Der 17. Juni 1953: Ich weiß nicht, dann dieses Datum erstmals bewusst in mein Leben trat. Selbst Jahrgang 1963, geboren (in Dresden) 10,5 Jahre nach diesem bedeutenden Tag in der deutschen Geschichte und der DDR-Geschichte, war dieses Datum lange Zeit für mich und in der Familie eher bedeutungslos. Unsere Eltern waren elf Jahre alt und daher nicht für direkte Erinnerungen geeignet. Einzig mein Großvater, den ich gerade ab 1989 hätte vieles fragen wollen, wäre in der Lage gewesen, seine Sicht auf diesen Tag darzulegen, es wäre vermutlich eine ddr-kommunistische Darstellung geworden.
In dessen Bücherschrank stand ein Buch von Erik Neutsch, das ist der, der einst SPUR DER STEINE (1964) schrieb, nach diesem Roman drehte Frank Beyer den weit bekannten gleichnamigen Film. Doch ich meine hier den Roman AUF DER SUCHE NACH GATT (1973), ebenfalls verfilmt, mit Dieter Mann in der Hauptrolle. Da kommt ein Mann aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause, wird Journalist, Kommunist, Bergmann und findet sich wieder in den Tagen des 17. Juni. Die Szenen im Buch und Film zeigen, wie Parteizentralen gestürmt und Fahnen verbrannt werden, GATT wird aus der protestierenden Menge angegriffen und verletzt. Ich glaube, das waren meine ersten Bilder zum 17. Juni und die waren bezeichnend: VOLKSAUFSTAND? Nee: Konterrevolution...
Neutsch hatte es mit Journalisten, seine Figur des Achim Steinhauer wird einer, erst Biologe, dann Journalist. Das zweite Buch der Pentalogie DER FRIEDE IM OSTEN lässt ihn einen FRÜHLING MIT GEWALT erleben, 1951 bis 1953, über den 17. Juni bis zu Stalins Tod.
Übrigens findet sich Steinhauer 1968 wieder im Erzgebirge im Stab einer Panzerdivision, die Gewehr bei Fuß steht und glücklicherweise den Rubikon, die Grenze zur befreundeten CSSR nicht überschreitet.
Jahrelang begleiteten mich diese Helden, der Achim Steinhauer, der Werner Horrath aus SPUR DER STEINE , der Max Spinnt aus GEWALT UND ZÄRTLICHKEIT von Horst Bastian. Genannte Autoren schrieben nicht einfach das Hohelied auf den Sozialismus; die Bücher, vor allem die SPUR DER STEINE, beinhalteten eine seltene Art von Gesellschafts- und Parteikritik, die es dem Jugendlichen, der heute über 60 ist, darstellten, dass „sozialistische (nichtantagonistische) Widersprüche“ im Sozialismus selbstverständlich vorhanden, beschreibbar und kritisierbar waren.
Im Zuge der gorbatschowschen Perestrojka und vor allen ab 1989 kamen weitere Bücher in die Buchhandlungen und weckten meine Neugier. Ich glaube DIE TROIKA von Markus Wolf, Sohn von Friedrich, Bruder von Konrad, Generaloberst im MfS war eines der ersten. Dann las ich DER KÖNIG DAVID BERICHT von Stefan Heym und dessen 5 TAGE IM JUNI (1974). Da war er wieder der 17. Juni, Feiertag im Westen und hoch im Kurs stehend für den Tag der deutschen Einheit. Stephan Hermlin hielt diesen Roman „für die heute beste und gerechteste Darstellung der damaligen Ereignisse.“ Laut Wikipedia gab es dazu eine dreitausendseitige Materialsammlung, der Roman sei einer der am gründlichsten recherchierten Romane des Autors.
Vieles im Licht der Entwicklung zur deutschen Einheit und danach verstand ich inzwischen besser; ich lies es dabei erst einmal bewenden, alljährlich wurde der Tag oft kontrovers diskutiert, und als es dann das Internet gab...
Doch nicht genug. JUNI 53 (2019) heißt der fünfte Roman der Max-Heller-Reihe von Frank Goldammer. In diesem ermittelt besagter Heller in einem Mordfall in Dresden, von dem seine vorgesetzten denken, der Tod eines Betriebsleiters wäre politisch motiviert. Den Autoren kannte ich inzwischen gut und frage ihn, woher er denn seine Sichtweise auf den 17. Juni hätte. (Goldammer ist 12 Jahr jünger als ich; nebenbei las fix die „5 Tage“ noch einmal)
Goldammer sprach von einem Buch des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk mit dem Titel 17. Juni 1953. Geschichte eines Aufstandes. Herausgekommen im C.H.Beck Verlag München (2013). Konsequent besorgte ich mir ein e-Book und seitdem folge ich dem Autor relativ intensiv.
Aus der Rezension zu Juni 53 und Kowalczuk (20. Juni 2020)
Goldammer hat ein weiteres Buch benannt, welches ihm bestimmte Hintergründe lieferte. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat ein Sachbuch über diese Zeit geschrieben, welches die Geschehnisse in den Großstädten und den Bezirken darstellt. So bekommt man einen zusätzlichen Blick auf das, was Heller in Frank Goldammers Roman schildert.
Kowalczuk geht kaum auf die Rolle des RIAS und überhaupt westliche Aktivitäten ein, obwohl diese und die vielen Menschen, die die DDR bisher schon verlassen hatten, eine große Flut von Informationen und vor allem Ansichten transportierten, die eben durch den Rundfunk auf die Bevölkerung im ostdeutschen Staat wirkte. Gleichzeitig bescheinigte der Autor der Roten Armee eine gewisse Zurückhaltung bei der Eindämmung des Aufstandes, der wohl weniger Menschenleben kostete, als ich zum Beispiel annahm. Informationen und Nachrichten in der DDR erwähnten die Proteste natürlich nicht, was zusätzlich zu Gerüchten führte. Das sowie die Meldungen des westlichen Rundfunks führte zu immer weiteren Forderungen wie zum Beispiel freien Wahlen in ganz Deutschland, im Dokument rechts belegt für die Belegschaft des Betriebes Planeta.
Sowohl Staatssicherheit, SED und die Sowjets sprechen hingegen vom „faschistischen Putsch“ und vermuten überall westliche Agenten, unterstützt von ihrem Sprachrohr dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, dem RIAS. In diesem Sinne geht der neue Vorgesetzte der Kriminalisten von einem „Lynchmord“ aus. Es ist wieder einmal Hellers Aufgabe, unvoreingenommen in alle Richtungen zu ermitteln.
Während Kowalczuk der Wirkung des RIAS die Substanz abspricht bzw. als wenig bedeutend darstellt, erhält man bei Heym einen anderen Eindruck. Der zitiert nämlich zum Beispiel aus dem Neuen Vorwärts, der Zeitung der SPD vom September 1952, worin die Arbeit des Ostbüros der SPD u.a. dazu da ist, den illegalen Widerstand gegen das den ostdeutschen Staat mit zu organisieren. Solche Ostbüros hatten übrigens auch andere westdeutsche Parteien.
Man könnte annehmen, dass die Figur des Sozialdemokraten Ziegler, Verfolgter des Naziregimes, er ist allerdings gegen den SED-Staat eingestellt, hier einen Zusammenhang erkennen lässt. Frank Goldammer hat dies nicht betätigt.
Was nun?
Das schrieb ich vor fünf Jahren in der Rezension zu Goldammers Roman, nun wird es vermutlich Zeit, sich dem Buch zu widmen, noch dazu, dass ich heute im Regal fand, welches ich gar nicht gelesen hatte, es war mal Geschenk aus vergangenen Bücherjahren.
Diese unübliche, ungewohnte Literatur-Time-Line soll mein diesjähriger Beitrag zum Thema sein. Wobei mich die Worte des Abgeordneten Gregor Gysi, dem ich sonst oft mit Interesse zuhöre, peinlich berührten. Die Verbindung einer Stalinnote, in der freie, geheime Wahlen in ganz Deutschland gefordert wurden mit Bedingung der Bündnisfreiheit, also einer provozierenden Politikfinte, deren Inhalt weder gewollt noch möglich war in diesen Zeiten des Kalten Krieges mit den Protesten, Demonstrationen, dem Volksaufstand in der DDR, gehört zu seinen wenigen Entgleisungen, wie ich meine.
Daher verlinke ich hier die Debatte im Deutschen Bundestag am gestrigen Tag. Bezeichnender Weise vor einem nicht halbvollen Saal.
Der Bücherjunge
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