Es ist selten, wenn ein Buch in so kurzer Zeitspanne gleich zweimal auf diesem Blog besprochen werden soll. Diesmal hat sich Anne Parden zuerst in einen zur Zeit weltweit beobachteten Raum begeben, Ein Tag im Leben von Abed Salama führt uns in die Gegend um Jerusalem.
"10 killed in bus accident north of Jerusalem
Truck collided with bus carrying Shuafat schoolchildren on day trip, injuring at least 40; PA health minister: Israeli rescue forces failed to provide timely assistance."
Einigermaßen nüchtern sind die Berichte unter dem Begriff Schulbus+Unfall+Jerusalem. (Link bbc-Bericht). Das Hamburger Abendblatt schreibt zu diesem Unglück:
„Der Unfall geschah bei starkem Regen und Nebel an einer sehr belebten Straßenkreuzung zwischen Jerusalem und Ramallah. Eltern warfen den Organisatoren vor, sie hätten den Ausflug der Schüler angesichts des schlechten Wetters absagen müssen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ordnete eine dreitätige Trauer an.“
Inhalt: Am Morgen dieses Tages, den Abed Salama erleben muss, soll sein Sohn auf einen Schulausflug, der zu einem neuen großen Indoor-Spielplatz in der Nähe von Ramallah führen soll. Doch die Kinder kommen dort nicht an. Nathan Thrall hat in einem romanähnlichen, intensiv recherchierten Sachbuch nicht nur diesen Tag beschrieben, sondern die Geschichten betroffener Familien gleich mit.
So beginnt die Geschichte nicht am 16. Februar 2012, sie führt uns zurück bis in die Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Drei Paare stellt Thrall in den Mittelpunkt im Kapitel drei Hochzeiten, in dem der Leserschaft die Zeit der ersten und zweiten Intifada, die Bedeutung der Oslo-Verträge, die Entstehung immer weiterer jüdisch-israelischer Siedlungen. Trotzdem entstehen da einige arabische Siedlungen am Rand und außerhalb von Jerusalem, abgetrennt von Mauern, Check Points und Türmen.
Das nächste Kapitel erzählt dass vom Unfall des Schulbusses und die dramatische Rettung leider nicht aller Vorschulkinder. Die oben genannten nüchternen Artikel werden dabei ergänzt um die Darstellung ewig lang andauernden Zeitverzugs, denn Feuerwehr und Rettungsdienste fahren durch ein kompliziertes Netz von Straßen, deren Benutzung nicht jedem freigestellt ist.
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BBC - Bericht zum Unfall |
Überhaupt diese Straßen die Siedlungen verbinden und trennen. Apartheitsstraßen werden sie gelegentlich genannt, ein Begriff, den linke Israelis prägten.
Als palästinensische Krankenhäuser einen Massenanfall von Verletzten vermelden, machen sich unzählige Eltern und deren Verwandte auf den Weg, ihre Kinder zu finden; nur ist dies immer dann weitaus schwieriger, wenn man nur einen grünen Ausweis besitzt, die mit blauen, der unter anderem Wohnrecht und Arbeitserlaubnis in israelisch kontrollierten Gebiet bedeutet, haben es leichter.
Erinnern wir uns, wir befinden uns im Land westlich des Jordans, welches zu großen Teilen 1967 von Israelis besetzt wurde, die so wieder die Kontrolle von Ostjerusalem und damit den Zugang zur Westmauer des Tempels (Klagemauer) erhielten. Das Land ist zerrissen, seit es in drei Zonen geteilt wurde in Folge der Verträge von Oslo. Zone A steht unter der vollständigen Kontrolle des palästinensischen Staates und damit der Fatah vom Präsident Abbas, in Zone B sollen Sicherheitsinteressen von beiden Seiten miteinander besprochen werden und in Zone C sich die Israelis für die Sicherheit zuständig.
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Die Westbank (map) |
Auf der Abbildung erkennen wir links das zu großen Teilen eingemauerte Westjordanland, die lila Linien kennzeichnen die arabischen Enklaven. Rechts sehen wir den Großraum Jerusalem, umgeben von arabischen Dörfern und außerhalb des Stadtgebietes liegenden Gebieten. Anata ist so ein im Buch genanntes Gebiet. Es lohnt sich, einen Blick direkt auf den Stadtplan von Jerusalem zu werfen und die Gebiete der drei genannten Zonen zu betrachten. Der Umstand der von Israel ausgegebenen verschiedenen Ausweise und deren unterschiedlichen Zutrittserlaubnissen sind das Problem der nach ihren Kindern suchenden Eltern, denn man kommt teilweise schwer in ein anderes arabisches Dorf, selbst eines derselben Zone. Natürlich gilt das nicht für arabische Israelis.
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Mauern in Jerusalem Rechts unten ein israelischer Kindergarten, geschützt durch die bemalten Betonteile auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der Kindergarten wurde einmal beschossen © UR - 2009 |
Im Kapitel Die Mauer wird das noch deutlicher. Über 745 km Länge misst die Grenze zum Westjordanland, gebaut teilweise innerhalb der sogenannten „grünen Linie“ die einst (1967) als Waffenstillstandslinie vereinbart wurden war.
Das traurige Ende als Kapitel Drei Bestattungen.
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Das Buch: Im ersten Eindruck täuscht der Titel über den Umstand, dass es nicht nur ein Tag ist, den ein großes Unglück überschattet. Das Leben von Amed Salama und die Geschichte des Landes Palästina neben einen breiten Raum ein. Ohne diese Darstellungen wäre manches vielleicht unverständlich.
Der bekannte Autor Yuval Noah Harari (hier im Blog) sagt treffend über dieses Buch:
„Das Buch erzählt eine zutiefst bewegende Geschichte über einen tragischen Verkehrsunfall, der die Tragödie der Millionen Palästinenser beleuchtet, die unter israelischer Besatzung leben.“ (Verlagseite)
Damit zeigt er auf, dass es um die Palästinenser geht, die unter den oben angedeuteten Um- und Zuständen leben. Das Wort Besatzung ist schwieriger zu bewerten. Es waren nur die jüdischen Bewohner Palästinas, die von der in der UN-Resolution beschlossenen Zweistaatenlösung Gebrauch machten, ihren Staat gründeten und sofort in einen Unabhängigkeitskrieg gegen ihre Nachbarn eintreten mussten. Nach Ende des Krieges gehörte Ostjerusalem zu Transjordanien. 1967, im Sechstagekrieg, eroberte Israel das Westjordanland zurück. Nicht von einem palästinensischen Staat, sondern vom Königreich Jordanien. Anschließend begann in verschiedenen Wellen der jüdische Siedlungsbau.
Erst mit dem Oslo Friedensprozess (1993 bis 1995) trat eine gewisse Beruhigung ein und die Welt sah eine Chance für die arabische Bevölkerung, die nicht israelische Staatsbürger sind, allgemein werden diese eben Palästinenser genannt. Als aber Yizak Rabin, der Yassir Arafat im Beisein von US-Präsident Clinton die Hand reichte, von einem jüdischen Extremisten ermordet wurde, realisierte Israel nur einen Teil der Vereinbarungen. Bis heute gibt es keinen souveränen palästinensischen Staat, Palästina, heute repräsentiert von Präsident Abbas und der Fatah, hat allerdings einen Beobachterstatus bei der UN. Daraus leiten sie das Recht ab, den Internationalen Gerichtshof anzurufen, den Israel nicht anerkennt. Der IGH hat in einem Gutachten (2024) geurteilt, dass die israelische Besatzung und die Siedlungspolitik völkerrechtswidrig ist. Derweil setzt die Regierung Netanjahu die Siedlungspolitik fort.
Die Mauer baute Israel und erreichte damit, dass Terroranschläge und Selbstmordattentate zurückgingen. Dass sahen die Regierungen als Erfolg.
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Autor: Für dieses Buch erhielt Nathan Thrall, Politikwissenschaftler, lebt in Jerusalem. Zehn Jahre schrieb er als Vorsitzender des Arab-Israeli Projects bei der International Crisis Group (Gaza) über Israel, Gaza und das Westjordanland. Diese NGO arbeitet eng mit der UNO zusammen. Außerdem schreibt er für die New York Times und andere.
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Fazit. Das Buch führte zu näherer Beschäftigung mit den erwähnten Zonen A, B und C. Der Blick in die Karten des Großraum Jerusalems und des Westjordanlands offenbarte, wie zerrissen und zerpflückt das Land dort ist. Als unsere Reisegruppe 2009 von Masada kommend am Jordan entlang nach Jericho fuhr, passierten wir Checkpoints zum Wechsel in eine Zone A. Das waren nicht die einzigen, es wirkte eigenartig. Das Buch von Nathan Thrall lässt die Erinnerungen wach werden; im Jahr gab es eine Art Zeitfenster für die Reise; einer Wiederholung im Jahr 2023 kam die Hamas mit ihrem Anschlag am 07.10. zuvor.
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Jericho - Checkpoints nach einer Zone A (© UR 2009) |
Doku Arte: Entlang der Grünen Linie
PS Dieses Buch beschreibt ein Ereignis im Jahr 2016. Im Jahr 2025 haben wir eine Situation in Israel / Palästina, die vielleicht alles überschattet, was an Auseinandersetzungen, Terroranschlägen, militärischen Kämpfen regelmäßig in den vergangen knapp achtzig Jahren seit der Staatsgründung (und davor) stattfand.
Aus meinen Buchbesprechungen zum Thema dürfte erkennbar sein, dass ich immer auf Seiten Israels stand und das tue ich noch. Der schreckliche Anschlag der HAMAS vom 07.10.2023, der alles an bisherigen Anschlägen übertraf, führte zu einem gewaltigen Gegenschlag der israelischen Streitkräfte, der in der Sache richtig, im Ausmaß aber so mächtig ist, dass vom Völkerrechtsbruch durchaus gesprochen werden kann und muss. Die weltweiten propalästinensischen Aktionen, auf denen das Ziel der Hamas, den Streifen Land zwischen den blauen Streifen der israelischen Flagge vom Davidsstern in der Mitte zu befreien, durch den Ruf „....from the River to the sea...“ laut kundgetan wird, sind auch Folge der Art und Weise, wie der Staat Israel innenpolitisch agiert. Das, was Nathan Thrall in seinem preisgekrönten Buch beschreibt, illustriert genau das Problem: Es gibt in der aktuellen Regierung und im israelischen Establishment Kräfte, die „... from the River...“ In entgegengesetzte Richtung propagieren.
Kritische Stimmen, die mit dem Mythos und einigen Narrativen der Staatsgründung kritsch umgehen, Tom Segev in Die ersten Israelis, zum Beispiel, gibt es durchaus. In dem ersten Buch zum Thema, welches ich im Zusammenhang mit der erwähnten Reise vor sechzehn Jahren las, Donna Rosenthals Die Israelis, las ich von den verschiedenen jüdischen Einwanderergruppen, den Aschkenasim (aus Osteuropa) und den Mizrachim (Afrika, Asien, naher Osten), von denen auch Thrall in Bezug auf jüdische Siedlungen erzählt.
Dies alles bringt mich zu dem Schluss, dass es ein unglaublich schwerer Weg sein wird, Frieden im Nahen Osten zu bewirken, der etwas anderes ist, als die Abwesenheit von Krieg, der momentan von Israel an mehreren Fronten (Gaza, Libanon, Iran, Syrien) geführt wird. Das ist keine neue Erkenntnis.
Israel hat sich achtzig Jahre ständig verteidigen müssen, nach allen Seiten, während Organisationen wie die PLO zeitweise Terroranschläge wie den Schwarzen September oder das Münchener Attentat begangen. Das Land neu aufgebaut, landwirtschaftlich kultiviert, Wissenschaft und technischen Knowhow entwickelt, haben die jüdischen Bewohner, wobei die arabischen Israelis nicht vergessen werden dürfen. Wäre dies den arabischen Einwohnern nach dem ersten Weltkrieg möglich gewesen? Ein Land, dessen Grenzen durch einen internationalen Beschluss gezogen wurden und indem es keinen Staat, kein Staatsvolk und nur eine Mandatsregierung gab, wurde von der einen, der jüdischen Gruppe aufgebaut, die dafür eine demokratische Gesellschaft schuf. Hoffen wir, dass diese erhalten bleibt und das die andere Gruppe, die Palästinenser, zukünftig gleichermaßen leben, arbeiten und lieben können.
Unvollständige, unabgeschlossene Gedanken...
© Der Bücherjunge
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