Buchholz-Mühlenbeck, im Text erwähnt, haben die Männer in einem verlassenen Herrenkleidungsgeschäft Zivilkleidung gefunden. Beide Ortsnamen habe ich auf alten Kartenbildern gefunden, aber nicht zusammen.
    Dabei fiel dann noch auf, dass die Männer auf Kriegsschäden (Artillerie oder Bomben?) trafen. Der Frontverlauf war wohl ziemlich unübersichtlich, denn die Schlacht an der Oder stand erst noch bevor. Wahrscheinlich ist aber, dass Stettin Ziel von Bombenangriffen war.
    Welch umfangreiche Recherche für dieses schmale Heft.

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