Montag, 23. Mai 2022

Kim, Un-Su: JAB

Ein Mann betrachtet einen alten Boxsack, der in seinem Garten an einem Zweig des Kakibaums hängt und dessen Leder durch die Witterungseinflüsse langsam abgebaut wird. Dieses Überbleibsel aus seiner Jugend ist der Ausgangspunkt für die Geschichte seines Lebens, von der Highschool bis ins Erwachsenenalter. Als Teenager wurde er von seinem Ethiklehrer zu Unrecht bestraft, weil er die herumwirbelnden Blätter vor dem Klassenzimmerfenster beobachtet hatte. Im Boxen findet der wütende junge Mann ein Ventil und einen Weg, sich der Welt zu stellen. Jahre später trifft er auf seinen ehemaligen Lehrer, einst das Objekt seines schrecklichen Hasses. Wer hätte gedacht, dass sie bei ihrem Wiedersehen an einer Autobahnraststätte vereint lachen würden?
 
Beim Boxen ist ein Jab eine abrupt geschlagene Gerade – hier ist es die Titelgeschichte von Un­su Kims erster Kurzgeschichtensammlung. Darin begegnet man einer Gruppe Krimineller, deren Einbruch schiefläuft, sodass sie in dem von ihnen geöffneten Tresorraum eingesperrt werden. Zum Zeitvertreib denken sie sich B­Movie­Szenarien aus und würfeln, wer mit der einzigen Frau in der Gruppe schläft. Es gibt einen rückfälligen Alkoholiker, der dennoch versucht, ein neues Leben zu beginnen, und einen missverstandenen Träumer, der ein Spielball der koreanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Die Protagonisten sind faszinierend und auf ihre Art Helden, ob nur für einen Tag oder ihr ganzes Leben lang.
 
Un­su Kims Geschichten zeigen die Auswirkungen der Zeit auf Menschen und auf Dinge. Frei von direkter Gesellschaftskritik und unterschwelligen Botschaften entführen sie in eine Welt von glücklichen und unglücklichen Zufällen, die über die Schicksale von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Menschen entscheiden. Un­su Kim hat die unvergleichliche Fähigkeit, das Leben seiner Helden in einem ungekünstelten, kompakten und zugleich raffinierten Stil zu schildern – seine Geschichten gehen unter die Haut. (Klappentext)


  • Herausgeber ‏ : ‎ Europa Verlag; 1. Edition (31. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung  : Kyong­hae Flügel  
  • Broschiert ‏ : ‎ 206 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3958902464
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3958902466






Im Rahmen einer Leserunde bei Lovelybooks durfte ich dieses Buch mit einer Kurzgeschichtensammlung lesen. Der südkoreanische Autor Un-Su Kim sagte mir bislang noch gar nichts, obschon bereits zwei Thriller von ihm ins Deutsche übersetzt wurden. Literarisch bin ich nach Südkorea bisher nur mit Frauen gereist: Han Kang, Cho Nam-Joo und Min Jin Lee lieferten mir die weiblichen Einblicke in die asiatische Kultur. Nun also sollte ich Südkorea durch männliche Augen kennenlernen. Ob mir dieser Blickwinkel gefallen hat, könnt Ihr hier nachlesen:
























MÄNNERGESCHICHTEN...


Acht Kurzgeschichten des 50jährigen südkoreanischen Autors Un-Su Kim sind in diesem Band versammelt, wobei “JAB” die titelgebende Story ist. Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen Männer, deren Leben zumeist von Erfolglosikeit, Mittelmäßigkeit, Scheitern oder Sinnlosigkeit geprägt ist. Kein strahlendes Bild Südkoreas also, sondern Existenzen abseits des angestrebten Erfolgs. Das Leben in Korea ist nicht immer einfach. Leistungsdruck und eine hohe Arbeitsmoral sind allgegenwärtig. Was, wenn man da nicht standhalten kann, seine Arbeit verliert, die Ehe zerbricht, man seinen eigentlichen Lebenswünschen entfremdet wird, dem Alkohol verfällt, sich plötzlich in einer Welt von Hoffnunglosigkeit, Gewalt und Gleichgültigkeit wiederfindet?


“Kim dachte an die tote Erde, in die er sich manövriert hatte. Was hat er mit seinen 40 Jahren erreicht? Ihm fiel nichts Nennenswertes ein. Er hatte es immer eilig, doch die Zeit zog leer an ihm vorbei. Er fühlte sich unsäglich allein und einsam.” (S. 170)


Solcherlei Aspekte verfolgt Un-Su Kim in seinen Geschichten, die Möglichkeiten des Invidiuums angesichts des Hamsterrads rigider gesellschaftlicher Erwartungen und Zuschreibungen beleuchtend. Der Protagonist der Titelstory beispielsweise entscheidet sich bewusst gegen den Erfolgszwang und Leistungsdruck und findet so eine Nische, in der er letztlich zufrieden leben kann. Damit ist er aber auch schon der einzige Hauptcharakter, der einen für sich positiven Weg gefunden hat. Alle anderen kämpfen gegen das Gefühl von Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit an – zumeist vergeblich. Moralischer Verfall, Abstumpfung, Selbstmitleid, Alkoholismus, Suizid – hier wird kein dunkles Thema ausgespart. Das Verhältnis von Nordkorea und Südkorea wird zumindest in einer Erzählung angerissen, die allerdings skurril-kafkaesk daherkommt und somit m.E. allenfalls eine Botschaft zwischen den Zeilen vermittelt.

Dem Autor gelingt es auf jeweils wenigen Seiten, das Erleben und Empfinden des jeweiligen Charakters anschaulich und bildhaft darzustellen, fein beobachtete Momentaufnahmen im Leben von Menschen, denen der Kompass abhanden gekommen ist. Der Schreibstil ist gekennzeichnet durch seine ungekünstelte Unmittelbarkeit, die durchaus auch ins Grobe abgleiten kann, dann aber wieder mit einer düster-morbiden Poesie aufwartet. Dabei schildert der Autor die Gegebenheiten lediglich ohne zu werten oder zu moralisieren. Sieben der Erzählungen werden aus der Ich-Perspektive des jeweiligen Hauptcharakters geschildert, eine durch einen personaler Erzähler.


"Aber nichts konnte mich davon abhalten zu trinken. Mein Leben ging schneller in die Brüche, als die Promille in meinen Adern stiegen” (S.198)


Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit und ein oftmals exzessiver Alkohlkonsum ziehen sich ebenso wie ein negatives Frauenbild durch die meisten der Kurzgeschichten. Wenn der Verlag schreibt, dass dieser Band “frei von direkter Gesellschaftskritik und unterschwelligen Botschaften” sei, so wage ich das ehrlich gesagt zu bezweifeln und wüsste gern, wie der Verfasser zu dieser Aussage kommt. Das aber nur mal nebenher.

Wie immer bei Kurzgeschichten-Sammlungen hat mich auch diesmal nicht jede Erzählung gleichermaßen angesprochen. Manche ließen mich etwas irritiert zurück, andere stießen mich ab, einige fand ich auf morbide Art auch faszinierend. Doch das Gesellschaftsbild, das der Autor hier zeichnet, so düster es auch sein mag, halte ich für einen wichtigen Fingerzeig. Dabei betrifft einiges sicherlich das schnelllebige und erfolgsorientierte Südkorea, anderes jedoch ist durchaus universal zu betrachten. In jedem Fall bringen die Geschichten zum Nachdenken.

Keine Erzählungen, die man mal eben so runterliest. Wohldosiert allerdings sind sie durchaus empfehlenswert. Auf weitere Werke von Un-Su Kim bin ich jetzt jedenfalls neugierig geworden. Ob seine Thriller wohl ähnlich düster gehalten sind?


© Parden





















Un-su Kim, geb. 1972 in Busan, Korea, begann seine Karriere als Schriftsteller im Jahr 2002. Er hat in seiner Heimat mehrere Literaturpreise gewonnen, darunter den Yi Sang Literature Award und den renommierten Mumhakdongne­Preis. Mit seinem ersten Thriller Die Plotter ist ihm auf Anhieb ein Bestseller gelungen, der weltweit für Furore sorgte und in über 20 Ländern veröffentlicht wurde. Unsu Kim besticht durch seinen einzigartigen Stil und seine bemerkenswerte Beobachtungsgabe. Die internationale Krimiszene feiert ihn seit Jahren als »koreanischen Henning Mankell«.


2 Kommentare:

  1. Stutzig wurde ich beim Namen des Autors, aha, Südkorea. Aber du weißt, Kurzgeschichten sind nicht mein Genre.

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