COMING-OF-AGE IN DER ZERFALLENDEN SOWJETUNION...
"Wie die meisten Russen hatten wir die Sowjetunion nie
verlassen, und alle fremden Städte waren für uns so weit weg und so
unerreichbar wie der Mond. Wir konnten nicht ahnen, dass der Eiserne
Vorhang bald fallen würde oder dass der Rest der Welt anders war und
nicht von denselben brutalen Reglementierungen beschränkt wurde oder von
der jahrelangen eisernen Faust eines Diktators.“ (S. 15)
Anja Ranewa und Milka Putowa sind von Kindesbeinen an beste Freundinnen und wachsen in der Sowjetunion der 80er Jahre auf. Sie verbringen viel Zeit zusammen, meist in Milkas Wohnung, weil sie dort oft ungestört sind, oder aber in den Schulferien in der Datscha von Anjas Familie. Als aus kindlichen Spielen andere Interessen erwachsen, bleiben die beiden Mädchen Freundinnen, was sich auch durch das Hinzukommen der beiden Klassenkameraden Lopatin und Trifonow nicht ändert.
Anja ist das besonnenere der beiden Mädchen, ihre Eltern sind beide berufstätig und machen sich häufig Sorgen um die politisch-gesellschaftliche Entwicklung. Vor allem der Vater scheint zuweilen seinen Mut zu verlieren. Die Eltern diskuieren häufig kontrovers, äußern ihre Meinung aber meist nur innerhalb der eigenen vier Wände. Außerdem gibt es da die Großmutter, die durch ihr Wissen und ihre Geschichten Anjas Kindheit prägt. Anja ist sehr gut in der Schule, bewundert aber gleichzeitig ihre Freundin.
Milka kommt aus einfachen Verhältnissen und ist die impulsivere der beiden Freundinnen, nimmt kein Blatt vor den Mund, ist oftmals ziemlich vulgär und dabei viel belesen. Mit ihren Eltern hat sie weniger Glück, doch sie redet kaum über das, was in ihrem Zuhause vorfällt. Doch dass Milka dort nicht glücklich ist, merkt Anja immer wieder. Nur in den langen Sommerferien in der Datscha von Anjas Eltern blüht Milka wirklich auf.
"Mir fiel ein, dass Milka einmal gesagt hatte, einen alten Menschen zu berühren, mit seinen verdrehten, knotigen Gliedern und einer Haut wie trockene, schuppige Rinde, sei, als berühre man einen alten Baum. Sie hatte aber auch noch gesagt, meine Großmutter zu umarmen sei, als umarme man einen alten, geliebten Roman, dessen Geheimnisse und Weisheit man auf jeder Seite einatmet." (S. 100 f.)
Manche mögen sagen, dass die politischen Themen in dem Roman deutlicher hätten erörtert werden können. Oftmals werden hier die Wechsel der Staatsoberhäupter der Sowjetunion nur kurz angerissen, ebenso wie die Veränderung der Weltpolitik. Sämtliche Anmerkungen zur Situation in der Sowjetunion sind in die Erzählung eingestreut und eingewoben, häppchenweise und eng mit dem Leben der Personen verknüpft. Sehr präsent dagegen sind die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und dessen Auswirkungen für Anjas Familie, und konsequent hält sich das Bild von den bösen Deutschen. Ein generationenübergreifendes Trauma.
Für mich passte es aber, dass die politischen Themen hier nicht mehr Gewicht erhielten, denn im Grunde handelt es sich bei dem Buch um einen Coming-of-Age-Roman, und die Agierenden schlagen sich mit den Sorgen und Sehnsüchten ganz normaler Jugendlicher herum. Jedenfalls bis eine Tragödie einschlägt wie eine Bombe. Die Auswirkungen der politischen Verhältnisse spiegeln sich jedoch in den Schilderungen des Alltags, in der ewigen Armut, der Zweiklassengesellschaft, dem Machtmissbrauch, der Ohnmacht, den Ängsten, den Zweifeln.
"Man kann nicht in einer Gesellschaft leben und frei von ihr sein." (S. 200)
Die Veränderungen durch und Auswirkungen der Perestroika werden nicht direkt beleuchtet, da kurz davor in der Erzählung ein Zeitsprung erfolgt. Anja lebt nun in den USA, kehrt jedoch nach 20 Jahren nach Russland zurück, um ihre Eltern zu besuchen und sich der Vergangenheit zu stellen. Unaufgeregt aber keineswegs konfliktfrei (und damit glaubwürdig) geht dieses Eintauchen Anjas in ihre alte, wenn auch veränderte Welt vonstatten. Melancholisch aber nicht hoffnungslos - und letztlich auf die Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, nicht länger auf die Vergangenheit. Ein runder Abschluss ohne Kitsch und glorreiches Happy End.
Kristina Gorcheva-Newberry hat für mein Empfinden mit "Das Leben vor uns" ein grandioses Debüt geschrieben. Aus der Ich-Perspektive von Anja schildert sie die Ereignisse eindringlich und oft bildhaft. Der Text liest sich leicht, der Schreibstil schwankt zwischen rotzig-trotzig und poetisch-melancholisch, was auf mich einen ganz eigenen Reiz ausübte. Immer wieder spielt die Autorin dabei auf die Erzählung "Der Kirschgarten" von Anton Tschechow an, eine tragische, gesellschaftskritische Komödie in vier Akten aus dem Jahr 1903, die, so verrät Kristina Gorcheva-Newberry in einem Interview, viele Parallelen zu ihrem eigenen Roman aufweist.
"Seit meiner Kindheit liebte ich die frühen Morgenstunden, wenn der Tag neu war und Hunderte kleiner, zusammengefalteter Träume enthielt, wie Blütenblätter in einer Blume." (S. 159)
Am Ende des Romans war ich gleichzeitig berührt und ein wenig wehmütig. Ein weiteres Jahreshighlignt ist gelesen, ein überzeugendes Debüt mit authentischen Figurenzeichnungen, einer gelungenen Verknüpfung von persönlichen Ereignissen und politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten, einer immanenten Spannung bis zur angedeuteten Tragödie - und darüber hinaus.
Eine (verlorene) Jugend in den letzten Jahren der zerfallenden Sowjetunion - ein grandioses Debüt!
© Parden
- Herausgeber : C.H.Beck; 2. Edition (17. August 2022)
- Sprache : Deutsch
- Übersetzung : Claudia Wenner
- Gebundene Ausgabe : 359 Seiten
- ISBN-10 : 340679131X
- ISBN-13 : 978-3406791314
- Originaltitel : Orchard The
Das kommt auf meinen SUB. Unbedingt. - Später mehr. Der Bücherjunge.
AntwortenLöschenIch bin gespannt! :)
LöschenVielleicht behältst du das ein Weile und schickst es mir zu? Bei aller Zuwendung zur Ukraine, die sowjetisch-russische Geschichte sollte man nicht vergessen dabei.
LöschenDeine Treffsicherheit bei der Auswahl von Zitaten finde ich immer sehr stark.
Ich schicke es demnächst gerne auf die Reise, wenn meine Freundin es ausgelesen hat.
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