DIE SCHATTENSEITEN DER VIRTUELLEN WELT...
Dass Social Media nicht nur positive Seiten hat, dürfte jedem klar sein, der sich auf Plattformen wie Facebook, Instagram, Linkedin, Tiktok & Co. angemeldet hat. Wem sind nicht schon einmal schräge Kommentare aufgestoßen oder verstörende Bilder, Spam mit fragwürdigem Inhalt oder Statements, die mit dem eigenen moralischen Kompass nicht vereinbar sind? Nun, für solche Fälle haben die Plattformen vorgesorgt. Mit einem Klick kann man den betreffenden Beitrag melden, und schon sind die Moderatoren im Hintergrund gefragt. Löschen oder nicht? Doch das ist nicht so einfach wie man denkt.
"Immer lautete die Frage: Darf der vorliegende Beitrag auf der Plattform stehen bleiben? Und wenn nein, warum nicht? Letztere war dabei die schwierigere Frage. Ein Text wie 'alle Moslems sind Terroristen' war nach den Standards der Plattform verboten, denn Muslime sind eine GG, eine 'geschützte Gruppe', wie Frauen, Lesben und Schwule (...) 'Alle Terroristen sind Moslems' ist dagegen erlaubt, denn Terroristen sind keine GG, und 'Moslem' ist außerdem keine Beleidigung. Ein Video von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist nur dann erlaubt, wenn es nicht aus grausamen Motiven geschieht, ein Foto von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist immer erlaubt. (...) Einem Pädophilen den Tod zu wünschen, ist erlaubt, einem Politiker nicht, ein Video von jemandem, der sich in einem Kindergarten in die Luft sprengt, muss gelöscht werden, aufgrund des Verbots terroristischer Propaganda, nicht etwa, weil es sich um Gewalt oder Kindesmisshandlung handelt." (S. 15 f.)
Ehrlich gesagt fand ich es immer beruhigend, dass da im Notfall jemand ist, der sich der fragwürdigen Inhalte annimmt und dafür sorgt, dass sie nicht weiter verbreitet werden. Aber ich habe nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie das sein muss, tagtäglich mit übelsten Bildern, Videos und anderen Inhalten konfrontiert zu werden. Wie lange kann man das aushalten? Und was macht das mit einem? Verschiebt das womöglich auch den eigenen inneren Kompass?
Diesen Fragen widmet sich Hanna Bervoets in ihrem Kurzroman. Sie lässt die junge Kayleigh zu Wort kommen, die einem Anwalt in Form eines Briefes von den Arbeitsbedingungen bei HEXA berichtet, vor allem aber von ihrer persönlichen Geschichte. In locker-rotzigem und wenig emotionalen Ton erfährt der Leser / die Leserin viel über die Hintergründe der Arbeit hinter den Kulissen der Social Media Plattform, begreift aber auch zunehmend, dass diese Konfrontation mit dem Müll der Menschheit nahezu zwangsläufig nicht folgenlos bleibt für diejenigen, die sich damit befassen müssen.
Kayleigh sieht zuallererst die Veränderungen der anderen Mitarbeiter:innen aus ihrer Gruppe, bis sie schließlich über sich selbst erschrickt: "Was um Himmels willen mache ich hier?" (S. 107), so der pointierte Schlusssatz.
Mit der gewählten Form des Kurzromans verzichtet die Autorin bewusst auf ausgefeilte Charaktere. Sie zeichnet eher archetypische Figuren, von denen sich keine den langfristigen Folgen der Arbeit bei HEXA entziehen kann. Stress, Schlafstörungen, psychische und körperliche Zusammenbrüche, Depression, Verschwörungstheorien, Schuldgefühle, traumatische Belastungsstörung u.a.m. Nicht umsonst widmet sich in dem Roman ein Anwalt diesen Arbeitsbedingungen.
Ein verstörender Roman über ein verstörendes Thema, vor dem wir leicht(fertig) die Augen verschließen können. Es definitiv aber nicht sollten. Ein Buch wie ein Paukenschlag.
© Parden
- Herausgeber : Hanser Berlin; 1. Edition (25. Juli 2022)
- Sprache : Deutsch
- Übersetzung :
- Gebundene Ausgabe : 112 Seiten
- ISBN-10 : 3446273794
- ISBN-13 : 978-3446273795
- Originaltitel : WAT WIJ ZAGEN
Hallo Anne,
AntwortenLöschendas hört sich aber sehr spannend an, was du erzählst. Ich glaube, dass es schwierig ist, damit fertig zu werden, wenn man sich tagtäglich diese Bilder und Videos ansehen muss. Ich glaube aber auch, dass die Entscheidung, welche Bilder und Videos gelöscht werden müssen teilweise schwierig ist. Warum ist es in Ordnung, wenn man einem Pädophilen den Tod wünscht, aber nicht, wenn man es gegenüber einem Politiker tut? Beide sind Menschen. Ich könnte das nicht.
Danke für das Vorstellen dieses Buches
LG
Yvonne
Hallo Yvonne,
Löschenvielen Dank für deinen freundlichen Kommentar hier! Ja, es ist definitiv ein interessantes Buch, das zum Nachdenken anregt. Und nein: ich könnte das auch nicht. Man verdient wohl gut - aber wie hoch ist der persönliche Preis?!
Liebe Grüße,
Anne