Donnerstag, 5. Mai 2022

Poschenrieder, Christoph: Ein Leben lang

Sie kennen sich seit der Kindheit und beginnen gerade, ihre eigenen Wege zu gehen, als plötzlich einer von ihnen als Mörder festgenommen wird. Er soll seinen Onkel aus Habgier erschlagen haben. In einem schier endlosen Indizienprozess wird das Unterste zuoberst gekehrt. Die Freunde kämpfen für den Angeklagten, denn er kann, er darf kein Mörder sein. Doch als 15 Jahre nach dem Urteil eine Journalistin sich der Sache noch mal annimmt, stellt sich die Frage der Loyalität wieder neu. (Klappentext)


  • Herausgeber ‏ : ‎ Diogenes; 1. Edition (23. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 304 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3257071957
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3257071955







Meine Teilnahme an Leserunden habe ich in letzter Zeit zwar deutlich reduziert, jedoch nicht ganz eingestellt. Bei manchen Autoren kann ich mich einfach nicht zurückhalten. Christoph Poschenrieder gehört jedenfalls dazu, zwei Romane des Autors wurden ja auch schon hier im Blog vorgestellt: "Der unsichtbare Roman" und "Das Sandkorn". Poschenrieder überrascht in jedem Fall mit der Vielseitigkeit seiner Themen. Seinen neuesten Roman durfte ich jetzt im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen, und wieder war die Diskussion sehr interessant. Wie mir der Roman nun gefiel, könnt Ihr gerne hier nachlesen:





















EINE FRAGE DER LOYALITÄT...


Quelle: Pixabay
Christoph Poschenrieder schrieb diesen Roman nach einer wahren Begebenheit. Unter den Stichworten "Parkhausmord, München, 2006" findet man alle Details zu dem umstrittenenen Indizienprozess mit dem ebenso umstrittenen Urteil: lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld. Die Besonderheit dieses Falls liegt u.a. in dem Umstand, dass die Freunde des Angeklagten viel unternommen haben, um dessen Unschuld zu beweisen. Freunde, die ihm die Treue hielten, bis zum Schluss.

Der Autor widmet den Roman eben diesen Freunden bzw. der Dynamik der Gruppe. Wie weit geht Loyalität? Was und wieviel verträgt eine Freundschaft, um noch Freundschaft genannt zu werden? Die Details des Mordfalls selbst sind deutlich angelehnt an den o.g. Parkhausmord, abgesehen davon, dass hier keine Tante erschlagen wurde, sondern der Onkel des Angeklagten, der hier bis zum Schluss namenlos bleibt. Die Schuldfrage erscheint im Roman nur sekundär von Bedeutung, wichtiger ist der Umgang aller Beteiligten mit einer fundamentalen Verunsicherung.


"Auch wenn ein Mörder nur einen einzigen Menschen umbringt, Opfer hat er noch einige mehr. Das zieht eine Schneise der Verwüstung durch alle ihre Beziehungen. Familie, Bekannte und Freunde, da geht ein Tornado durch, und nachher ist nichts mehr wie vorher." (S. 53)


Eine neutrale Journalistin, die die Freund:innen des mutmaßlichen Täters 15 Jahre nach dem Urteil interviewt, um Material für ein geplantes Buch zu sammeln, trägt die Aussagen chronologisch zusammen und stellt sie einander gegenüber. So kann lesend verfolgt werden, wie sich die Gedanken, Gefühle und die Dynamik untereinander im Verlauf des Geschehens verändern. Von der Nachricht der Festnahme bis hin zur Urteilsverkündung begleiten die Freund:innen den Angeklagten im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Zweifel inbegriffen.

Die unterschiedlichen Charaktere spiegeln das Spektrum möglicher Empfindungen und Prozesse, die solch ein Einschlag in das Leben und das Bild von einem anderen nach sich ziehen kann. Da gibt es diejenigen, die Zweifel an der Unschuld des Freundes auf gar keinen Fall zulassen wollen und können, die anderen, die das ganze nüchterner zu betrachten versuchen und die Möglichkeit einer Schuld des Freundes zumindest nicht ausschließen, und diejenigen, die unschlüssig sind. Doch unabhängig von der eigenen Überzeugung gibt es ein gemeinsames Credo, dem sich offenbar niemand entziehen kann: unbedingte Loyalität und deren Präsentation nach außen. Doch ist diese Loyalität wirklch unverbrüchlich?


"Kann man Freund eines Mörders bleiben, oder darf einer einfach kein Mörder sein, damit wir Freunde bleiben können?" (S. 270)


Der Beginn des Romans entwickelt einen ungeheuren Sog und zieht einen gleich in das Erleben der Freund:innen hinein, man spürt ihren Unglauben, ihre Empörung, ihre Fassungslosigkeit. Mit Beginn des Prozesses erlahmt dieser Sog dann sichtlich. Angelehnt an den wahren Fall, dessen Prozess 93 Verhandlungstage in 15 Monaten währte, ziehen sich auch im Roman die Gerichtssitzungen sehr in die Länge. Das ist insofern sehr authentisch, zumal die Empfindungen der Freund:innen die zunehmende Ermüdung spiegeln, war jedoch im Verlauf in seiner Langatmigkeit nicht immer angenehm zu lesen.

Wieder einmal präsentiert Poschenrieder einen geschickt konstruierten Roman, der Schreibstil so leicht wie passend, das Thema faszinierend und glaubhaft dargestellt. Eine Frage der Schuld? Nein, eher weniger. Eine Frage der Freundschaft aber unbedingt.

Empfehlenswert!


© Parden

















Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt ›Die Welt ist im Kopf‹ wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit ›Das Sandkorn‹ war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.


2 Kommentare:

Durch das Kommentieren eines Beitrags auf dieser Seite, werden automatisch über Blogger (Google) personenbezogene Daten, wie E-Mail und IP-Adresse, erhoben. Weitere Informationen findest Du in unserer Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken eines Kommentars stimmst Du der Datenschutzerklärung zu.

Um die Übertragung der Daten so gering wie möglich zu halten, ist es möglich, auch anonym zu kommentieren.