Donnerstag, 26. Mai 2022

Ujayli, Shahla: Unser Haus dem Himmel so nah

Bücher fallen mir in die Hände oder vor die Augen. Seltener suche ich nach bestimmten Büchern und nach diesem hier habe ich auch nicht gesucht. Hinzu kommt, es ist ein Rezensionsexemplar, welches mir von Literaturtest angeboten wurde. Die Schlagworte, die mich in dieser Mail ansprachen lauteten Aleppo und Raqqa. Die Autorin, Shahla Ujayli ist in Raqqa geboren und in Aleppo aufgewachsen, zwei Städte, die heute vom Krieg gezeichnet sind.

„Als wir noch klein waren, hieß es immer, in fernen Ländern gäbe es Krieg, Tod, Misshandlungen, Vertreibung, Krankheit, Zerstörung, Armut und Erniedrigung. Ich habe immer fest geglaubt, dass diese fernen Länder auch fern bleiben würden. Niemals wäre mir eingefallen, dass mein eigenes Land betroffen sein könnte.“ (Schutzumschlag)

Das Buch ist ein Kaleidoskop, denn es führt uns durch ein ganzes Jahrhundert in Syrien. Es ist ein arabisches Buch, denn dem unkundigen Rezipienten schwurbelt etwas das Gehirn vor den vielen Namen, unterschiedlichen Familien, Generationen. 


Das Haus, das dem Himmel so nah ist, gibt es nicht mehr, wohl aber die Erinnerungen. Voller Erinnerungen ist dieser Roman, der nicht die „Männer und Söhne“ sondern die „Frauen und Töchter“ in den Vordergrund stellt.


Djuman (Djumana) Badran ist eine promovierte Kulturanthropologin, die der Bürgerkrieg in Syrien in das Königreich Jordanien vertrieben hat. Eltern und Schwestern sind in Raqqa zurück geblieben. In Raqqa herrscht jetzt der IS, der sogenannte Islamische Staat. Auf einem Flug nach Amman kommt sie neben Nasser al-Amiri zu sitzen, beide sind sich sympathisch und im Laufe der Gespräche stellt sich heraus, dass es zwischen ihren Familien Verbindungen gibt.

„Durch unsere Gespräche schufen Nasser und ich inmitten all der Trauer unsere eigene kleine Historie. Wir bauten uns ein schützendes Haus aus Worten: Im Fundament lagen die die uralten Erinnerungen an Dinge, die wir liebten, im Erdgeschoss war alles hell und sicher. Wir wanderten durch unsere Gespräche wie durch vertraute Räume. Ganz oben in unseren Fantasien war eine Dachterrasse, und darüber ein offener Himmel.“ (Seite 92)

Mit Nasser erinnert sich Djuman an ihre Kinderjahre in Aleppo und beschreibt das Virtel um den Bagdad-Bahnhof Al Notoraki und Fon den Fenstern, die „erzählen Geschichten von Liebe, Kunst, Reise und Erfolg, die durch die Geräusche der einlaufenden Züge aus Istanbul, Latakia, Qamischli, Budapest angeregt werden, Züge, die immer wieder losrattern – In Richtung Leben.“ (Seite 36)



Aleppo (Wikipedia)

Das ist der Stil, in dem Ujayli von ihrer Heimat berichtet, farbenfroh, plastisch, manchmal mit ein wenig Melancholie und wenn man sich ältere Fotos aus besseren Zeiten der uralten Städte ansieht, angesichts der Zerstörungen im Kampf gegen den IS und die verschiedenen Rebellengruppen durch die syrische und die russische Armee, dann ist dies nur verständlich.

„In den 1950er Jahren war das Viertel um den Bagdad-Bahnhof eine der schönsten Gegenden Aleppos. Es bestand aus drei breiten Parallelstraßen, die durch eine Querstraße vom öffentlichen Park getrennt wurden. In der Mitte dieses 17 Hektar großen Parks befand sich ein Standbild Abu Firas al-Hamdanis, dem berühmten Poeten aus dem 10. Jahrhundert. Es gab mehrere Springbrunnen und grüne Holzbänke im Schatten der Weiden, Zypressen und Ulmen, dazu Damaszener Rosen und wilde Rosen in Rot, Gelb und Violett. Weiß und blau wuchs der Jasmin über die Mauer, und an den geschmiedeten Kletterhilfen für das wuchernde Grün rankten duftende Pflanzen empor. Ein Bereich war für den Kinderspielplatz reserviert, in einem anderen dagegen war jeglicher Lärm streng verboten. Dort standen Gehege für die Pfauen, die hin und wieder für die Beobachter ihr Rad schlugen, es aber oft auch aus Koketterie unterließen.“ (Seite 36) 

So lernen Leserinnen und Leser zum Beispiel das alte Raqqa kennen, eine Stadt, am Ufer des Euphrat. Während der IS sein Hauptquartier errichtet, zeigt sich in den Erinnerungen folgendes Bild:



al-Raqqa (Wikipedia)

„Raqqa hat es geschafft, das Leben zu genießen. Die familiären Strukturen boten den Rahmen für einen einfachen und freundlichen Umgang. Abends blieb man lange bei Essen, Wein, Poesie und Gesang zusammen.Die Einwohner von Raqqa begrüßten sich morgens mit Volksliedern Mawwal-Gedichten und gingen mit Abu Laila al-Muhalhil zu Bett. Wie sollen sie sich jemals zu einer Taliban-Gesellschaft verwandeln?“ (Seite 92/93)

Das erste Drittel des Buches ist der Familiengeschichte vorbehalten, es streift verschiedene wichtige Jahre, zum Beispiel die Flüchtlingsbewegungen im Zusammenhang mit dem israelischen Unabhängigkeitskrieg, später die US-Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King.

Enge Korridore. In diesem Kapitel bekommen wir eine eindringliche Beschreibung der Flüchtlingslager in Jordanien, in Zaatari arbeitet Djuman Badran. Ujayli beschreibt diese in endlosen Zeltreihen, aus der Luft wie Legosteine anzusehen.

„Die in parallelen Reihen angeordneten Zelte bildeten die Lagerstraßen, alle hatten außen den gleichen Aufdruck des UNHCR, aber im Inneren hatte jedes seine eigene Geschichte mit ungleichen Anteilen von Wahrheit und Schwindel. Der eine hatte sein Hausverlassen, weil er musste, ein anderer, weil das Lager besser war, der nächste hatte nie ein Haus besessen.. Es war eine Welt von Opfern, die sich schnell wandelte und neu zusammensetzte, so dass sich schließlich Opfer von Opfern herausbildeten, dazu Henker, Diebe, Kaufleute, Prediger, Sozialarbeiter und Politiker, Dichter und Liebespaare...“ (Seite 120/121)


Flüchtlingslager Zaatri (Wikipedia)

Sie beschreibt die Zustände in diesen Lagern, das Herumsitzen, die kleinen Geschäfte und Krankheiten bis Djuman selbst erkrankt. Die teuren Kosten übernimmt ein amerikanischer Studienfreund des Vaters.

In weiteren Abschnitten verknüpft Ujayli wieder Personen und Zeiten, so kennt Djumana ihren behandelnden Arzt aus gemeinsamen Kindertagen im Urlaub in Portofino, Italien. Daraus resultiert eine weitere Familiengeschichte, die des Arztes Yaaqub. 

Eine der anderen Krebspatientinnen ist die Tochter des Politikers und Mitglieds der Kommunistischen Partei Palästinas, die die PLO unterstützt hatte. Die Wurzeln von Haniya (Hanoi), so heißt die Frau, führen nach Vietnam. Diese junge Frau wird für Djumans Genesung vom Krebs nicht unbedeutend sein.

* * *

Das Buch. Die Ich-Erzählerin Djuman springt in den Zeiten, von der eigenen Familie in andere, von engen Verwandten, ihren Schwestern zu Cousins, und wieder zu anderen Personen. Dies und die vielen arabischen Namen der Personen machen es dem Leser nicht gerade leicht.  E ist angebracht, den Roman langsam anzugehen und wirken zu lassen, keine Seite nur zu überfliegen, nur wenig würde man behalten.

Aber man bekommt einen neuen, einen anderen Eindruck von den Um- und Zuständen in den Ländern des nahen Ostens. Ujayli nimmt die Leser mit aus Syrien nach Jordanien und unternimmt Abstecher nach Beirut, Haifa und Jerusalem. Fast beiläufig und plötzlich  sind ihre Heimatstädte von blühenden bunten Oasen zu Ruinenlandschaften geworden, kann sie ihre Familie nicht mehr besuchen. 

Rebellen und IS-Kämpfer kommen ebenso beiläufig vor, es blitzt gelegentlich auf, wie sich das Leben unter dem IS verändert in Raqqa, aber dies ist nicht vorherrschend. Shahla Ujayli erzählt einen Familienroman, sie beschreibt Lebens- und Schicksalwege von Personen in verschiedenen Jahrzehnten.

Ein Roman über starke Frauen und gegen das Vergessen auch in diesem Teil der Welt.


* * *

Verlag
Die Autorin. Unser Haus dem Himmel so nah ist der dritte Roman der 1976 geborenen Literaturprofessorin, die in Amman arbeitet.

„Immer wieder kehrt Shahla Ujayli in ihren Romanen nach Raqqa und Aleppo zurück, die vor den Augen des Lesers als lebendige, sprudelnde Metropolen erstehen und einen Alltag skizzieren, den die westliche Welt seit dem Exodus der syrischen Bevölkerung völlig aus dem Blick verloren hat. Den Krieg und das dadurch entstehende Chaos als primäre Lebensbedingungen zu stigmatisieren – als lebten Syrer in Friedenszeiten vorzugsweise in Zeltstädten –, diesen Blick der westlichen Welt entlarvt Shahla Ujayli durch die Auferstehung Aleppos als Sehnsuchtsort seiner Bewohner, die die Sorgen und Hoffnungen aller Menschen teilen“ (Verlag)


Wer blanke Geschichte und Politik will, soll Sachbücher lesen. Romane bieten oft soviel mehr. Es kommt nicht oft vor, dass ich auf die Verlagsbeschreibungen direkt zurückgreife, aber die Kurzbeschreibung des Buches auf der Webseite des Kupido-Verlages drückt genau das aus, was ich beim Lesen auch fand.

„Elegant verschachtelt und der orientalischen Tradition des Erzählens verbunden steigt Ujaylis Romanheldin Djuman Badran immer tiefer hinab in die Vergangenheit ihrer Familie und führt uns durch die Geschichte Syriens der letzten 120 Jahre.“ (Schutzumschlag)

Der Verlag ist noch jung und bringt seit 2019 Ausgaben moderner, postmoderner und zeitgenössischer Autorinnen und Autoren in deutschen Erst- und Neuübersetzungen sowie zweisprachigen Ausgaben heraus. Unser Haus dem Himmel so nah wurde 2015 in Beirut verlegt und 2022 von Christine Battermann aus dem Arabischen übersetzt. 

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar, welches über Literaturtest zur Verfügung gestellt wurde.



© Bücherjunge


4 Kommentare:

  1. „Als wir noch klein waren, hieß es immer, in fernen Ländern gäbe es Krieg, Tod, Misshandlungen, Vertreibung, Krankheit, Zerstörung, Armut und Erniedrigung. Ich habe immer fest geglaubt, dass diese fernen Länder auch fern bleiben würden. Niemals wäre mir eingefallen, dass mein eigenes Land betroffen sein könnte.“ --- So wahr.

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    1. Ich hätte das Zitat im Text fast übersehen. Zum Glück stand es auf dem Schutzumschlag.

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  2. Das klingt nach einem anspruchsvollen aber sehr besonderen Buch. Einige der gewählten Zitate sprechen mich sehr an - eine melancholische Poesie. Sehr schöne Buchbesprechung mal wieder!

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    1. Daher hat die Bearbeitung ja auch ziemlich lange gedauert. Das Lesen ebenso.

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