Freitag, 27. Mai 2022

Günther, Ralf: Goethe in Karlsbad oder

 die vierfache Werther-Rezeption 

Da muss erst der olle Goethe nach Karlsbad reisen, damit ich mich mit einem alten Thema beschäftigen, welches ich bisher nicht richtig zu Ende führte. Ob die Lektüre der Erzählung von Ralf Günther nun wirklich dazu führt, dass ich einen Briefroman aus dem Jahre 1774 zur Hand nehme und vollständig lese, ist etwas fraglich. Jedoch kleben aus verschiedenen Gründen inzwischen Klebezettel in der Ausgabe des Hamburger Leseheft Verlages. Dazu gibt es eine Menge zu erzählen.

Wieder einmal entführt uns Ralf Günther in vergangenen Jahrhunderte. Mit DER LEIBARZT machte er uns mit Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich in Dresden bekannt, Mit ALS BACH NACH DRESDEN KAM lasen wir über ein spannendes Musikerduell, in DIE BADENDE VON MORUTZBURG lernten wir Ludwig Kirchner und Die Brücke kennen. Und nach Robert Koch in ARZT DER HOFFNUNG reisen wir nun nach Karlsbad mit keinem geringeren als seiner Excellenz Johann Wolfgang von Goethe.


Die Erzählung. Der entflieht mal wieder seinem eigenen Haus Am Frauenplan in Weimar, wo seine Frau ziemlich krank darnieder liegt. Goethe will vor allem Eines: Schreiben. Auf einem Spaziergang allerdings rettet er ein junges Paar vor dem nicht ganz so freiwilligen Freitod und wird damit an seine Jugend erinnert. Als Henri Libeau erkennt, wer ihn da vom Schuss auf seine geliebte Amalie abgehalten hat, erklärt er, dass doch Seine Exzellenz selbst Vorbild gäbe für diese Tat. Doch Goethe entgegnet ihm, dass der Werther damals literarisch starb, damit er, Johann Goethe selbst leben konnte. Dass nach dem Erscheinen des Briefromans DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS so viele junge unglücklich Liebende den Freitod wählten, das konnte der junge Goethe 1774 nicht voraus sehen.


>> „In der Tat: Nur der Tod ist die Lösung“, zischte Henri.
„Der Tod ist niemals die Lösung“, beharrte Goethe. „Er ist immer die Niederlage.“
„Für den Werther war er die Erlösung“, sagte Henri pathetisch.
Goethe musterte den jungen Mann nachdenklich. „Den Tod auf dem Papier zu finden“, sagte er dann, „bedarf wenig Mut. Umso mehr jedoch, ihn im kalten Wasser zu suchen. Indem ich den Werther auf dem Papier habe sterben lassen, konnte ich selbst leben. Er starb an meiner statt. Versteht ihr das? Ich habe mein Leben gerettet – obwohl ich mich so fühlte wie ihr!“<<
(Seite 34)

Das Schicksal der beiden jungen Leute liegt dem Geheimrat sodann am Herzen, er setzt viel daran, beiden ein gemeinsames Leben und Lieben zu ermöglichen. Obwohl er doch eigene Probleme hat. Da ist nicht nur sein „Christelkind“ zu Hause, nein, da behauptet doch eine Frauensperson in Weimar, dass der Staatsminister Vater des Kindes wäre, welches sie unter ihrem Herzen trüge... Ob da was dran ist?

Drei Handlungsstränge könnte man in der nur 175seitigen Erzählung ausmachen. Da sind einmal mehrere Besuche in Karlsbad, deren erster Goethe auf Amalie und Henri stoßen lässt. Der zweite führt von Karlsbad erst einmal wieder weg, denn der Geheimrat macht sich auf die Spuren einer gewissen Florentina Dürfeld, die im Dezember diesen Jahres eine Tochter namens Carolina gebären wird.. Nur das Datum und eine Überweisung der gewaltigen Summe von 3000 Talern zwei Tage nach Carolines Geburt lässt einen Zusammenhang zum dem Leben nicht abgeneigten Dichters vermuten. Zumindest erklärt das Ralf Günther im Nachwort. 

Christiane (Vulpius) v. Goethe / Freifrau Charlotte von Stein / Charlotte (Buff) Kestner
(Wikipedia)


Günther lässt Goethe der Behauptung, der Bastard wäre von ihm, auf den Grund gehen und dies führt zu Christiane Vulpius (1765 – Juni 1816), die da krank zu Hause liegt, dem Tode nah. Frau von Goethe kennt die Gerüchte, sie hält aber zu ihrem Mann, der ehrlich zu ihr ist, selbst aber seine Prioritäten nicht darin sieht, in den letzten Tagen bei ihr zu bleiben. Der Geheimrat von Goethe flieht...

Die Liebesverbindung dieser beiden ist keine standesgemäße. Goethe lernte die junge Christiane 1788 kennen. Sohn August wird bereits 1798 geboren, vier weitere, ebenfalls uneheliche Kinder starben früh. Der weimarische Hof lehnte eine solche Beziehung natürlich ab, erst am 19. Oktober 1806 heirateten die beiden, nachdem Christiane im Haus am Frauenplan  plündernden französischen Soldaten mutig entgegengetreten war.

Goethe hat viele Liebesgedichte auch erotischer Natur über sie geschrieben. 

Es ist für Goethe auch eine Rückschau in die Jugend, einerseits die Liebe der Amalie von Schwaikhofen und des Henri Liebau, die Liebe zu Christiane Vulpius und die zu Lotte, Charlotte Kestner geborene Buff, die er im Werther unsterblich machte.  Übrigens hat Ralf Günther den Umstand, dass Charlotte Kestner ihn im September 1806 (Lotte in Weimar – Thomas Mann) traf, nicht mit in die Erzählung aufgenommen. (Die Freundschaft zu Freifrau Charlotte von Stein wird nicht erwähnt)

Zentrum der Erzählung bleibt aber Johann Wolfgang von Goethes Engagement für Amalie und Henri, für deren Liebe er aus seinem eigenen Leben heraus viel Verständnis zeigt. 


© Bücherjunge / Weimar, Frauenplan 2019 / Christiane Vulpius, von Goethe gezeichnet


Der Charme von Karlsbad, den Ralf Günther beschreibt, kann man heute noch erahnen. Wenn man sich dazu Leute in Kleidern Anfang des 19. Jahrhunderts vorstellt... Es hilft natürlich auch, wenn man mal das Haus am Frauenplan besichtigt hat. Jedenfalls schafft es Günther das Flair vor den Augen erstehen zu lassen. Hilfreich hierbei ist ein behutsamer Umgang mit Ausdrücken und Wörtern des damaligen Sprachgebrauchs.


Karlsbad - Fotos von pixabay



Karin Grossmann schrieb zum Buch in der Sächsischen Zeitung, dass eine heimliche Tochter zu Goethe ebenso passen würde, wie in die Literatur von Ralf Günther, denn der „verzwirnt nur zu gern in seinen Romanen und Erzählungen Faktisches und Fiktives“ (SZ am 23.03.2022)


* * *

Goethe & Werther zum Zweiten. Neil McGregor ging in seinem bemerkenswerten Werk Deutschland, Erinnerungen einer Nation über das wir hier gleich zweimal geschrieben haben, natürlich auf Johann Wolfgang von Goethe ein wobei der Werther nicht fehlen darf.  McGregor schreibt dazu:
"Mit dem Werther ist Goethe eine Revolution gelungen; der Roman wurde zu einer Wasserscheide in der Entwicklung der deutschen Literatur. Eine Geschichte voller jugendlicher Empfindsamkeit und Leidenschaft." (McGregor Seite 180)
Der Erfolg des Buches war ein europaweiter, denn hier lag ein echter Bestseller vor.  Nicht nur eine Menge Freitode folgten auf die Lektüre, selbst Werthers Kleidung wurde in den Farben blau-gelb oft getragen.
"Mit Werther wurde Deutsch zum ersten Mal zu einer in Europa anerkannten Literatursprache. Als Autor, den alle Welt lesen wollte, schloss Goethe zu seinem Helden Shakespeare auf." (Ebenda) 
Es sei aber auch ein hochgefährliches Buch gewesen, denn es stellte Selbstmitleid und Amoralität über Pflicht und Verantwortung, schreibt McGregor weiter.



McGregor: Deutschland Erinnerungen einer Nation


Ralf Günther zeigt uns nun den alten Goethe, der in Angesicht der Tötungsabsicht von Henri und Amalie genau entgegengesetzt wirkt, wobei vor allen die Verantwortung sich selbst gegenüber im Vordergrund steht.

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Werther zum Dritten. Das Taschenbuch der Weltliteratur mit dem Briefroman um Werthers Leiden weist eine Auflage im Jahr 1990 auf. Ich habe immer mal wieder klassische Texte erworben, dies gehört dazu und es gab immer einen Grund. Nur das ich im Werther höchstens mal geblättert habe. Warum ich aber immer rein lesen wollte, lag an einem anderen Buch. Es gibt nämlich auch DIE NEUEN LEDEN DES JUNGEN W. doch dieses stammt von Ulrich Plenzdorf. Das Jugendbuch aus dem Jahr 1973 weist die 8. Auflage im Jahr 1984 auf. Und das Buch war Kult.

In diesem erzählt Edgar Wibeau davon, wie Mutter und Vater auf Spurensuche des aus dem Jenseits berichtenden Sohnes gehen. Edgar war schon etwas eigenwillig, hatte irgendwie J.D. Salingers DER FÄNGER IM ROGGEN in die Hände bekommen, fand das toll, und sich während der Lehrzeit von zu Hause abgesetzt. Nun lebte er in einer Gartenlaube und auf dem Plumpsklo brauchte er Papier.

„Ich fummelte wie ein irrer auf dem ganzen Klo rum. Und dabei kriegte ich dieses berühmte Buch  oder Heft in die Klauen. Um irgendwas zu erkennen, war es zu dunkel. Ich opferte also zunächst den Deckel, dann die Titelseite und dann die letzten Seiten, wo erfahrungsgemäß das Nachwort steht... Nach zwei Seiten schoss ich den Vogel in die Ecke. Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen...“ (Plenzdorf, S. 26)

Plenzdorf lässt sich jugendlich schnoddrig über einen der Dichterfürsten aus ohne diesen überhaupt je zu erwähnen.



Textauszug DIE NEUEN LEIDEN DES JUNGEN W. / U. Plenzdorf


Nur dass Edgar das gar nicht weiß. Jedenfalls schreibt Edgar seinem Kumpel Willi aus den Exil Briefe im Telegramm-Stil.

„kurz und gut / wilhelm / ich habe eine bekanntschaft gemacht / die mein herz näher angeht – einem engel – und doch bin ich im stande / dir zu sagen / wie sie vollkommen ist / warum sie vollkommen ist / genug / sie hat allen meinen Sinn gefangen genommen – ende.“ (Plenzdorf, Seite 13)

Witzig, denn Willi passt zu Wilhelm und der Engel heißt Charlotte und ist Kindergärtnerin. Ergo, Plenzdorf versucht uns den Werther irgendwie näher zu bringen, aber in Erinnerung blieb mir eigentlich Edgars Monolog zu echten Jeans, die Knöpfe statt einen Reißverschluss haben. Und am Ende hat Charlie einen langweiligen Kerl namens Dieter und Edgar bekommt beim Bau einer Farbspritzmaschine einen Stromschlag und nun berichtet er eben aus dem Himmel.

Kult in der DDR von einem Autor, der mit dem Drehbuch zu der LEGENDE VON PAUL UND PAULA berühmt wurde, mein erster Ausflug in den Werther.

Also erwarb ich besagtes Taschenbuch. Und besorgte mir Salingers Jugendbuch mit den vielen Kraftausdrücken.

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Werther zum Vierten.
Im Herbst 18 suchte ich auf einem Langstreckenflug in der Airline mit der Gabel am Heck (Reinhard Mey) nach einem Film über dem Atlantik. Da stieß ich auf Goethe! Der war mir irgendwie entgangen, der Film von 2010 von Philipp Stölzl. Miriam Stein spielt die Lotte Buff und Alexander Fehling den Goethe. Der Film zeigt uns die Entstehung des Briefromans. (Ich hab ihn vorgestern extra noch einmal gestreamt).

Okay, Stölzl hat den realen Goethe wohl ein wenig mit den fiktivem Werther gemixt, trotzdem war es sehr interessant. Das lag zum Beispiel an den eingeschobenen Textstellen, die eigentlich jeder kennt: „Darfs ich wagen, Arm und Geleit ihr anzutragen?“

Der Film sollte, so Stölzl in einem Interview, als romantischer Liebesfilm Frauen ab 25 ansprechen. Über den Wolken fand ich ihn sehr amüsant und kaufte, das obige Taschenbuch hatte ich nicht mehr auf dem Schirm auf der nächsten Buchmesse in Leipzig das 115. Heft des Hamburger Lesehefte Verlages.

Und nun habe ich für dieses „Renzensionsessay“ mehr im Werther gelesen als jemals zuvor, den Plenzdorf aus dem Regal gezogen und den Film noch einmal gesehen. Jetzt dürfte ich auf den Werther vorbereitet sein...

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© Bücherjunge


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Ralf Günther hat auf diesem Blog bereits seinen festen Platz. Seine historischen Romane sind gründlich recherchiert und behandeln unterschiedlichste Themen. Besonders schön sind die Erzählungen zur Weihnachtszeit. In "Moritzburg" und "Bach" geht es um Malerei und, natürlich um Musik.





Johann Wolfgang von Goethe auf Litterae Artesque: Wahlverwandschaften / Reinecke Fuchs / Goethe für Kinder / Spaal

© Bücherjunge (28.05.22)

2 Kommentare:

  1. "Der Fänger im Roggen" (hier im Blog!) und "Die neuen Leiden des jungen W." (übrigens auch bei uns Schullektüre!) habe ich bereits gelesen. "Die Leiden des jungen Werther" wartet dagegen auch bei mir noch geduldig auf seinen Einsatz. Hier allerdings als Hörbuch. Mal schauen, wer den Vorsatz als Erstes umsetzt. :)

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  2. Plenzdorf war bei euch Schullektüre? Da bin ich ein wenig baff. Den Salinger hab ich oben verlinkt.

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